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Herbert Hindringer
Echte Menschen
„I don't wanna talk...“
(Abba, The Winner Takes It All)

120 Stundenkilometer, schneller mag sie es nicht, ich aber versuche heimlich, hin und wieder, wenn sie nicht guckt, etwas mehr auf den Tacho zu kriegen.
Hey, sage ich. Ich stelle gerade fest, dass ich gleichzeitig Auto fahren und reden kann. Das ist doch unglaublich, oder?
Sie sagt nichts, ich rede weiter, weil die Stille ein Airbag ist, der mir jetzt langsam die Luft wegnimmt. Über eine Stunde haben wir geschwiegen und jetzt habe ich verloren.
Würde es dich anmachen, wenn ich die Augen schließe? Du müsstest mir dann Anweisungen geben, mir ganz genau sagen, wie ich lenken muss.
Sie antwortet nicht, sie ist nicht verrückt. Manchmal tun wir so, als ob. Wenn wir meine Eltern besuchen zum Beispiel, denn die sind es wirklich, verrückt, glauben, dass aus mir eines Tages noch etwas werden wird. Manchmal erlauben wir uns dann einen Spaß und beginnen jeden Satz mit dem Wort Manchmal, aber meinen Eltern fällt das gar nicht auf, sie lächeln ohne Unterbrechung. Jetzt fahren wir in eine völlig andere Richtung, weit weg von Mama und Papa. Denn Verrückte planen nie etwas, das erst am nächsten Tag seine Wirkung entfaltet, Verrückte machen immer den gegenwärtigen Augenblick zum Dreh- und Angelpunkt.

Ich könnte schwören, dass die letzten zehn Autos, die uns entgegengekommen sind, alle blau waren. Kann das sein, hmm, kann das wirklich sein? Kann schon sein, natürlich kann das sein, aber es ist nicht wichtig, nicht wahr? Es ist nicht wichtig, beschließe ich ganz allein.
Liebst du mich?, fragt sie plötzlich, ja wirklich, ganz plötzlich fragt sie das.
Ich mag schwierige Fragen, Fragen, bei denen es um viel geht. Und in den Fernsehquizshows sind die schwersten Fragen immer ganz leicht, selbst wenn ich sie nicht beantworten kann, denn ich verliere ja nichts dabei.
Hey, aber das weisst du doch, sage ich. Frag mich doch mal was wirklich Schweres.
Ich beschleunige den Wagen, fahre schneller, aber sie holt auf, lässt sich nicht abhängen.
Wirst du mich morgen auch noch lieben?, fragt sie.
Naja, wenn du morgen immer noch dieses süße Näschen hast, dann werde ich mir das ernsthaft überlegen, dann hast du auf jeden Fall gute Chancen.
Ich drehe den Kopf in ihre Richtung, doch sie starrt geradeaus nach vorne, auf die Strasse.

Weisst du, Landschaften sind mir irgendwie scheißegal, sage ich. Die sind für mich sowas wie eine Pause, das Verbindungsstück zwischen den Momenten, in denen wirklich was passiert, in denen das Leben wahrhaftig stattfindet. Während des Fahrens aber ist Leben nur ein Standbild, etwas das man im Gepäck hat.
Ich werfe erneut einen Blick zu ihr hinüber, den sie wieder nicht auffängt. Sie sagt nichts, sie klopft nur mit den Fingerspitzen auf ihr Brillenetui und wippt dazu mit dem linken Bein, ganz gleichmäßig ist ihr Rhythmus, gleichmäßig wie ein Herzschlag, so gleichmäßig, dass man sie fast vergessen könnte, einzig ihr auf und ab wippendes Bein und das Geräusch ihrer trippelnden Finger auf dem Brillenetui gehen als Muster ins Gehirn, um dann dort durch die Monotonie der Wiederholung langsam der Aufmerksamkeit zu entgleiten. Als würde sie verschwinden, sich verdünnisieren wollen.

Sing mir dein Lieblingslied, sage ich. Aber nicht den Refrain dazu. Verstehst du, lass den Refrain einfach weg, den übernimmt die Strasse. Ich lenk dann das Auto dazu. Wir sind ein Kunstwerk, Baby. Aber diese Kunst bekommt keiner ausser uns zu sehen, das ist nur für uns, verstehst du?
Eine Strähne hängt ihr ins Gesicht, bis zum Mund reicht sie, aber sie reicht nicht aus, den Mund zu verdecken, sie hat die Zunge zwischen die Lippen gesteckt und die Zunge zuckt.
Verstehst du, wir zwei sind ein Team. Sing jetzt bitte für mich.
Okay, sagt sie. Mach das Schiebedach einen Spalt weit auf, damit der Wind pfeift, während ich singe, damit er mitsäuseln kann.
Du hast es kapiert, Babe, du hast es absolut erfasst.

Sie singt ein Lied von Abba, das ohne Refrain wie zerrissen ist, versehrt klingt, weil man ganz automatisch denkt, der Refrain muss dermaßen traurig sein, dass er weggelassen werden musste, weil die dünne Stimme ihn nicht hätte tragen können. Das Geräusch des Motors, das Überrolltwerden der Strasse, das ist die Verpackung und wir sind verkauft. Ich schalte die Scheinwerfer ein, obwohl es früher Nachmittag ist. Ich wünsche mir einen Leuchtturm. Um den möchte ich dann herumfahren, bis der Tank leer ist oder bis Abba sich wieder zusammentun und eine neue Platte aufnehmen - oder bis sie mich noch einmal fragt, ob ich sie liebe. Dann würde ich nur aus Spaß so tun, als ginge es dabei um etwas. Um mehr als mein Leben zum Beispiel. Verrückt.

Als sie zu singen aufhört, sage ich: Ich glaube, der Sommer ist vorbei. Es ist zwar schon noch Sommer, verstehst du, es ist ja auch noch richtig warm, aber es ist nur noch ein Zustand, der bleibt, oder vielmehr geblieben ist. Der Sommer steht nur noch im Passiv, ist eine Sache, die hinausgezögert wird. Vielleicht verstehst du, was ich meine. Dann, nach einer Weile, sage ich noch: Schön hast du gesungen.
Wie weit ist es denn noch?, fragt sie mich.
Nicht mehr weit, glaub mir, nicht mehr weit. Ich versuche zu lächeln.

Ich hab mal gelesen, sage ich, dass es in den sechziger Jahren in Amerika einen Automaten gegeben hat, in den man Geld steckte, damit eine Plastikhand herauskam, die man schütteln konnte. Das sollte eine Hilfe für die sein, die sich einsam und allein fühlten.
Sie reagiert nicht darauf, ihr sanftes Nicken ist nur das Schaukeln des Wagens und hat mit mir nichts zu tun. Aber jetzt ist es wirklich nicht mehr weit und die Autos, die uns entgegen kommen, werden auch immer weniger. Aber immer noch ist Blau die vorherrschende Farbe. Wir fahren ins Blaue hinein. Der Himmel ist sehr nah.
Was ist deine Lieblingsfarbe?, frage ich sie und schäme mich beinahe dafür, dass ich das noch nicht weiß, nach all der Zeit, die wir uns jetzt kennen. Vielleicht habe ich sie schon einmal danach gefragt oder sie hat es mir von sich aus gesagt, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.
Rot, sagt sie und ich weiß nicht, auf welche Frage dies die richtige Antwort sein könnte.
Ich mag, wie du dein Haar trägst, ich mag, wie du sprichst, ich liebe den Klang deiner Stimme, weisst du.
Sie nickt und ich sage ihr, dass sie doch mal wieder einen Schluck Wasser trinken solle, weil sie insgesamt einfach viel zu wenig trinke. Da musst du schon Acht geben, sage ich.

Wir reden nicht mehr. Wir werden auch nicht mehr angesprochen. Wir sind beim stillschweigenden Einvernehmen angekommen.
Der Ort ist jetzt auch da, tatsächlich da, hat uns erreicht. Ein Mann holt unser Auto ein, weil er unbedingt gefragt werden möchte.
Ich kurble das Fenster herunter: Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wo die Johannisstrasse ist?
Die erste links und dann bis zur Tankstelle, dahinter rechts und dann circa zweihundert Meter bis zur Abzweigung, so weit schafft es das Auto noch, so weit reicht mein Fuß noch nach unten aufs Gaspedal. Und sie sitzt neben mir und hält sich an der Wasserflasche fest. Am Brillenetui. An ihrem Schweigen. Bis wir da sind.

Jetzt guckt sie mich an. Ich springe aus dem Wagen, öffne den Kofferraum, hole die Tasche heraus, reiche sie ihr, sie ist auch ausgestiegen, sie ist nur ein Mensch, sie ist nicht krank, sie ist bereit zu gehen. Und ich bin mir mit einem Mal nicht mehr sicher, ob ein gesunder Mensch auch unbeschadet vom Arzt wiederkommt. Und weil normale Menschen nicht singend zu einer Abtreibung fahren, friert mich jetzt. Fühlende Menschen tanken nicht, wenn sie zu einer Abtreibung fahren. Und echte Menschen töten keine Kinder. Ich überlege, wie laut ich schreien müsste, um aufzuwachen und wie schrecklich es wäre, dann genau hier an dieser Stelle aufzuwachen, an einer Stelle, von der aus es kein Zurück mehr gibt.
Das Geld ist in der Tasche, sage ich und hasse meine Stimme dabei. Rauchen wir noch eine Zigarette zusammen?, frage ich mit einer anderen Stimme, die mir nicht gehört.
Sie schüttelt den Kopf. Du weisst doch, dass ich nicht mehr rauche, sagt sie.
Ich gehe um den Wagen herum und steige wieder ein. Die Beifahrertür ist noch offen. Ich beuge mich hinüber und wir schauen uns an. Wir werden später mal Kinder haben, wenn wir es wirklich wollen, dann werden wir Kinder haben, dann, denke ich, aber sagen kann ich es nicht.

Ich habe keinen Gang eingelegt, trete aber aufs Gaspedal, sodass der Motor aufheult, so laut aufheult, dass sie gar nicht erst in Versuchung kommt, mir zu sagen, dass sie mich liebt; oder ich es zumindest nicht hören kann, sollte sie es tun. Ich warte auf dich und nehm dich wieder mit nach Hause, denke ich, aber jetzt muss ich um die Ecke fahren, ich warte in einer Seitenstrasse auf dich.
Sie geht. Und bleibt nicht mehr stehen. Dann ist sie weg.

Herbert Hindringer    10.07.2007    

Herbert Hindringer
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