Jens Wonneberger
P. Dienemann Nachf.
P. Dienemann Nachf., Buchhandlung und Antiquariat, befindet sich in der Nähe vom Bahnhof Neustadt in einem alten Haus, dessen Eingang man nur über den Hof erreicht.
Vor der Haustür liegt ein Gitterrost aus Stahl. Bitte die Füße abtreten, steht auf einem Schild an der Haustür.
Vor der Zwischentür liegt ein Fußabtreter aus Bürsten. Bitte die Füße abstreichen, steht auf einem Schild an der Zwischentür.
Vor der Ladentür liegt eine Fußmatte aus Kokos. Auf dem Schild an der Ladentür steht, Bitte die Füße sorgfältig abstreichen.
P. Dienemann Nachf. ist privat. Privat heißt, daß am Montag geschlossen ist. Hier gehen die Uhren anders, sagt Fräulein Leukroth. Fräulein Leukroth ist die Tochter des Nachfolgers und in einem Alter, in dem das Wort Fräulein eine Offenbarung ist. Sie kommt jeden Morgen mit gesenktem Kopf und kleinen, schnellen Schritten in das Geschäft. Jeden Morgen trägt sie ein anderes Kleid. Die Kleider sehen alle gleich aus. Jeden Morgen trägt Fräulein Leukroth einen Stoffbeutel ins Geschäft, der aussieht wie ihr Kleid. Wenn sie kommt, hat sie einen steifen Arm, der beim Gehen fast den Boden berührt. Bevor sie das Geschäft betritt, hat sie sich zweimal normal und einmal sorgfältig die Schuhe abgetreten. Das Linoleum im Laden ist so oft gebohnert worden, daß es kein Muster mehr hat, nur auf den vier kleinen Kreisen um die Füße eines Tisches ist es noch zu erkennen.
Fräulein Leukroth spricht selten mit ihren Angestellten, sie schreibt ihnen das Nötigste auf einen Zettel. Am Abend, bevor sie das Geschäft abschließt, legt sie die Zettel auf die Arbeitsplätze ihrer Angestellten, so daß sie sie am nächsten Morgen finden.
Es wäre wünschenswert, wenn sie den Staub von den Lampenschirmen wischen würden, schreibt Fräulein Leukroth.
Fräulein Leukroth leidet unter Appetitlosigkeit und einem Hautausschlag. Das liegt an der kosmischen Strahlung, sagt sie. Manchmal liegt es auch an der radioaktiven Strahlung oder an einer Strahlung, für die es noch keinen Namen gibt. Die Strahlung, für die es noch keinen Namen gibt, ist die Gefährlichste, der es mit Unmegen von Tabletten und Tropfen und Salben, die die Angestellten aus der Apotheke holen müssen, zu begegnen gilt.
Seit Hermann Hesse gibt es keine Literatur mehr, sagt Fräulein Leukroth, legt die Bestelliste angewidert beiseite und schreibt auf einen Zettel, daß die Porzellanblume mehr Wasser braucht und daß das Wasser abgestanden sein muß und wohl temperiert. In Klammern schreibt sie, daß mit Wasser sparsam umgegangen werden muß.
Über dem Schreibtisch hängen die Bilder des Gründers und seines Nachfolgers. Mein Vater, sagt sie, hat noch den Gründer gekannt und schreibt auf einen Zettel, daß auch mit Packpapier sparsamer umgegangen werden muß. Jeden Morgen hat sie deshalb die Zeitungen vom Vortag in ihrem Beutel. Im Lager von P. Dienemann Nachf. reichen die Regale bis unter die Decke. Was vom Stoff der Kleider und Beutel übrig ist, hängt als Vorhang vor den Regalen. Hinter den Vorhängen sind die Regale gut sortiert. Packpapier und Glühlampen, Briefumschläge und Meißner Wein, Putzmittel und Konfektschachteln aus dem Delikat-Geschäft, Bohnerwachs und Ananas in Büchsen, Scheuertücher und Kräutertee. Fräulein Leukroth ist gerüstet für den nächsten Krieg und alle noch unbekannten Strahlungen der Zukunft.
Neben dem Schreibtisch steht ein Glasschrank. An der Scheibe des Schrankes hängt eine Gardine aus Kleiderstoff. Hinter der Gardine stehen neben den Tabletten und Tropfen und Salben die Bücher von Hermann Hesse, reserviert für besondere Kunden. Wenn auf dem Bahndamm ein Zug vorüberfährt, vibrieren im Glasschrank die Fläschchen. Bisher hat Fräulein Leukroth noch keinen Kunden für würdig befunden, die Bücher von Hermann Hesse zu lesen.
Ich würde es begrüßen, wenn sie die Güte hätten, die Fensterrahmen in Zukunft mit einem feuchten Tuch abzuwischen, schreibt Fräulein Leukroth.
Zu Weihnachten schenkt Fräulein Leukroth jedem Angestellten eine Schachtel Konfekt, von der sie das Verfallsdatum mit dem Fingernagel abgekratzt hat. Den Preis hat sie nicht abgekratzt. Auf dem Zettel steht dann Frohe Weihnachten.
Herr Leukroth kommt jeden Morgen mit dem Taxi. Er ist neunzig Jahre alt und schlurft in das Geschäft, ohne sich die Schuhe abzutreten. Seit er die Tochter des Gründers geheiratet hat, ist er der Nachfolger. Seit das Geschäft in der Innenstadt ausgebombt wurde, betreibt er den Buchladen in der Nähe des Bahnhofs.
Herr Leukroth spricht selten mit seinen Angestellten, er schreibt auch keine Zettel. Manchmal streitet er sich mit seiner Tochter um die Preise der Bücher und den Verbrauch von Packpapier.
Kunden, die Bücher verkaufen wollen, werden in einen Raum geführt, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Betreten verboten hängt. Herr Leukroth spricht lange mit den Kunden, dabei blättert er in den Büchern und stellt dann bedauernd fest, daß das alles nicht von Interesse sei. Wenn die Kunden enttäuscht ihre Bücher zusammenpacken, bietet Herr Leukroth die Übernahme an. Damit sie die Bücher nicht wieder mitschleppen müssen, sagt er gönnerhaft. Er ruft eine Zahl in den Laden, eine Mitarbeiterin zahlt die Kunden aus, die das Geschäft im Gefühl des Triumphes verlassen.
Wenn einer der Angestellten Geburtstag hat, wird er in den verbotenen Raum gerufen. Der Chef gratuliert und erkundigt sich nach dem Befinden der Familie.
Herr Leukroth zündet sich mit zitternden Händen eine Zigarre der Marke Mundlos an. Er leidet an der Parkinsonschen Krankheit. Das kommt von der Strahlung, sagt Fräulein Leukroth. Herr Leukroth schweigt. Wenn er schreibt, umfaßt die linke Hand das Gelenk der rechten. Die Zahlen, die er schreibt, verraten den Angestellten den Preis der Bücher und den Gesundheitszustand ihres Chefs.
Seit einiger Zeit radieren sie die fast unlesbar gewordenen Zahlen des Chefs aus und ersetzen sie durch neue. Gegen mittag kommt das Taxi, um Herrn Leukroth abzuholen.
Paul Dienemann Nachf., Buchhandlung und Antiquariat, ist ohne Nachfolger.
Jens Wonneberger 28.07.2007
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