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Grit Kalies

Lamort

Angenehm subversiv

Kritik
Grit Kalies | Lamort   Grit Kalies
Lamort
Roman
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2010


Der erste Roman von Grit Kalies entpuppt sich als ein eigenwillig-geist­reiches Spiel um das Mysterium des Ich-Erzählers und des Physikers Lamort, das in der Behauptung von Authentizität die „Suspension of dis­believe“ nährt: Ich gebe hier nur das wieder, woran ich mich genau erinnere, nur das, was gewesen ist …, Mir genügt die Wirklichkeit …, Ich halte mich hier nur an die Regeln und schreibe auf, was gewesen ist. Und anders war es nicht. usw. In sub­versiver Weise wird damit das auto­bio­graphi­sche Prinzip hinter­fragt, konstruiert sich doch der Erzähler, wie immer, nur seine eigene Wirk­lich­keit. Das beginnt mit der Negativ­darstellung seines Feindbildes Lamort und hört bei dem vielzitierten Henri Baptiste Grillon aus dem 18. Jahrhundert nicht auf (Bluts­verwand­schaft ist eine Frage des Geistes.), der in keinem Schrift­stel­ler­lexikon vorkommt.
  Doch zum Inhalt: Ein Physiker mit dem sprechenden Name Lamort und ein wohl eher arbeitsloser und in seiner Untätigkeit nerven­der Redak­teur ohne Namen wohnen in einem Mietshaus eng bei­einander. Obwohl sie sich nicht mögen, lassen sie sich auf­einander ein, doch die Annäherung lässt auf sich warten. Sie bleiben Gegen­spieler, was im Schach­spiel sogar direkt in Szene gesetzt wird. Einer belastet und stresst den anderen, einer erklärt den anderen zur Ursache seines Scheiterns, bis schließ­lich einer die Geduld verliert …
  Wie leicht und humorvoll Lamort auch daherkommt, es ist ein ernstes Buch. Gewagt erzählt es vom nahezu unüber­wind­lichen Gegensatz zwi­schen Natur­wissen­schaft und Literatur – zwei Geistes­strö­mungen und -betrieben, die nichts mit­einander anfangen können. Wenn zwei so unter­schied­liche Typen, einer Kalkül, der andere Gemüt, zusammen losziehen, ist abzusehen, was geschieht: Es geht nicht gut. – So das dunkle Ende des Romans. Die Abgren­zung der zwei Gegenpole (in einer Person, in der Gesell­schaft) ist definitiv. Sterben ist eine Natur­konstante. Es geht um Mord.
  Aber hier fängt das Buch erst an, entlässt es uns doch mit einem Para­doxon. Und es wäre auch nicht dieses doppel­bödige Buch, wenn es sich nicht auch poetologisch lesen ließe: als die Geschichte von Autor und Figur und vom Tod des Autors durch die eigene Figur und Schreib­ver­weigerung, was sich in der skur­rilen Erzählung Der kleine Franzose im zweiten Kapitel bereits andeutet.
  Es sieht so aus, als würde genau jene Erfor­schung des Komplexen, die der Physiker Lamort betreibt, in diesem stil­sicheren Buch auf das Erzählen und das Erzähler-Ich angewandt. Physik und Poesie haben hier also nicht nur die Anfangs­buch­staben gemeinsam. Für poeto­logisch Interes­sierte ein Muss.
Joern Strohner   26.04.2010   
Joern Strohner