Sturzgeburt
Natürlich ist meine Frau schuld. Schließlich war sie es doch, die mir zu unserem Hochzeitstag die Gummibärchen schenkte.
Und das Buch „Du verstehst mich einfach nicht – Ein Leitfaden“.
Mit den Gummibärchen wollte sie die Wucht des Buches auffangen.
Ich habe das Buch bis heute natürlich nicht gelesen. Und die Gummibärchen? Eines hab ich gegessen. Das war auf der U-Bahnfahrt am Morgen dieses zwölften Hochzeitstages.
Und das kam so:
Ich fahre jeden Morgen mit der U-Bahn zur Arbeit. Zwanzig Minuten dauert die Fahrt. Zwanzig Minuten, in denen ich lese.
Normalerweise.
Ich ziehe mein Buch aus der Aktentasche, halte es zugeklappt auf dem Schoß, blicke durch den Wagen, stelle fest, dass auch heute niemand mitfährt, den es lohnt, zu beobachten. Dann erst fange ich an zu lesen.
Normalerweise.
An diesem Tag jedoch stand neben der Tür, zwei Meter von mir entfernt, eine schwarzhaarige Frau. Hübsch, dachte ich, sehr hübsch. Wieso fährt sie U-Bahn? In der U-Bahn fahren doch sonst nur hässliche Menschen, dachte ich. Ich ließ das Buch noch zu.
An der nächsten Haltestelle stieg eine Rothaarige ein und stellte sich neben die Schwarzhaarige. Jesus! Ich war aus dem Häuschen. Ich wollte mein Buch sofort in die Aktentasche zurück stecken, aber so, dass die Rothaarige den Titel („Rad der Liebe“) lesen könnte, wenn sie es darauf angelegt hätte. Das Buch ließ sich aber nicht ganz so einfach wegstecken, da die große Tüte Gummibärchen im Weg war. Ich holte die Tüte heraus.
Ich betrachtete die Rothaarige. Dann die Schwarzhaarige, die mir aber jetzt nicht mehr ganz so schön erschien.
Die Rothaarige hatte kurzes, streng nach hinten gekämmtes Haar, eine sehr helle Haut und knallrote Lippen. Sie war ganz in Grün gekleidet, sie war schlank, ihr Busen fiel nicht besonders auf. Und sie hatte grüne Augen! Die blickten offen in die Welt.
Wer offen in die Welt blickt, hat dabei normalerweise einen staunenden, melancholischen Gesichtsausdruck. Ich glaube, so schaue auch ich in dieser Welt herum. Und so trafen sich – natürlich – unsere zwei offenen Augenpaare. Eine Sekunde lang. Das ist viel länger, als üblicherweise erlaubt. Huscht man bei zufälligem Blickkontakt nicht nach einer Zehntelsekunde mit seinen Augen weiter?
Staunend sahen wir uns diese eine Sekunde lang an.
Mein Körper reagierte umgehend. Ich fühlte mich plötzlich butterweich, in meinem Magen wühlte eine Faust, ich spürte Gesichtsröte aufkommen, Schweiß trat aus.
Ich betrachtete Hilfe suchend meine Gummibärchentüte. Ich war der Einzige in diesem Zug, der seine Gummibärchentüte betrachtete. Ich war etwas Besonderes. Das ahnte die Rothaarige sicher auch. Ich sah wieder zu ihr hin. Ich sah, wie sie nachdachte. Sie blickte ernster als zuvor. Gott sei Dank lächelte sie nicht – das gab unserer Beziehung Tiefe.
Ja, es war eine Beziehung.
Sah ich in ihren Augen nicht Bedauern?
Mir wurde weinerlich zumute.
Ich hielt die Gummibärchentüte in der rechten Hand; sie sah sie. Und sie sah sicherlich auch meinen Ehering. War es deswegen? Hatte sie deswegen diesen traurigen Blick?
Ich stellte mir vor, wie wir zusammen aussteigen, die S-Bahn zum Flughafen nehmen, von da in einem Flugzeug nach Egalwohin fliegen, uns dort im tiefem, stillen Irgendwo ein Haus nehmen; ich werde kochen, sie im Garten arbeiten, am Abend sitzen wir auf der Veranda, sehen aufs Meer, trinken Wein und dann – dann erst! – wird sie mich das erste Mal ansprechen und mit ihrer wundervollen, weichen Stimme, lächelnd sagen: "Ich möchte ein Kind von dir".
Aber noch stand sie da, neben der Tür.
Wie wird unser Kind wohl aussehen? Hoffentlich rothaarig, dachte ich und lächelte bei dem Gedanken.
Es war wohl eher ein verzweifeltes Lächeln. Ich riss die Gummibärchentüte auf, nahm mir einen Bär, steckte ihn in meinen Mund, nur um irgendetwas zu tun.
Man muss was tun, sonst weint man die ganze Zeit.
Ich wusste, dass ich dämlich aussah, so, gummibärchenkauend. Aber ich wollte die Weichheit in mir vertreiben, mir die Realität zurückerzwingen, mich auf den Boden der Tatsachen stellen. Ich wusste, hätte ich in diesem Moment diesen einen Gummibär nicht gegessen, ich hätte nie wieder irgendetwas gegessen. Mein Leben wäre aus dem Leim gegangen.
Ich wollte der Rothaarigen helfen.
Ich musste uns retten.
Ich ging auf sie zu, meine Beine waren aus flüssigem Blei, ich glühte im Gesicht, ich musste aufpassen, dass die Tüte nicht aus meinen schweißnassen Händen glitt.
Ich hielt ihr die offene Tüte hin, wortlos.
Sie sah auf die Tüte, die vielen bunten Gummibärchen.
Dann lächelte sie.
Unser Kind wird auch so lächeln, dachte ich.
Mit so einem Lächeln wird die Welt besser, dachte ich.
Ihre schlanken, zarten, blassen Finger nahmen sich einen.
Grün, natürlich – wie die Hoffnung.
Es kam irgendeine Station, nicht meine, nicht ihre, aber ich öffnete die Tür und trat aus dem Wagen.
Ich drehte mich nicht um.
Ein Kind der Liebe, dachte ich. Sie wird es nicht essen.
© 2005 Jürgen Cleffmann / Allitera