Der Idiot am Rande des Dorfes
Im Vegetationskomplex aus naturnahen Erlensumpfwäldern, Moorbirkenbrüchen und Grünlandflächen liegt, von weitgehend kalkfreien Gesteinsschichten und einem Geröllstrom aus basaltischem Material begrenzt, der Hof, auf dem - der Heiligen Schrift nach Mitterer gemäß - der Idiot am Rande des Dorfes lebt. Als hätte die Natur extra ausgeholt, reicht die Talkehre in weitem Schwung an Quellflure und Torfmoosdecken, an Feucht- und Goldhaferwiesen bis zur undurchdringlichen Wand des Fichtenbestandes. Als hätte die Natur das Haus gepackt und an den äußersten, noch bewohnbaren Punkt der Geographie geschleudert, weil im Dorf kein Platz war für den Idioten. Hier gibt es keine Menschen. Hier ist man nie allein. Zwischen Wirbeltierarten und Großschmetterlingen und Felsenschwalben und Bergzikaden latscht man durch die Fauna des Pannonischen Klimagebiets und kann, wenn man das möchte, oder auch wenn man das nicht möchte, Sichler und Fischadler und Zwergrappe und vereinzelte Brutversuche der Stelzenläufer begaffen. Sogar der Braunbär, das größte heimische Landraubtier, kackt hier ins Unterholz.
Vor ein paar Tagen hat er einen Vogel gefunden; einen Haussperling. Das Tier lag am Boden und konnte nicht mehr fliegen. Der eine Flügel war geknickt und stand ab. Er hat ihn genommen und in den Stall getragen, wo er ihm im Heu ein Nest gemacht hat, ganz hinten im Eck, wo nie jemand hinkommt. Er hat ihn mit Heu zugedeckt, damit ihn die Katzen nicht finden.
Wenn er hier herumläuft, hat man ihm eingeschärft, darf er sich nicht zu weit entfernen. Er muss in Sichtweite des Hofes bleiben. Im Alpinen kann man sich leicht verlieren, schon überhaupt, wenn man, wie er, ein wenig anders ist. Er war schon immer ein wenig anders, aber richtig festgestellt hat man das erst, als die Volksschullehrerin seine Eltern zur Sprechstunde lud. Er war kleiner als seine Klassenkameraden und langsamer und untersetzt. Die Eltern waren böse, überhaupt der Papa. Der hat ihm gleich eine Ordentliche hinters Ohrwaschel gezimmert und gesagt, er solle sich nicht so anstellen. Die anderen Kinder würden doch alle schon längst ihren Namen schreiben können, das sei ja peinlich. Ein fauler Hund, das sei er, ab heute werde er jeden Abend seinen Namen schreiben, zwanzigmal, in Schönschrift, unter väterlicher Aufsicht. Die Lehrerin bestand auf einer Untersuchung, also wurde er ins Auto gesteckt und ins Krankenhaus gezerrt, ein schrecklicher Ort an dem es stank und riesenhafte fremde Menschen einem Dinge in den Körper steckten. Nach dem Besuch beim Doktor wurde einiges anders. Zum Beispiel muss er jetzt nicht mehr zur Schule. Das ist ihm nur recht. Nun hat er die Tage für sich und kann anstellen, was ihm gefällt. Dem Traktor nachrennen zum Beispiel, mit dem der Papa über die Felder tuckert. Der Mama ein Taschentuch bringen, wenn sie im Schlafzimmer sitzt und die Wände anstarrt und Blut die Nase hochrotzt und ihm erklärt, der Papa habe ihn lieb. Er ist nicht dumm, er ist nur langsam. Er belauscht seine Eltern, wenn sie über ihn sprechen und weiß, dass er am Brader-Willy-Syndrom leidet. Er weiß nicht, was das ist, nur, dass er das hat und deshalb nicht mehr zur Schule muss. Er findet das Brader-Willy-Syndrom nicht so schlimm. Er kennt es ja nicht anders. Er hat auch eine Schwester, die ist älter und studiert am Mozarteum in Salzburg. Die ist eine große Musikerin und wenn sie heimkommt muss sie der Familie immer vorspielen, weil, sagt der Papa, er was für sein Geld hören will. Sie kommt nicht oft heim. Das letzte Mal ist lange her. Da ist er mitten in der Nacht aufgewacht, weil sie geschrieen hat und die Mama auch und als er raus gerannt ist, obwohl er weiß, dass er das nicht darf, ist die Mama vor dem Stall gestanden, in ihrem Nachthemd und hat gezittert. Er hat sie gefragt, ob ihr nicht kalt ist, aber sie hat nur weitergezittert und dann ist die Schwester aus der Tür gerannt und hat die Mama ins Auto gezogen und zu ihm gesagt, er solle auch einsteigen. Aber er hatte das unbestimmte Gefühl, das diese Fahrt wieder im Krankenhaus enden würde und hat sich geweigert. Die Schwester hat ihn angebrüllt, er solle einsteigen. Er hat den Kopf geschüttelt. Die Mama hat gezittert. Da hat er sich umgedreht und ist weggelaufen, in den Wald. Er war schon öfters am frühen Abend im Wald, aber noch nie nachts. Es war unheimlich, so dunkel und voller Geräusche. Aber er ist nicht weit weg, er ist in Sichtweite des Hofes geblieben, wie befohlen. Die Schwester hat ihm noch irgendwas nach geschrieen und ist dann weggefahren. Und er ist im Wald sitzen geblieben und hat beobachtet, wie der Papa aus der Tür gekommen ist, mit einer Flasche in der Hand. Der hat dem Auto nachgesehen, auch als das Auto schon lange nicht mehr zu sehen war. Dann hat er die Flasche in hohem Bogen durch die Luft geworfen und ist wieder ins Haus gegangen. Er hat auch wieder ins Haus gewollt, denn es war kalt und auch er hat nur seinen Pyjama angehabt. Aber er ist nicht rein gegangen. Er hat gewartet und gewartet und die Tür angestarrt und irgendwann ist er einfach eingeschlafen, mitten im Wald. Als er aufgewacht ist war es schon hell und sein ganzer Körper hat wie Feuer gebrannt, weil ihn überall Ameisen und Gelsen gestochen haben. Der Papa war weg. Das hat er gewusst, deshalb ist er ins Haus und hat sich ein Brot von der Anrichte genommen.
Das letzte Mal, als er richtig Ärger hatte war, als sie bei der Tante zu Besuch waren und die gesagt hat, er hätte ihre Küken umgebracht. Die Tante hat nämlich auch einen Hof und viele Hühner und Gänse und Enten. Die hat sogar einen eigenen Teich. Er hat immer mit den Hühnern gespielt, ist ihnen nachgelaufen und hat versucht, sie zu fangen. Aber die waren immer schneller. Er war auch im Stall, wo es dunkel war und warm und wo es nach Tieren gerochen hat. Da waren auch die Küken. Er hat sie gestreichelt und mit ihnen gespielt, aber er hat sie nicht umgebracht. So was würde er nie machen. Die waren doch seine Freunde. Trotzdem waren sie am nächsten Tag tot. Alle sechs. Die Tante hat den Papa angerufen und der Papa hat zu Brüllen begonnen. Da ist er gleich wieder raus in den Wald gelaufen. Aber diesmal hat ihn der Papa gesehen und ist ihn suchen gegangen. Und hat ihn gefunden. Er ist mit ihm hinter den Stall und hat ihn dort bestraft. Er hat versucht, nicht zu heulen, weil er weiß, dass das den Papa nur noch wütender macht. Aber es hat nicht funktioniert. Er hat geweint bis auch die Mama da war und auch geweint hat und dann war das Abendessen fertig.
Es ist Nacht und er läuft hinaus. Milliarden von Sternen über ihm. Er geht in den Stall und sucht den Vogel. Er findet ihn nicht und fürchtet schon, die Katzen hätten ihn doch erwischt, aber dann, ganz weit unten, da liegt er. Es riecht nach Kuh und Stroh und muffig. Der Vogel bewegt sich nicht. Eine Nacht hat er da gelegen. Eine Türe knallt. Er nimmt den Vogel und läuft in den Wald. Er hört Geschrei. Er hält ihn zum Himmel hinauf und wartet, dass er wegfliegt. Der Vogel bewegt sich nicht.
"Flieg", sagt er. "Flieg endlich."
Er hat die Küken nicht getötet. Er hat auch den Spatz nicht getötet, im Gegenteil, er hat ihn in Sicherheit gebracht, damit er wieder gesund werden kann. Er wirft ihn hoch und das Tier fällt wieder hinunter, in seine flache Hand.
Im Haus brüllt der Idiot.