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Klaus-Peter Wolf
Ostfriesland – die Geburtsstätte des Deutschen Kriminalromans
Die Geburtsstunde des Deutschen Kriminalromans erlebte ich, versteckt hinter Kartons mit Haarsprayflaschen und Dauer­well­flüssig­keit, im zarten Alter von zehn Jahren im Friseurgeschäft meiner Mutter in Gelsenkirchen-Ückendorf. Dort lagen Illustrierte aus, die ich regelmäßig heimlich las.
Ich blätterte im STERN auf der Suche nach Werbung für Damen­unter­wäsche und all den spannenden Dingen, wegen derer solche Zeit­schriften meiner Vermutung nach „für Jugendliche ungeeignet“ sein sollten. Statt­dessen fand ich „Gefährliche Neugier“ von Hansjörg Martin. Der Krimi spielte in Ostfriesland und die Sätze von Hansjörg Martin ließen mein Herz schneller klopfen.
Natürlich wollte ich wissen, wie es weitergeht. Ich stürmte in die Stadt­bibliothek und wollte mir diesen Krimi ausleihen, aber die Bibliothekarin lächelte mich nur milde an. Ein Krimi von einem deutschen Autor – nein, das gäbe es nicht.
Wir schrieben das Jahr 1964. Krimis kamen aus England und spielten in London oder vielleicht ganz modern aus den USA. Ermittelt wurde in den Häuserschluchten von New York, nicht etwa in Deutschland - und schon gar nicht in Ost­friesland.
Edgar Wallace setzte Maßstäbe, es gab Raymond Chandler, Dashiell Hammett, für ganz Belesene noch Cornell Woolrich.
Natürlich schrieben damals auch schon deutsche Autoren Krimis, Ernst Hall zum Beispiel bei Goldmann (Glocken des Todes,1963), in der berühmten Roten Reihe, aber die spielten in einer süd­englischen Moor­landschaft und der Kommissar hieß McFaverham und war Inspektor bei Scotland Yard.
Aber das war ohnehin alles nichts für mich. Ich war ja erst zehn und sollte Enid Blytons Bücher lesen. Die interes­sierten mich aber nicht. Da wartete ich lieber auf die nächste Folge von Hansjörg Martin und tröstete mich solange mit Jerry Cotton in New York oder Edgar Wallace in London.
Dann publi­zierte der Rowohlt-Verlag die erste Reihe mit Krimis deutsch­sprachiger Autoren. „Gefährliche Neugier“ von Hansjörg Martin machte den Anfang. „Kein Schnaps für Tamara“ folgte. So ein Taschenbuch kostete damals eine Mark neunzig. Ich kaufte sie alle, die schmalen Bändchen der Schwarzen Reihe. Friedhelm Werremeier, Michael Molsner, das waren meine Helden. Und ihre Krimis unterschieden sich deutlich von den Übersetzungen. Sie nahmen gesell­schaftliche Themen auf, erzählten von einem erschreckenden Hier und Jetzt, das einem doch irgendwie bekannt vorkam, obwohl es fremd war. Die Menschen wirkten, als könnten sie im Nebenhaus wohnen und sprachen auch so.
Hansjörg Martin läutete 1964 eine neue Ära ein. Er hatte auf Norderney zu schreiben begonnen, und seine Erfahrungen als Bühnen­bildner bei der Ostfrie­sischen Landesbühne inspirierten ihn zu seinem ersten Krimi. Der Siegeszug des deutschen Kriminal­romans begann in Ostfriesland.
Bald schon schnellten die Auflagenzahlen hoch. Die Kritik belächelte das alles noch und das Fernsehen war noch längst nicht soweit, trotzdem sammelten sich hier bereits die späteren „Tatort“-Erfinder. Werremeier schrieb mit seinem Kommissar Trimmel den ersten ARD-Tatort: „Taxi nach Leipzig“. Damals stand im Vorspann noch: „Ein Film von…“ und dann kam der Name des Autors, nicht etwa der des Regisseurs, der Hauptdarstellerin oder des Produzenten.
Inzwischen hat fast jeder deutsche Verlag eine Krimireihe, selbst Suhr­kamp steigt neuer­dings in das Geschäft ein. Kein Wunder, 25 bis 30 Prozent aller verkaufter Belletristik sind Krimis – und immer noch ist das Epizentrum des Ganzen in Ostfries­land.
Welcher Verleger möchte nicht gerne eine eigene Ost­friesland-Krimi­reihe? Lübbe hat Theodor Reisdorf, rororo Sandra Lüpkes. Der Ost­fries­land­krimi ist nicht einfach irgendein Regionalkrimi, eine eigene Gattung ist entstanden. Die Anonymität, aus dem Groß­stadtkrimis ihren Grusel beziehen, gibt es hier nicht.
Im Ostfrieslandkrimi wird die unver­wechselbare Landschaft geradezu zum Protagonisten der Handlung. Je aus­tausch­barer die Innenstädte der Metropolen werden, umso größer wird die Sehnsucht der Leser nach Un­verwechsel­barkeit. Das lesende Individuum will nicht im Einheitsbrei untergehen. Ob ich in München im Starbucks sitze oder in Zürich, wo ist der Unterschied?
Aber es gibt nur ein Aggi Huus in Neßmersiel und das Café ten Cate kann man nicht mit Café Remmers verwechseln. Sie sehen nicht nur anders aus. Sie riechen anders. Ihre Kuchen haben unter­schiedlichen Charakter, schmecken ganz anders und gehen wir von dort zu Grünhoff, tut sich wieder eine neue Welt auf–- und wir reden jetzt nur über Cafés und Kuchentheken. Über vor­gefertigte Sachen aus der Fabrik kann man hier nur lachen.
Ich könnte endlos weiter erzählen von der Welt, in der ostfriesische Kriminalfälle verortet sind.
Als ich vierzehn war und wild entschlossen, Schriftsteller zu werden, begann ich, inspiriert von Hansjörg Martin und einem Urlaub an der Nordsee, meinen ersten Krimi. Er spielte natürlich an der Küste. Ich erinnere mich noch an die ersten Sätze:
„Er saß in der Dunkelheit auf dem Deich und dachte: Alles ist weg. Meine Freundin, mein Geld, mein Auto und die Nordsee. Ebbe auf ganzer Linie.“
Der Roman wurde nie fertig, aber ich bekam eine Ahnung davon, wie die Landschaft die Betrachtungsweise von Menschen prägen kann.
Hansjörg Martins „Gefährliche Neugier“ und „Kein Schnaps für Tamara“ wurden später – natürlich in Ostfriesland – verfilmt. Inzwischen sind die Romane der Gründerväter des Deutschen Kriminal­romans bei rororo längst nicht mehr im Programm, aber ein Weggefährte von ihnen, der Schriftsteller Frank Göhre aus Hamburg, selbst ein Groß­meister des Krimigenres, hat die bahnbrechenden Werke seiner Kollegen in der Reihe „Die kriminelle Sitten­geschichte Deutschlands“ in der der kleinen „Edition Köln“ neu heraus­gegeben.
So wurde endlich auch „Kein Schnaps für Tamara“ der Öffentlichkeit wieder zugänglich. Aus den deutschen Kriminal­romanen, die heute oft abschätzig Regionalkrimis genannt werden, habe ich mehr über die Gesellschaft und ihre Veränderungen gelernt als aus sozio­logi­schen Studien und die Krimis waren weitsichtiger, in ihren Prognosen treffender - und unterhaltsamer waren sie allemal.
Inzwischen schickt eine neue aufregende Autoren­generation ihre Kommissare in Ostfries­land auf Verbrecherjagd. Peter Gerdes knorziger „Stahnke“ gewinnt Fans. Ulrich Hafner, der „Polizeipoet“, wohnt zwar nicht hier, legt aber auch gerne Leichen hinter den Deich. Besonders originell ist das Trio Mortabella: Christiane Franke („Eine Mordsehe“, SKN-Verlag), Regine Kölpin („Spinnennetz“, Leda-Verlag) und Manfred C. Schmidt („Mord im Milieu“, Lerato) haben sich zusammen getan, treten gemeinsam auf und publizieren als „Trio“ auch Kurzgeschichten.
Viele müsste ich noch nennen, zum Beispiel den Publizisten Bernd Flessner („Knochenbrecher“), ein Sprachkünstler mit Wortwitz, oder Regula Venske („Juist married“).
Die Krimi­landschaft Ostfriesland ist bunt und groß. Es gibt viel zu entdecken.
Klaus-Peter Wolf    11.09.2009   
Klaus-Peter Wolf
Krimi