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Jürg Halter
Nichts, das mich hält

Noch'n Tranzendentalbelletrist
Jürg Halters skeptische Kleinodien
Norbert Gstrein | Die Winter im Süden
Jürg Halter
Nichts, das mich hält
Gedichte
Ammann Verlag 2008
Satt mattrot der Ballon, der den pech­schwarzen Stockschirm in den stark bewölk­ten Cover­himmel trägt; oder wird der Schirm von einem Sturm in Richtung Wolken­front getragen, und der Ballon klebt an ihm? Oder … Die rätsel­hafte Zeichnung ist das Cover des schmalen, properen Gedicht­bands Nichts, das mich hält. Jürg Halter, sein Autor hat sich mit dieser Figura etymologica gleich selbst ein kleines Denkmal gesetzt, also die Denkmal­setzerei aus seinem vor drei Jahren er­schie­nenen Debüt Ich habe die Welt berührt fort­geführt, wo es hieß: „Aber heute ist der Tag, an dem ich mehr als sprechen will. … Ich werde sprechen, so meine Sprache ersprechen, / ich mache alles neu! Ich werde ihr gehalterte Zügel anlegen …“ Solche Koket­terie ließ Halter dort aber nicht und lässt sie auch hier nicht unkommentiert; augen­zwinkernd kommt es mitten in seiner neuen Sammlung zum „Rück­tritt eines Denkmals“, und selbst­bewusst, und daher nicht notwendig forsch und ebenso wenig notwendig stilvoll sagt Ich: „Ich bin, was du auslässt, / was nicht geschrieben steht. // … Die Stimme, die du mir gibst, / wieder nimmst, wendest du die Seite.“ Das schaut nach einem ernst­zunehmenden ästhetischen Konzept und Willen zur Stil- und sonstigen Verun­sicherung aus.

Augenfällig ist, dass jeweils acht Gedichte in fünf Abschnitte aufgeteilt sind; keines davon ist länger als eine Seite, typographisch wurde kein Aufheben gemacht, die Rechtschreibung ist die alte. Alles also furchtbar brav? „Die Sanduhr tickt: Alles ist in Ordnung.“, antwortet ein Vers aus dem Poem „Stilleben“ (Enthusiasten der alten Rechtschreibung: Nein, es ist kein Traditionalismus, auch kein Neologismus durch die Hintertür: Im Kanton Bern, und daher stammt der Dichter, gilt die reformierte Orthografie nicht; mit der Verwendung des Rucksack-S hingegen folgt Halter den Gepflogenheiten der schweizerdeutschen Schriftsprache nicht.).

Liebe, Trennung und Tod sind die dominierenden Themen. Die Kulisse ist zudem recht düster, viele Wolken dürfen aufziehen und rumhängen (es ist so, und ist ja nicht nicht so, dass dies an Tieks Kanongedicht „Melankolie“ erinnert); redundant beschworene Vereinigungssehnsucht, das Aufrufen ganz bestimmter semantischer und anderer Gegensatzpaare (z.B. Vernunft – „Herz“, Herbst – Frühling, Rabe – Schwan, Natur – Kultur, Märchen – Wirklichkeit, Orient – Abendland, Amerikanisch – Usbekisch), zugezählt die Art und Weise, wie diese Oppositionen aufeinander bezogen, besser: gegeneinander gestellt, dann verwoben werden, und schließlich das häufige Einschalten einschlägiger Symbole wie Kind, Herz und Heimkehr, verweisen deutlich auf ein romantisches Pensum.

„Neue Namen müssen her.“ So lautet der vorletzte Vers des anspielungsreich betitelten Gedichts „Kernfusion“. Das wirkt wie eine Korrektur des Konstantin G. Treplev aus Tschechows Möwe, der brauchte die Schauspielerin Nina und „Neue Formen, oder … gar nichts!“ Der letzte Vers beurteilt die obige Forderung bescheidend nach Schulfaustrecht: „Sind nur Schall und Rauch.“ Von einer unkritischen Übernahme der romantischen Tradition kann, bei aller Affinität zu ihr, somit nicht die Rede sein.

An anderer Stelle will „ich … was ich sehe / zu benennen versuche[n]“, was in einer Epiphanie ausklingt, diese Bewegung wird unter dem Titel „Der Eingriff“ geführt, eine beabsichtigte „Verschmelzung“, wie Novalis das nennen würde, von poetischer Tagträumerei und prosaischer (z.B. szientifisch-technizis­tischer) Wirklichkeit nicht ausgeschlossen. Eine Spring­prozession, zwei Schritte vor, einer zurück, und immer mal wieder die Monstranz Romantik hochhalten: Es mystelt, kontempliert und soult kräftig: Vor offensichtlich verunglückter Emphase („Der Tod scheidet alles.“; „Ein undenkbares Gefüge von Raum und Zeit / spielt dir vor, du seist es. / Die Wahrheit ist …“) und gramma­tika­lischen Bruch­landungen (z.B. im schon erwähnten Gedicht „Der Eingriff“), dem Gebrauch von Ballast­konnotationen (Herz, Sehnsucht, Einswerden, Angst, Engel), noch dazu im drögen Nenn-Modus, davor schützt Lässigkeit nicht, Traditionsbewusstsein nicht, und auch nicht Rhythmus­gefühl. Leider gibt es diese Patzer, sie sind zwar nicht zu zahlreich, aber aufgrund der Eleganz der überwiegenden Mehrzahl der Gedichte überaus ärgerlich; bei einem schmalen Band wie diesem hätte mehr Sorgfalt (des Lektorats?) nicht geschadet.

Dann ist es wieder so, dass die Monstranz versteckt wird. Also doch keine Spring­prozession, sondern eine Spring­prozessions-Simulation? In Nichts, das mich hält sind explizite Rückgriffe auf Traditionsbestände Legion, seien es Rede­wendungen, Märchenformeln, Biblisches, diese werden aber durch elliptisches Sprechen und kleinere Umbauten am Kontext leger verwandelt, Emphaseexperten nennen das „Zusammen­hangs­durchstoßung“.
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Abgang durch die Blume

Bevor du mich verlässt, verlasse ich dich.
Dennoch, Liebste, nimm Platz,
gedeckt ist der Tisch.

Zur Hand nimm Messer und Gabel,
durch deinen blühenden Mund
wünsch ich mich zu verabschieden.

So weit wir uns voneinander
entfernt haben,
so nahe will ich dir noch mal sein.

Laß von mir keine Reste zurück.
Die Schlüssel wirf in den Briefkasten.
In deinem Magen verflüchtige ich mich.


Unglücklicherweise sieht man an solchen Stellen allzu gerne Hyperbel und Ironie am Werk, wartet auf eine Pointe und ist enttäuscht, dass sie hic et nunc ausbleibt; man vergisst einfach, dass der Gegensatz – wenn schon nicht die Antwort oder Auflösung oder ähnlicher unredlicher Quatsch – ein paar Gedichte weiter warten könnte.

Die eben angeführt quasi-vampiristische wird von einer Regressionsphantasie im Poem „Geburt oder Tod“ flankiert. Die Larmoyanz, gar Ohnmacht, der hier Ausdruck verliehen wird, perturbiert das Megalomane vorheriger Verse („Was ich nicht sehe, sieht niemand.“; „Der einzig unbewegte Punkt im Universum, / das bist du. / Alles, was ist, dreht sich nur um dich.“) und schließt so, um eine Äußerung aufzunehmen, die der Philosoph Odo Marquard in anderem Zusammenhang getan hat, Freundschaft mit den ´nächsten Dingen´: Einsicht in die eigene Endlichkeit, Per­fek­tions­losigkeit, Begrenztheit, statt Selbst­bekränzung.

Jürg Halters Gedicht-Ich tritt lediglich als Agent in Sachen Perspek­tiven­wechsel auf, gibt aber nicht den Diplomaten oder den Anwalt der Synthese. Neben dieser reizvollen, weil skeptischen Poetologie kennzeichnet diese Gedichte formal ein sehr feines Gespür für Rhythmus und Sprachwohlklang, was für einen Dichter-Rapper aber wohl nichts Ungewöhnliches ist. Sehr positiv erwähnt werden muss schließlich noch der Halter-Humor.

Kleine dunkle Wolke

Auf dem Parkplatz eines Supermarkts
bückt sich ein junger Mann,
seine Schuhe zuzuschnüren.

Über seinem Kopf zieht eine kleine dunkle Wolke auf.
Aus heiterem Himmel flüstert sie Unverständliches.
Der Mann steht aufrecht, zieht an einer Zigarette.

Er wartet an seinen Wagen gelehnt,
bis es Abend wird.
Der Parkplatz ist leer.
Zahllos tummeln sich im Flutlicht Insekten.

Der Mann steigt ein, setzt den Wagen in Bewegung
und steuert ihn dann
– seelenruhig –
in den nächsten Baum.


Was ist da los? Ich jedenfalls hatte noch nie zuvor gelacht, wenn ein Gedicht damit endet, das jemand in einen Baum rast; vielleicht wurde so eines ja noch nie vorher geschrieben. Jedenfalls ist da kein hausbackener Gedankenlyriker am Werk, sondern ein Denkmagier. Die überraschenden Wendungen, die in vielen der Gedichte zu finden sind, verhindern dort, dass Welt­schmerz­kitsch à la Xavier Naidoo (Rilkeprojekt) aufs Papier oder in den Clip (juerghalter.com) passiert.

„Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Was aber, wenn die stiften gegangen sind? „Was bleibt, / ist meine Rast­losigkeit – / ein unbewohntes Haus.“ Heideggers Sprache-als-Haus-des-Seins-Philosophem inspiriert diesen Schluss des letzten Gedichts und (mindestens) auch das Eingangs­gedicht, und wie der Seins­philosoph meinte, dass die Sprache niemand gehöre, meint Halter: „Die Liebe gehört niemandem.“

Jürg Halters Gedichte sind (allermeist) sprach­magische Klein­odien eines Skeptikers; Skepsis ist dabei nicht als „Apotheose der Ratlosigkeit“ zu verstehen, sondern, mit Odo Marquard, als „Abschied vom Prinzipiellen“. Die Rolle des Heinz Erhardt der Gegenwarts­philosophie, die Marquard ab und an, und dann vorzüglich, mimt, kann auf den Berner Dichter nicht passen – ein Transzen­denta­lbelletrist jedoch ist Jürg Halter – auf andere Art – ebenfalls. Nichts, das mich hält ist zum Konsum völlig ungeeignet, aber umso mehr eine genießbare Reparatur unserer poetischen Üblichkeiten.
Konstantin Ames    01.03.2009    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen
Konstantin Ames
Lyrik