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Kristin Vardi

Swingkids l a'ad

Im Jahr 1997 schrie mir Jitzchak zu: „Ich kann riechen, wenn der Frühling kommt.” Ich schrie zurück: „Ich kann den Winter riechen!” Mein Vater rief zu Jizchaks Vater: „Na, das passt doch schon mal ganz gut!” Unsere Eltern waren nun Nachbarn und Jitzchak mein Freund, ich war zwölf.

In einem System ohne Sinn gibt es keine Unschuld mehr. Entweder ich sage, es gibt nur eine Seite – und das sind alle. Oder ich bekenne: es gibt sehr viele. Zwei Seiten der Welt, das gibt es nicht. In einer Gegend in der jeder Platz gleich viel Wert ist, trifft man die Entscheidung, wo man stehen bleibt. Zachor! Erinnere dich! Die Natur ist Kunst. Ohne Gott.

Jitzchak sagt: „Ich muss irgendwo hin.” Ich weiß, er wird es nur dieses eine Mal sagen und nie wieder, trotzdem reagiere ich nicht. Seit wir uns kennen, haben wir die Gewohnheit, uns auf belebten Plätzen und Straßen herum­zutreiben, um alle vorbei drän­genden Leute anzusehen und den­jenigen zu finden, der so aussieht wie wir uns einander in einem anderen Alter vor­stellen. „So siehst du mit siebenunddreißig aus!” Wir finden das immer sehr witzig und werden nie müde, es zu spielen. Wir sind 24 Jahre alt. Jitzchak ist mein bester Freund.
  Wenn er anruft, sagte er nie „Hallo“, er fragt immer meinen Namen. Er hat kleine, weiße Zähne, sie stehen sehr diszi­pliniert neben­einander. Er spricht lakonisch, stolz, leise. In seiner Wohnung stehen kaum Möbel. Er sagt dazu gern: „Man muss seinen materiellen Schwanz abschneiden, er torpediert jede Flucht.” Wir kaufen Croissants und essen sie am Strand. Wir spüren, wie wir die Touristen stören. Wir gehen weiter. Auf der Strand­promenade spielt eine mittel­mäßige Hippie-Band. Wenn diese Promena­den-Bands beginnen überhand zu nehmen, bedeutet das: Der letzte Anschlag liegt schon eine Weile zurück. Ein Jahr, eineinhalb. Das ist immer das Gleiche. Wir brauchen hier alle unsere Ruhe, aber Stille wollen wir nicht. Laufen macht mich nervös. Es ist mir zu langsam. Jitzchak und ich gehen nicht gern an diesen Strand. Ich sehe mich um. Viele Menschen sind einfach nur sinnlos, denke ich. Überall bunte Urlauber. Touristinnen aus Deutschland oder England, die sich von gewöhn­lichen Trotteln aufgabeln lassen. Wir fragen sie nach Zigaret­ten. Sie behandeln uns mit bescheuer­ter Freund­lichkeit. Ja. Ja. Wir Armen. Wir mit unserem schreck­lichen Schick­sal …

In der Nacht stehe ich auf. Im Traum ist mein Mund mit Stroh ausgestopft gewesen. Ich erwache panisch und durstig, ich stolpere zur Küche. Ich trinke Wasser aus dem Hahn, neben der Spüle mache ich eine fette Schabe aus. Jetzt war also Sommer. Jetzt würden sie wieder über die Straßen hasten, unten den Cafétischen lungern. Ich bewege mich langsam, ich will nicht, dass sie weg rennt. Es ist mir lieber zu sehen, wo sie sitzt. Dann lege ich mich wieder neben Jitzchak. Es sind Feiertage, Pesach, wir haben viel Zeit. Wir schlafen nachts auf dem Balkon. Es beginnt schon, hell zu werden, aus Jaffa höre ich einen Muezzin rufen. Ich denke nach. Vielleicht werden wir heute wieder baden gehen oder mit dem Auto und unseren Freunden aus Tel Aviv raus fahren, in den Norden, und am Abend am Jordan feiern.
  Wir fahren nach Norden. Wir glauben an gar nichts, aber unsere Tradition nehmen wir ernst. Wir machen Kerzen an. Wir sprechen das Gebet, singen verlegen. Michal lamentiert. Seit einer Woche ist sie aus Indien zurück. Sie erzählt von einem Traum. Sie hat geträumt, sie sei nach Hause gekommen und es gäbe unser Land nicht mehr. Wir sind alle in Indien gewesen. Oder in Südamerika. Irgendwie haben wir alle das gleiche gesehen und erlebt. Darüber reden wir eigentlich nicht. Michal weint. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich gebe ihr etwas Kuchen und streiche ihr über den Kopf, ich sehe sie nicht an dabei. Sie strengt mich an. Nähe herstellen durch Bekenntnisse.
  Wir sind jetzt vierundzwanzig. Wir sind beim Militär gewesen, haben unsere Reisen unter­nommen. Jetzt müssen wir uns irgend­wie ent­scheiden, für irgendetwas. Wir kiffen viel und treffen uns oft. Wir wollen nicht allein sein, reden wollen wir auch nicht. Wir gehen klettern, wir nehmen den Gaskocher mit und kochen Kaffee am See oder im Wald. Manchmal gelingt es uns, einen lustigen Nach­mittag zu verleben. Wir sind vor­sichtig miteinander. Ich erzähle von einem Typen der am Strand seinen Hund verhauen hat. Ayal sagt: „Na und. Der schlägt seinen Hund, du frisst Tiere.” Ayal hat Angst, er probiert viel. Zurzeit isst er kein Fleisch. Aus Diskussionen hält er sich heraus. Wenn sie ihm zu lang werden, schreit er uns an. Was er erlebt hat, haben wir in den Nachrichten gesehen. Wenn er spricht, tut er das extrem langsam. Er ist anstrengend. Er ist unser Freund.

Mein Vater ist nach Berlin gezogen, als ich 14 war. Mutter warf ihm das vor. Warum ausgerechnet dahin!? Er erwiderte: „Mir gefällt, wie sie wohnen. Sie richten sich aufs bleiben ein.” Ich habe ihn besucht. Berlin. Alle wollen hier nach Berlin. Die Stadt ist schäbig und erhaben. Stolz. Berlin ist unschuldig. Ihr werfen wir nichts vor. Die Freunde meines Vaters waren reizbar, sie waren schlau. Sie machten sich gegenseitig traurig, glaube ich. Ich be­obach­tete Vater von der Küche aus. Er ging andauernd auf den Balkon und kaute dort unendlich lang­sam Brot, trockenes Brot, ohne Aufstrich. Er riss sich kleine Stückchen ab, kaute und starrte. Er geht verloren, dachte ich. Ich fragte ihn, ob er Mutter vermisse. Er zeigte sich verwundert. Nein, die ja nun gerade nicht. Das war vor vier Jahren. Seitdem war ich nicht mehr da. Deutsche Winter sind eine Zeitverschwendung. Eine Stadt in der Kälte, das ist doch kein Lebensraum. Es regnet, man wird nass, erniedrigt, jeden Tag.

Vater besucht uns nicht. Wir fahren zurück. Nach Tel Aviv. Wir hören laut Musik. Fahren ohne zu sehen. Landschaft, Farbe. Farbe allein. Es wird Nacht. Später in meiner Wohnung esse ich Schoko­lade, lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe, schaue auf die Straße, auf die Autos die gleichmäßig vorüber­fahren mit ihren Lichtern. Ich schlafe ein. Die Feiertage sind vorüber. Ich erwache. Das Telefon. Vor dem Haus die Geräusche der Straße, ich im abge­dunkelten Zimmer nach der Bewusst­losigkeit des Schlafes, bewe­gungs­los vor Hitze, der fie­brige Kopf im Geräusch. Verlangen nach Stille und Berührung. Alles verän­dernde Dinge hören, während dieser Körper ungerührt weiter­arbeitet. Ich empfinde Durst, Durst und die Wert­schätzung, ihn stillen zu können. Ich öffne die Balkontür. Den Wind mit der Haut fühlen. Der Vater von Jitzchak hat zu mir gesprochen. Er sagte: „ich bin in einer halben Stunde da, warte unten, ich hole dich ab.” Wir fahren nach Massada. Er erzählt mir dort, was passiert ist. Wüste, Sand, heiße Haut, Gleichgültigkeit gegen die Hitze. Blendendes Licht. Auf der Rückfahrt frage ich ihn Shimon, weißt du nicht warum? Er fährt noch schneller.
  Danach besuche ich meine Mutter. Geflieste Wohnungen. Im ganzen Land. In Berlin haben sie Dielen. Ich esse. Sie fragt immer nur. Ihre Anspannung schlägt mich. Ich gehe spazieren. Es ist eng gebaut, man hört hier viel mit. Jemand übt Geige, eine alte Männer­stimme ruft: „Alisah? Alisah?” Fenster stehen offen, Familien lassen ihr Leben hören. Ständig erschreckte Alarm­anlagen der Autos. Baulärm. Jerusalem. Tiefe alte Frauen­stimmen. Einsamkeit, Ableben. Es gibt hier kaum Bänke, man muss weiter gehen.
  Mit Jizchak war ich abends oft trinken gegan­gen. Wein, solange bis uns unsere Gespräche zu intim wurden, dann bestell­ten wir Schnaps. Wir wollten uns nicht wehtun, wir ver­suchten, alles richtig zu machen. Betrun­ken fuhr er mich dann nach Hause. Die Stadt­autobahn durch Tel Aviv, das Kas­setten­radio, die „Doors“, die abgewetzten Sitze, die leeren Cola­flaschen, der Gestank abge­rauchter Zigaretten, das stau­bige Fenster. Wir fuhren, wir konnten das.
Kristin Vardi   25.09.2010    
Kristin Vardi
Prosa