Abstiegskampf
Die Luft hängt warm und abgestanden in der kleinen Umkleidekabine. Eigentlich müsste Semmel die Fenster aufreißen, um frische Luft hereinzulassen, aber es ist ein kalter Morgen und die Jungs sollen nicht frieren. Kalte Muskeln sind der Tod, denkt Semmel weiter, besser warm als frische Luft, Sauerstoff kriegen die dann noch genug auf'm Platz. Schwerfällig steigt er in seinen Trainingsanzug, sinkt langsam auf eine der schmalen Holzbänke, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, begräbt das Gesicht in seinen großen Händen, reibt sich die Augen und schließt sie dann. Endlich Ruhe, nichts denken, einfach mal nichts mehr denken. Semmel wünscht sich das so sehr und für einen kurzen Moment gelingt es ihm, viel zu kurz, dann kommt alles zurück. Er öffnet die Augen, saugt tief die müde Luft ein und schaut sich nochmal kurz im Raum um. Alles ist sauber und bereit, Semmel schließt die Tür hinter sich und geht rüber ins Sportlerheim.
„Moin Rudi“, sagt Semmel. „Moin Semmel“, antwortet Rudi, „und, alles klar?“
„Jo, geht so, machst mir 'nen Kaffee?“
„Klar.“ Rudi drückt auf die Pumpe der Thermoskanne und füllt pflatschend eine Tasse mit Kaffee.
„Ist noch was in der Büchse, Rudi, das Schloss an der Gästekabine ist im Arsch?“ Rudi kümmert sich nebenbei ein bisschen um den Platz. Seit die Schule im Ort geschlossen wurde, gibt's hier keinen Sportunterricht mehr und damit auch kein Geld vom Amt. Die paar Mitglieder vom Motor Kleineck versuchen den Platz in Schuss zu halten und Rudi sammelt das Trinkgeld in einer alten Kaffeebüchse. „Paar Euro sind schon drin. Soll ich morgen gleich eins mitbringen?“ „Wär Klasse. Eh erst irgendwelche Idioten einsteigen...“ „Mmmh, geht klar“, brummt Rudi und stellt die Tasse vor Semmel auf den Tresen. „Haste noch einen Zucker extra für mich?“ Rudi legt wortlos noch ein Zuckertütchen neben den Kaffee. „Soll ich's noch mal auf deinen Deckel schreiben?“ „Mach mal, ich bezahl dann nach'm Spiel, Rudi, mach dir mal kein Kopp.“ Semmel weiß wie jeder hier, dass Rudi für alles zu haben ist, aber große Deckel macht er nicht. Bin keine Bank, sagt er immer, hier gibt's keinen Kredit. „Nö ist schon klar, ich mein nur, weil's halt auch einiges ist, vom letzten Sonntag noch.“ Semmel sagt nichts, der letzte Sonntag ist kein gutes Thema, und er will auch gar nicht wissen, wieviel da noch auf seinem Zettel steht. Er bezahlt eigentlich immer sofort, jeden Sonntag, wenn er hier ist, ein paar Bier, ein paar Kümmerlinge, nicht die Welt. Nur letzten Sonntag ging es mehr zur Sache. Seine Alten Herren hatten Erzfeind Langenweida mit 6:0 nach Hause geschickt. Außerdem hatte der Sigi noch einen auf sein neues Enkelkind ausgegeben. Naja, war auf jeden Fall ordentlich und als Semmel dann nach Hause gefahren ist, hat ihn die Polizei angehalten. Sonntagnachmittag in Kleineck. Nie ist hier Polizei unterwegs, aber ausgerechnet an diesem Sonntag holen sie ihn raus. 1,8 Promille. 1000 Euro Strafe und Fleppen weg, für mindestens sechs Monate. In Semmels Schädel pocht's wieder wie wild, er nippt am Kaffee und verbrennt sich die Oberlippe.
Gegen halb zehn rattern die ersten Fahrräder auf das Gelände. Immer mehr Jungs rufen laut durcheinander, lachen, boxen sich und ziehen den jeweils anderen damit auf, dass sein Bundesligaverein gestern verloren hat. Als Semmel raus tritt, fängt es gerade an zu nieseln und einige der Jungs rufen Scheiße, jetzt fängt's auch noch an zu pissen. Na und, ruft Semmel zurück, ist kein Ballettuntericht hier, los zieht euch um und dann raus zum Aufwärmen. Als letzter kommt Karsten, wie immer, er hat sein grün-weißes Trikot und die Turnhosen schon an, die Fußballschuhe baumeln an den Schnürsenkeln zusammengebunden um seinen Hals. „Morgen Trainer“, sagt er zu Semmel, „wird ein schnelles Spiel heute, bei dem nassen Rasen.“ „Naja, passt doch für dich, oder?“ Er gibt Karsten einen Klaps auf den Hinterkopf. Der Junge ist sein größtes Talent, sein Pfund im Abstiegskampf. Die B-Jugend von Motor, AK 14, ist nicht gerade ein Spitzenverein. Zu wenig Jungs mit Ballgefühl, oft viel zu hektisch und ohne Ordnung auf dem Platz. Die meisten trainiert Semmel schon seit fünf, sechs Jahren, nur Karsten nicht, der kam später dazu, weil seine Eltern erst vor einem Jahr hierher gezogen sind, aus Bremen. Karsten hat früher sogar in der Werder-Jugend gespielt und ist für Motor Kleineck eigentlich viel zu gut. Deshalb hat Semmel auch beim Jugendtrainer vom FC angerufen, er soll doch mal vorbeikommen und sich den Junge anschauen, ganz unverbindlich. Das ist jetzt drei Wochen her, gekommen ist er noch nicht. Aber vielleicht heute und obwohl Semmel den Jungen lieber hinten spielen lassen würde, weil die gegnerische Mannschaft viel stärker ist, will er Karsten heute in den Sturm stellen. Da kann er sich besser präsentieren, denkt sich Semmel und lässt die Jungs ein paar Aufwärmrunden drehen. Währenddessen kehren nacheinander Manne, Kuddel und Sigi zum Frühschoppen ins Sportlerheim ein. „Na Semmel, heute will ich aber einen Sieg sehen“, brüllt Sigi ihm noch zu, bevor er bei Rudi verschwindet. Zum Spielbeginn werden sie schon rauskommen, denkt Semmel, die lassen die Bengels nicht hängen, kann's regnen wie's will. Zwischenzeitlich ist der Regen stärker geworden und Semmel ruft die Jungs zurück in die Kabine. „Bewegt euch drinnen ein bisschen, hört bestimmt gleich auf.“ Er selber holt sich seine Regenjacke aus dem Auto, in der Jackentasche liegt noch der Plastiknippel vom Alkomat. Als er letzte Woche blasen musste, zeigte der glatt 2,0 Promille an, später auf dem Polizeirevier hatten sie dann die 1,8 amtlich festgestellt. Wahrscheinlich weil das so ewig gedauert hatte, war der Wert gesunken, jedenfalls kam er erst gegen sechs Uhr abends nach Hause und seine Frau hatte ordentlich gemeckert. Wo er denn jetzt erst herkäme, am Sonntag, und eine Fahne hätte er schon wieder und so weiter. Semmel hat nichts dazu gesagt, erst recht nicht über die Sache mit den Fleppen. Natürlich hätte sie sofort von seinem Job angefangen und wie er sich das jetzt wohl vorstellt. Semmel ist Fahrer für einen Baumarkt, und ohne Fleppen ist der Job weg, das weiß er selber und muss sich das nicht noch aufs Brot schmieren lassen. Wie stellst du dir das jetzt vor? Er hört förmlich ihre Stimme im Kopf. Wie stellst du dir das jetzt vor? Keine Ahnung, Semmel hatte keine Ahnung.
„Wir stoßen dann pünktlich 10:30 Uhr an, Herr Semmelding.“ Der Schiedsrichter, ein junger Kerl, dick und mit Schweinsnase, hat sich vor Semmel aufgebaut und schaut wissend in den Himmel. Der ist zwar immer noch grau, aber die Wolken scheinen abgeregnet. Die Jungs von Blau-Weiß Glattheide sind mittlerweile auch auf dem Platz, für sie zählt nur ein Sieg, sie spielen noch um den Aufstieg mit und Semmel spürt förmlich, wie diese Kerlchen vor Selbstbewusstsein strotzen. Den versalz ich die Suppe, denkt Semmel und geht zu den Jungs in die Kabine. „Los jetzt!“ Er klatscht auffordernd in die Hände. „Das ist unser Platz und wir machen hier das Spiel, klar. Haltet ordentlich dagegen, bleibt auf euren Positionen und spielt immer nach vorn. Karsten spielt im Sturm, Daniel, Klecks und Peer dahinter. Ihr seid alles schnelle Jungs und rennt denen ihre kümmerliche Abwehr schon übern Haufen. Peer, du bist heute wieder mein Ballack. Der Offensive, klar!“ Peer, ein Schlaks von fast einssechzig, grient dabei bis an die Ohren. Mein Ballack – Semmel weiß, dass das Flügel verleiht. „Der Rest stellt sich auf die Füße von den Blauen, klar. Wenn die mal den Ball kriegen, dürfen die keine drei Meter damit laufen.“ Diesen Satz hatte Semmel mal bei Otto Rehhagel gehört, er gefiel ihm, weil er so schön einfach war. Einfach den Gegner keinen Platz lassen, nur fit musste man dazu sein. Und seine Jungs waren fit. Semmel klatscht wieder in die Hände. „Raus jetzt!“
Tatsächlich regnet es nicht mehr, als die Schweinsnase das Spiel anpfeift. Kuddel, Manne und Sigi stehen auch da, wie dicke Salzsäulen, nur ihre Köpfe wandern dem auf und ab des Balls hinterher. Semmel kann da nicht ruhig bleiben. Er rennt in Höhe der Mittellinie hin und her, brüllt abwechselnd abspielen, rangehen oder loosschieeeß. Seine Jungs halten tatsächlich gut mit. Die Glattheider kriegen kaum einen Spielzug zusammen, beschweren sich beim Schiri über angebliche Fouls und treten dabei selber immer heftiger zu. Nach fünfzehn Minuten nützt es aber dennoch nichts, aus dem Gewühl heraus staubt ein Blau-Weißer zum 1:0 ab. „Los, nicht die Köpfe hängen lassen. Sofort auf den Ausgleich drängen“, brüllt Semmel über den Platz, Kuddel, Manne und Sigi klatschen und rufen ebenfalls: „Loooos Jungs!“ In diesem Moment bemerkt Semmel einen weiteren Zuschauer, er erkennt ihn als Falk Reinhardt, ehemaliger Zweitligaprofi und seit einiger Zeit Jugendtrainer beim FC. Also doch, Semmel ist zufrieden und treibt wieder händeklatschend seine Jungs an. Nur wenige Minuten später spannt das Netz von Blau-Weiß. Karsten hatte mustergültig Peers Pass mit der Brust gestoppt und dann aus gut fünfzehn Metern abgezogen. Eins zu Eins. Es geht munter weiter auf und ab, doch Glattheide wird stärker und schießt noch vor dem Halbzeitpfiff zwei Tore. Verdammt, Semmel tobt am Spielfeldrand, kriegt sich aber in der Kabine wieder ein und predigt noch einmal seine Auffassung. Die Jungs nicken, sind aber schon völlig verausgabt. Fast eine halbe Stunde haben sie wacker gegengehalten, und Semmel weiß, dass für die zweite Halbzeit nicht mehr viel Luft in den Lungen ist. „Wir packen das noch, ihr müsst näher rangehen und wenn ihr an den Ball kommt, schnell nach vorne damit. Die sind uns hinten meilenweit unterlegen.“ Er klappst einigen der Jungs auf die Hinterköpfe. „Holt noch mal Luft und dann mit Volldampf, klar!“ Semmel geht wieder raus auf den Platz.
„Sie sind Herr Reinhardt, nicht wahr? Ich hatte sie angerufen wegen dem Jungen. Ist er ihnen schon aufgefallen?“ Reinhardt, der jung wirkt und mit seiner Sporthose und den weißen Turnschuhen noch immer wie ein Fußballprofi in der Trainingspause aussieht, nickt. „Wenn sie den Torschützen meinen, auf jeden Fall. Interessanter Junge, keine Frage.“ Semmel schwärmt minutenlang von Karsten und wie toll der sich in so kurzer Zeit in das Team integriert hat. Währenddessen fängt es wieder stärker an zu regnen. „Wissen sie was Herr Semmelding, kommen sie mal bei uns vorbei und bringen den Jungen mit. Der könnte schon in unsere Truppe passen. Mein Großer spielt auch in der Altersklasse, das ist 'ne verschworene Bande, kann ich ihnen sagen.“ Reinhardt lacht und macht eine schwammige Bewegung in der Luft „Haben sie auch Kinder?“ Semmel nickt ausweichend „Eine Tochter, da war nie viel mit Fußball. Aber die hat jetzt auch schon zwei kleine Jungs, die zieh ich mir schon ran.“ Semmel lacht etwas zu unecht. „Wohnen nur leider drüben, in Frankfurt. Wie das so ist.“ „Jaja“, antwortet Reinhardt „die liebe Arbeit. Aber ist eben die Hauptsache, dass man welche hat.“ Semmel steigt wieder ein galliger Geschmack in den Mund. Hauptsache Arbeit, jaja, du hast gut reden. Fußballtrainer. Weiße Turnschuh. Semmel sieht an sich runter und blickt auf seine verschlammten Schuhe. Das wird nichts mehr. 52 Jahre, seit 20 Jahren Kraftfahrer und dann sind die Fleppen weg. Nur wegen dem Suff. Wie stellst du dir das jetzt vor? In Semmels Kopf brennt's wieder lichterloh. „So, geht wohl gleich weiter. Dann wünsch ich ihnen und ihren Jungs viel Glück für die zweiten 45 Minuten. Wird schon noch. Und kommen sie mit dem Karsten vorbei, Dienstag am besten, da kann er mittrainieren. Ich muss jetzt los, meine Frau wartet mit dem Mittagessen. Bis bald, Herr Semmelding, hat mich gefreut.“ Hastig läuft Reinhardt zu seinem Auto, mittlerweile regnet es wieder in Strömen.
Die beiden Mannschaften haben trotz allem schon ihre Spielhälften eingenommen und Schweinsnase pfeift schnell an. Schon im ersten Spielzug kassiert Kleineck das 4:1. Semmel brüllt fast nur noch rangehen oder aufpassen, Kuddel, Manne und Sigi sitzen derweil im Warmen bei Rudi. Nach 60 Minuten brechen alle Dämme, vom Himmel her und in der Abwehr von Motor Kleineck. Die Blau-Weißen schießen eins nach dem anderen. Schweinsnase pfeift nach 85 Minuten ab. Zwölf zu eins, die Jungs sind klatschnass und lassen die Köpfe tief hängen. „Kopf hoch, ihr habt in der ersten Halbzeit ein tolles Spiel gemacht. Da können wir nächste Woche drauf aufbauen.“ Semmel klatscht jeden einzelnen ab und gibt hier und da noch ein Einzellob mit. Aufbauen ist jetzt angesagt und schon unter den Duschen schreien und albern die Jungs wieder rum. Semmel kehrt derweil im Sportlerheim ein.
„Mach mir mal ein Bier Rudi. Und'n Kümmerling dazu.“ Sigi meint, er solle doch für jedes Gegentor einen Kümmerling ausgeben. „Ach mach'n Kopp zu Sigi. Du hast doch schon bei jedem einen genommen, oder?“ Manne und Kuddel lachen, Semmel setzt sich mit an den Stammtisch und nimmt einen langen Schluck Bier. „Ahhhh“, stöhnt er erlöst, als er das halbvolle Glas auf den Bierdeckel zurückstellt, dann holt er tief Luft „der Reinhardt war da, habt ihr gesehen. Wegen dem Karsten. Ich soll mal mit ihm vorbeikommen. War begeistert von dem Jungen.“ „Den hast du ja auch nicht trainiert“, stänkert Sigi weiter, aber diesmal fällt ihm Manne ins Wort. „Halts Maul Sigi, sei froh, dass sich jemand um die Jungs kümmert.“ „Bin ich doch“, lallt Sigi und klopft Semmel auf den nassen Rücken, „machst mir noch'n Bier, Rudi. Und vier Kümmerlinge dazu.“ Rudi brummt so etwas wie „geht klar“ hinter seinem Tresen und Manne meint, dass der Reinhardt als Spieler eher eine Schlampe war. „Hätte mehr aus sich machen können, aber war zu faul. Deshalb ist er nie über die zweite Liga hinausgekommen“, sagt er und Kuddel nickt. „Aber jetzt ist er Jugendtrainer beim FC und verdient fette Kohle. Was wird so'n Trainer kriegen? 5000 im Monat bestimmt.“ „Nie“, widerspricht Semmel, „bei den Bayern vielleicht, aber doch nicht beim FC.“ „Weißte nicht“, antwortet Manne „wird aber jedenfalls ordentlich sein.“ Rudi tischt Sigis Runde auf und tippt an Semmels mittlerweile leeres Bierglas. „Noch'n Pils, Semmel?“
„Nö, Rudi, mach mal Kasse.“
„Was jetzt schon, ist doch noch nicht mal eins“, antwortet Rudi erstaunt.
„Ja, mir ist heut nicht so. Zieh mal zusammen, ich muss dann noch was klären.“ Rudi verschwindet wieder hinter seinem Tresen, Semmel klopft mit den Fingerknöcheln kurz auf den Tisch, „Macht's gut Jungs“, und geht zu Rudi. „38,50, mit dem vom letzten Sonntag.“ Semmel reicht zwei Zwanziger rüber. „Stimmt so, Rudi. Und denk an das neue Schloss für die Gästekabine.“
Als Semmel aus der Tür tritt, fällt ihm die Heizung ein. Er geht noch mal in die Kabine zurück und dreht den Regler auf Null. Drinnen sieht's übel aus, die Jungs haben ganz schön gewütet. Die Bänke stehen schief, die Luft ist feucht und voller Schweiß. Überall liegen Erde und Grasbatzen auf dem Boden. Zwischendrin auch ein Unterhemd, Semmel hebt es auf und hängt es an einen der Hacken. Dann öffnet er das Fenster. Ein wohltuender Schwall von regengereinigter Luft strömt in die Umkleidekabine und wickelt sich um Semmels Kopf. Herrlich, denkt Semmel, schließt kurz die Augen und atmet ganz tief ein.
Lars Neuenfeld 24.06.2006
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Prosa
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