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Wann

„Ach ja, es wird alles besser...“, sagte er und verließ den Raum, die Wohnung, ihren Körper. Es wird alles besser, immer mehr und immer weniger vom anderen. Man selbst, sie selbst wird immer mehr werden, immer mehr zu dem hin, was die anderen und sie selbst als das ihre unterstellen. „Er hat das Morgen vergessen“, denkt sie sich und sperrt den Mund weit zu, dass auch niemand einbrechen kann, sich in ihr erbrechen kann. „Das sollte dich beruhigen...“, hatte er zuvor gesagt, nicht in der Stimmlage, die zur Zeitenlage gepasst hätte. Die Art, die Weise, wie der Mund aufgeht, wieder zugeht, die Lage der Stimmbänder, die Wahl oder Nichtauswahl der Wörter und Satzzeichen, alles zusammen passte sich selten den Zeitlagen an. Es hängt eher oben auf und hinten über den Rand hinaus, hat keinen Platz mehr - die Maschine gibt die Auskunft, dass es leider nicht funktioniere. Nicht so. Er hatte das Morgen vergessen zu erwähnen, denn das war ja wohl das Wichtigste - nicht wahr? Was hätte sie denn schon von einem Heute, Gestern oder Gesternheute? „Wenn du das endlich begreifst, dann...“ Der Rest, den er sagte, war schon nicht mehr in ihren Körper gedrungen. Sie spürte es nicht einmal. Aber das war eben auch nicht mehr wichtig. Der Anfang war der Ausschlag. Sie kehrte aus sich heraus in das Gemeinsame zurück, zog sich die Handschuhe aus, erschrak vor der Berührung, die ihre Haut aufätzte und fasste alles an, was sie mit morgen verband. Sie wollte ja begreifen. Sie hinterließ Blutspuren von ihren Händen ohne Haut. Bald waren sie taub. Wieder konnte sie nicht begreifen. „Vielleicht ein anderes Wort?“, dachte sie. Aber da hatte er schon gesagt, dass sie sich morgen wieder hören würden. Die Zungenklappe fiel nach unten. Sie kam zurück, an den Händen weißes Leinen gebunden und entband sich wieder des Versuchs, denn sie hatte ja keine Zeit mehr neben den Salben, den Seitensalben, die sie sich auf die Hände ohne Haut schmierte. Tage vergingen. Sie hörte die Türe gehen. „Warum hast du dich nicht gemeldet?“, schrie er aus den Pfosten hervor, so laut, dass sie sich kaum mehr halten konnte, sie auf den Fußsohlen zum Stand aufkam. Ganz hart, ganz ohne Pfoten. Er brach aus den Pfosten heraus, brach sie in der Mitte durch und sagte, es täte ihm leid, denn er würde ja morgen alles wieder ins Reine, ins Ganze bringen. Sie sah ihn nur an, viel mehr an ihm vorbei und traute sich nicht ihm zu sagen, dass sie noch immer nicht begriffen hatte, was er damit meinte. Wie ginge das denn eigentlich? Mund auf und zu, Zähne, Lippen - gleich zwei davon, Zunge - Stunden waren vergangen. Sie hatte die Türe nicht weggehen hören. Stille. Das Telefon unterbrach sie und zerbrach ihre Gedanken, die klirrend vor ihre Füße fielen. Eilig glaubte sie alles wieder in Ordnung zu bringen, zuerst versuchte sie alles wieder zusammen zu setzen, in sich zu setzen, aber das Verbindende zerlief unter ihren Leinenhänden. Das Blut sickerte durch. Das Telefon meldete sich ein zweites Mal. Dann sammelte sie mit Zitterhänden die einzelnen Teile ein, suchte einen Korpus dafür. „Du musst es nur hineinlegen“, dachte sie, während sie es versuchte, die Handlung dafür suchte. Minuten vergingen. Ein drittes Mal hörte sie das Telefon. Und jetzt lief sie, beeilte sich ohne Rücksicht es zu erreichen, bevor es wieder zu Ende ging. Sie stolperte, fiel, stand auf, streckte den Arm aus, nahm den Hörer und horchte auf. „Du bist ja nie da, oder?“ Blitze, Verbindungen, schnell denken, verknüpfen. Die Frage stieß sie auf den Sessel, drückte sie nieder, dem Anfang hin zu. Das Übel. „Bist du noch da?“, fragte er durch die Leitung hindurch und überflutete die Informationsstränge, brachte sie zum Implodieren, so dass sie vom Lärm für kurze Zeit nur ein Summen in den Ohrhöhlen hatte, bis es sich auflöste - in Sekunden. Überlappende weiße Leinenfetzen. „Ja doch... Gestern war ich nicht da und heute habe ich keine Zeit. Ruf doch morgen wieder an, ja?“ Das Blut hatte Krusten gemacht, die sie sich nun von der Haut brechen konnte. Sie hatte ja Zeit.

Maria Seisenbacher

Maria Seisenbacher
Prosa
Lyrik