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Martin Lechner

Abschließender Bericht von Land



Von den Kühen muss berichtet werden, von ihren Blicken, die reglos betrachten, wer sie da betrachtet, inmitten der Wilstermarscher Ödnis, von ihrem Atem muss berichtet werden, dem unsichtbaren Atem, der die Euter schaukeln lässt, von den Aderläufen auf den Eutern, von ihrer Reglosigkeit angesichts des tanzenden, des singenden, des klingelnden Betrachters, den sie betrachten, den sie betrachtenden Betrachter, der eine Predigt hält, weil sie lediglich die Schnauze in seine Richtung lenken, und weiter nichts, eine Predigt über den Puls, Bumm Bumm Bumm geht der Puls, eine Predigt, dass ihr, die ihr da vor mir steht mit dicken Leibern, dass ihr euch nicht, die ihr da meine Stimme höret, dass ihr euch nicht, durch nichts und erst recht durch meine Stimme nicht, anstacheln lasset zu einer Flucht, die da möge betrachtet werden, lasset bloß ruhig die Luft durch eure Schnauzlöcher fahren, hinein fahre sie und hinaus fahre sie, und reglos, bleibet mir reglos, bei Tage und in der Finsternis, und wenn es gelingt, auch ohne zu atmen, denn auch die Luft ist ein Teil der Körper, die vom Sirren der Leitungen gefüllte Luft genauso wie die Luft aus dem Munde des Betrachters, der den Kopf abdreht und den Atem nach hinten wegbläst, damit sie ihn nicht einatmen, die Kühe, seinen Atem, ihn hineinsaugen in ihre schwarzen Leiber, denn da will er nicht hinein, ja, auch davon muss berichtet werden, davon, dass er fort will, zurück will, ins Haus zurück, dahin, wohin sie ihm nicht folgen dürfen, nicht mal in den Flur dürfen sie, nicht mal eine, eine einzige Kuh, geschweige denn die Treppen hoch bis unters Dach, wo das Bett steht, das uferlose, allein beschlafene Ehebett, denn das Ehebett ist uferlos und wird allein beschlafen und es bricht zusammen, wenn sich die Kuh, die ihm heimlich, obwohl noch Haus­hälterin Keyn, die das Haus zusammen­hält vom Keller bis zum Dach, obwohl Frau Keyn noch sagte, störe ihn nicht, sage ich, sonst gibt es Ärger mit der Akademie, doch gefolgt ist, heimlich ist sie ihm gefolgt, die Kuh, durch den Flur über die Treppen bis ins Bett, das zusammen­bricht, wenn sie zur Seite kippt, auf die nachttischlampenlose Seite des Ehebetts, das doch nicht zusammen­bricht und standhält, obwohl ihr Leib bald einen Meter in die Höhe ragt und den Blick versperrt, durch das Fenster auf die Kräne der Werft, wo tagelang auf Metall geschlagen wird, von den Arbeitern aus Polen, den Arbeitern aus Serbien, Bumm, Bumm, Bumm geht der Hammer, tagelang, nächtelang, Bumm, Bumm, Bumm geht die Werft, geht das Schiff, das immer weiter wächst und schon bald die Wasser verdrängt, mit stampfenden Motoren, das wachsende Schiff, die wachsende Brücke, der hohl hallende Laderaum und die langsam in die Tiefe tauchenden Kabinen unter Platten aus Metall, Bumm, Bumm, Bumm geht der Schlag, bis wir im Finsteren hocken, hinter der Haltestelle, wo mittags ein Bus anhält, ein Bus voll schreiender Schüler, der den Ort verlässt, der den Ort erreicht, am Mittag, wenn der Marder seine Möbel rückt, denn auch von dem Marder muss berichtet werden, auch wenn er unterwegs war, von Oktober bis November in geheimer Mission, denn jetzt rückt wieder seine Möbel, mittags hinter den Wänden und morgens unter dem Dach, unentwegt rückt er seine Möbel, morgens, abends, nachts, um die Löcher frei­zulegen, um mich im Auge zu behalten, jede meiner Bewegungen, auch davon muss berichtet werden, sage ich, auch davon muss die Akademie in Kenntnis gesetzt werden, dass einer, der hier was zu schreiben hat, unter Beobachtung steht, unter ständiger Beobachtung, ich sag es der Kuh ins Gesicht, diesen Marder werde ich nicht verschweigen, denn ob ich sitze oder stehe, stets hat er mich im Auge und deshalb darf ich ihn nicht verschweigen, sage ich, den Marder so wenig wie dich, die du mir den Weg versperrst, über die Treppe durch die Küche und hinaus an die Luft, die voller Schläge ist, Bumm, Bumm, Bumm geht der Hammer, bis zum Abend, bis wir bei Herrn Wölk vor dem Laden stehn und Bier aus Büchsen trinken, so lang, bis wir ins Schlupfloch schlüpfen, während die anderen weiter auf das Schiff einschlagen, immer fester schlagen sie, damit es endlich zu Wasser geht, Stapellauf, und die Stör hinunter in die Elbe, und die Elbe hinauf in die Nordsee, hinaus in den Atlantik, wo es schaukelt und donnert und spritzt, wenn die Wellen die Brücke überspülen, wenn geschwin­delt wird unter Deck, in den tiefsten Kabinen, gleich hinter dem Lagerraum, wo mir nichts mehr übrig bleibt, als nur zu sagen, lass mich, ach lass mich doch, lass mich auf deinem Rücken bleiben, sitzen bleiben, denn sitzen ist besser als stehen, sage ich und halte die Kuh bei den Ohren, damit sie mir nicht, wenn ich zu Boden gehe vor lauter Schwindel, die Stirn eintritt, mit den Hufen die Brust zertrümmert, Bumm, Bumm, Bumm macht der Huf, so laut, dass die Quallen unter dem Kiel zur Seite schweben, abwärts ins finstere Tal, oder aufwärts in die krachende See, Bumm, Bumm, Bumm macht der Huf, macht der Hammer, macht der Kopf auf dem Tisch, weil das Geld nicht reicht, denn nur für Geld steigt die Qualle die Treppe hinauf und hinunter bis nach Serbien, hinüber bis nach Polen und hinauf in den Himmel, Bumm, Bumm, Bumm, und wir haben ein Glas im Gesicht, Sankt Marga­rethe, Sankt Marga­rethe, brenn mir den Magen aus, oh, du Heilige, du Bittere, verfeuere das Futter zu neuem Schwung, lasse den Hammer schwingen und auch die Hufe, hier inmitten der Sprödnis, auf dem Weg durch die Blomesche Wildnis, wenn Sternflocken in die Finsternis fallen, wenn du auf dem Rücken sitzt und multiplizierst, denn das kann ich noch, fünf mal fünf, das weiß ich noch, und sechs mal fünf sind dreißig, auch hier zwischen den finsteren Deichen, und ich rechne weiter, denn ich fürchte mich und ich fürchte mich nicht, und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, hier in der Wilstermarscher Blödnis, oh Sankt Marga­rethe, auf dem Weg nach Uhrendorf, wo der Puls zur Ruhe kommt, Bumm, Bumm, Bumm geht der Puls, geht die Runde, die große Ruhe, siebzig Minuten zu Fuß und neunzig auf dem Rücken der Kuh, denn sie bewegt sich doch, wenn auch reglos, und auch ich bewege mich, wenn auch nur auf ihrem Rücken, und ich komme nie mehr zurück, ins Haus zurück, obwohl ich doch, obwohl mich doch die Akademie befragen wird, was haben sie getan, wird sie fragen, ruft Frau Keyn mit den Händen als Trichter vor dem Mund, aber die große Runde dauert siebzig Minuten zu Fuß und neunzig auf dem Rücken der Kuh, und zehn mal zehn sind hundert, und hundertzwanzig zwölf mal zehn, das kann ich noch, das weiß ich noch, das ist der Umweg über den Dorfrand, die frisch ins Feld gefressene Straße, vorbei an leuchtenden Fenstern, lebendig gefüllten Häusern, den drei mal vier gleich zwölf mit Leben gefüllten Häusern, in denen nichts mangeln wird, nichts, und auch mir wird nichts mangeln, denn du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, und du lässt den Kronkorken knallen, sobald der Tag erloschen ist, Sankt Marga­rethe, Sankt Marga­rethe, brenn mir den Magen aus, hier auf der Straße und hier unter Deck, unter Wasser, unter dem schaukelnden Licht, hin- und hergeworfen von schwarzen Wellen, von weißer Gischt, die über die Decke spritzt, wenn die Kronkorken knallen, hier auf dem Sofa, mit dem Kind und der Frau und den Augen in der Kiste, die flimmernd den Tag verschlingt, so lang, bis Sternflocken über den Bildschirm wehen und vergehen auf der schwarzen, der schaukelnden See, bis der Atem aus der Schnauze fährt, gegen das Fenster, die leuchtende Scheibe, durch die wir sie betrachten, denn wir sind die Frau und das Kind und der Mann mit dem Gewehr, denn wer ein Haus hat, der hat auch ein Gewehr, eine Flinte für Schrot und für Kugeln eine Büchse, oder für beides die Doppelläufige, eine Bockbüchsflinte, denn damit kann ich beides schießen, Kugeln und Schrot, und Hasen jagen wie Rehe, Wildschweine wie Kühe, und jetzt, meine Liebe, lösche die Lichter und öffne das Fenster, denn bei der ersten Berührung pilzt mein Geschoss auf, und die erste Berührung ist die mit dem Leib, und das Geschoss pilzt auf und der Tod tritt ein, doch die Kugel fliegt weiter, fünf Kilometer weit über die finsteren Felder, und sie kommt aus dem Inneren, aus unserem dunklen Haus kommt die Kugel, denn vielleicht ist jetzt in uns allen eine unbändige Lust, uns gegenseitig herunterzureißen, hoppe hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, denn wir haben alle unerhört gesündigt, obwohl sich keiner zu sagen vermag, inwiefern, und doch bist du da und du schenkest mir voll ein, Sankt Marga­rethe, Sankt Marga­rethe, du Wilstermärscher Brand, versetz mich in Bewegung, damit ich zurückkomme, denn ich komme niemals wieder zurück, ins Haus zurück, unters Dach zurück, ins Bett, mein Junge, ruft Frau Keyn aus dem Fenster, dort gibt es Zitronenkuchen und ein Glas Spitz­wegerich mit Flieder­beer­saft, was soll die Akademie sagen, wenn Sie den ganzen Tag herumreiten, wo bleibt Ihre Glaub­würdig­keit, aber hätte ich es auf Glaubwürdigkeit angelegt, wie der flüsternde Kollege im ersten Stock, oder wie der gebeutelte, der brutzelnde Kollege im Erdgeschoss, dann wäre ich im Bett geblieben, ja, auch davon muss berichtet werden, denn statt auf Glaubwürdigkeit haben wir es auf Unglaubwürdigkeit angelegt, selbst im Bett, und wir liegen bis mittags in den Puppen, denn liegen ist besser als sitzen, hier im Ehebett, in das früher die Kotmaden des Marders rieselten, hinein ins Gesicht einer jungen Frau, ja, genau hier hin, wo jetzt gelöffelt wird, Rücken an Bauch und die Kuh mag es auch, und draußen fallen die Nüsse vom Baum, und der Wind blättert die Dachpfannen durch, und Frau Keyn sagt, wenn du nicht erkannt werden willst, dann musst du dich verkleiden, mit einem Schnauzbart im Gesicht und einer Perücke auf dem Kopf, dann erkennt dich niemand, keine Sau und erst recht nicht der Kapitän, der schon das Schiff besteigen will, auf das immer noch geschlagen wird, tagelang, nächtelang, immer schneller schlagen sie und schon bald gleitet es über die Stör, das große Schiff, über die Elbe bis raus in die See, und schon bald wird es hin- und her geworfen, mit festgezurrter Fracht und einem blinden Passagier, gleich hinter dem Frachtraum, wo wir schwin­deln und spucken, denn wer Seenot hat, darf schwin­deln und spucken, und spuken darf er auch, einerlei ob unter Deck oder auf der Qualle, wenn das Geld reicht, denn einmal im Monat reicht das Geld für die Treppen und die Qualle und den Himmel, Bumm, Bumm, Bumm, und ein jeder von uns ein Glas im Gesicht, oh Sankt Marga­rethe, Sankt Marga­rethe, versetz mich in Schwung und lass mich in Ruhe eine Runde reiten, die letzte Runde über Uhrendorf und niemals zurück ins Haus, zurück ins Bett, das fortlaufend betrachtet wird, belauert wird, denn das Bett wird belauert, so wie das ganze Haus, immerfort, fürchte ich, betrachtet mich jemand, durch die Löcher im Dach vielleicht, vielleicht der Marder, immerfort, fürchte ich, ist jemand hinter mir und unter mir und neben mir, große, glänzende Kuhaugen, nur vor mir, da ist niemand, auch wenn ich mich herumdrehe, ist niemand da, und doch spüre ich einen Lufthauch von An­we­sen­heit, und ich stocke den Atem, denn auch die Luft ist ein Teil der Körper, die vom Flüstern des mittleren Kollegen und die vom Brutzeln des untersten Kollegen angefüllte Luft, genauso wie die Luft aus dem Munde des Betrachters, der den Kopf abdreht, lauter Luft, in die Lungen gezogene Lüfte, ausgestoßene Wölkchen, in denen Anwe­sen­heiten lau­ern, wolkenartige Nebel, die die Straße ver­schlucken, das Haus und die Häuser und dann das ganze Dorf, ich sehe es durch das Bullauge, nur die Spitzen der Dächer gucken noch aus dem Nebel, selbst die Ufer sind schon verschluckt, und wir gleiten ins Wasser, die Stör hinunter in die Elbe, und die Elbe hinauf in die Nordsee, doch ich fürchte kein Unglück, denn du bist bei mir, Sankt Marga­rethe, du heilige Bitternis, und ich vermisse alles und jeden.

Zuerst erschienen in Edit Nr. 46 | © Martin Lechner

Martin Lechner   09.08.2009    
Martin Lechner
Prosa