POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
Ein spätes Gedicht

Der Tag geht zuende, stößt
zwei schlaffe Brüste
& ein Mädchen von sich, zwischen uns
die üblichen Kneipentragödien, jeder Satz
hat trunkene Augen.

Doch in diesem Gedicht
gibt es keine Schließzeit.

Die Flasche wird noch immer
herumgereicht. Sie geht von Zeile
zu Zeile, von Zäsur zu
Zäsur, & bei jedem Umbruch
nimmst du
einen kräftigen Schluck.

Doch Vorsicht: in Zeile 14 liegt ein Mann im Gras
& schreit nach seiner Frau. Die Kinder
werden später nach ihm suchen, sie werden
über den Schutt
über die Böschung
über die Blattkante steigen, sie werden
ihn nicht finden & morgen
in der Schule fehlen, Mama schreibt
die Entschuldigung.

Es ist Mitternacht. Vor der Bahnhofshalle
schlafen Metaphern
in Kinderwagen, ohne Zukunft
ohne Verwendung, ich habe sie
hier abgestellt,

mir steht nicht der Sinn nach
bildhaften Vergleichen. & die Muse
ist eine schlechte Mutter.

Denn ich bin ein schlechter Poet. Ich hätte
Zahnarzt werden sollen
oder Rechtsanwalt, auf dem Konto
eine reiche Sprache, in der Garage
einen Fuhrpark Sinnlichkeit, du hättest
dich in schöne Hülsen gehüllt, wir würden
viele Zitate vererben, wir besäßen
ein prachtvolles Ideengebäude & davor spielten
blumige Kinder.

Aber da ist nichts
fernab von Kiez & lausigen Eckkneipen. Du
wirst alt, immer wieder
in diesen Milieutexten, du trägst Falten
(zu viel MAKE- UP), & damit du es weißt: ich habe
dich gestern bestohlen, habe eine Sentenz
aus deinem Haar gekämmt („Jeder ist seines
Glückes Schmied“), & sie machte mir Angst,
sie taugte absolut nichts, nicht
für dieses Gedicht.

& ich habe dich über. Ich will
dich woanders berühren, ich schreibe
dich schön. Du wirst
dezent angemalt, ausgestattet
mit sexuellen Reizen, ich will dich
verführen (die Träger rutschen
von der Schulter, ich ahne
deine Brüste), & Sappho die Schlampe
steigt mit uns ins Bett, komm,

auch ich will schöner werden, ich brauche
einen neuen Arsch, eine neue Dichtung, mein Bauch
mein Korpus
wird fetter, ich brauche deinen Mund
ein neues Genre (zu viel Müll
im Hinterhof, der Hausmeister
ist gestern verstorben).

Wir züchten
Biedermeierblumen. Ein Idyll
auf dem Balkon, wo der Blick hinab
versperrt ist, wo wir
von fernen Vegetationen träumen,

wir sind Rucksacktouristen in
fremden Texten,

& wir nehmen alles mit, was wir
gebrauchen können:

die Worte die Aufruhr
die Jahre, die uns fehlen
& die Menschen, die uns
nie begegnen.

Mirko Wenig      16.11.2006

Mirko Wenig
Lyrik