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Patrick Gorre
Wege
Das erste Mal, das ich ging, kam ich nicht weit. Die Stämme der Fichten standen eng beieinander, dazwischen sperrten ihre spitzen, trockenen Äste den Weg. Brombeeren wuchsen in eine zweite Richtung, legten ihre stacheltragenden Ranken aus. Ich ging einen Schritt in einer dritte Richtung und fing mich in einer Wurzelschlinge, die unter dem Kraut versteckt war. Wieder in eine andere Richtung wuchsen zarte blauen Blumen, so dicht, dass ich keinen Fuß zwischen sie zu setzen wagte. Ein jahrhunderthoher Baum lag umgestürzt, seine weit ragende Krone trug noch die Blätter des Sommers. Ein kleiner Bach rauschte im Grund, die Böschung steil und bröckelnd. Der Boden unter dem Gras war schwarz und weich, saugte die Füße ein. Eine Schlüchte zu tief zum Springen, ein dunkles Grunzen, vielleicht von einem Wildschwein, ein Fluss zu breit zum Schwimmen, ein Mückengewölke, eine Felswand glatt und haltlos.

Ich entdeckte, dass manchmal ein Ast fehlte, abgebrochen längst, konnte, wenn ein Stamm zu hoch gewachsen war, unter dem Gezweig hindurch­gehen. Ich lernte Ranken vorsichtig zu biegen, wand mich gerade so vorbei an den Stacheln. Rehe, Hirsche gingen zwischen den blauen Blumen, ich nahm den selben Pfad. Auf Grasbüscheln, die wie winzige Berge aus dem Boden ragten, konnte ich im Sumpf gehen, jeden Hügel prüfte ich zuvor mit einem Fuß, während ich mit dem anderen fest stand. In die Schlüchte führte eine kleinere hinunter, eine andere drüben hinauf, im Fluss fand ich eine Furt. Ich wartete bis zum Morgen, und die Mücken verschwanden, ich sah kleine Spalten im Fels, groß genug, mich festzuhalten. Mit der Zeit lernte ich, die Tritte zu sehen, lernte, einen Weg mit den Augen zu gehen. Ich kam voran, nicht schnell, nicht geradeaus, ich ging meinen Weg mäandernd wie ein Bach, oft auch ganz zurück, und doch kam ich voran, an manchen Tagen ein gutes Stück, an anderen kaum ein paar Schritte. Manchmal mochte ich es, wenn ich Tage brauchte, auf einen Fels zu klettern, das Gefühl, nicht weiter zu können, lähmte mich zu anderen Zeiten.

Ich begann, mir die Wege zu merken. Unter den hellen Buchen bog ich nach links, am einzeln stehenden Sumpfporst halbrechts, an der Gruppe der sich drängenden Pilze, nicht an der ersten oder der zweiten, sondern an der dritten, der einzeln stehende Pilz galt nichts, Ausschau halten nach dem seltsam gekrümmten Ast, nicht dort im hellsten Sonnengrün entlang, nein da, wo sich ein Durchkommen erst im Davorstehen zeigt, und nicht mehr weit war es an der Kiefer mit den zwei Füßen, hier, wo in kleinen Trichtern im Sand die Libellenlarven lauerten, führte ein schmaler Pfad zur anderen Seite des Felsens, wo ich das Nest der Falken hören konnte, unter dem anderen Felsen, der, wenn ich unter der hohen Fichte stand, aussah wie ein Gesicht, dort lag, hinter einem Felssturz verborgen, eine Höhle, eine Spalte eher, das Ende dunkel, doch über mir war der Ausstieg, das Lichteck verborgen von einer Biegung.

Hohe Felswände schützten den Berg, den ich den Langen nannte, auf drei Seiten, auf der vierten hatte ich einen Weg im Bett eines Bachs gefunden, der nur nach Regentagen Wasser führte, diesen Weg ging ich, hinauf zum Gipfel und hinab ins Tal. Ein Buchenwald bedeckte den Gipfel, ihre Kronen versperrten die Sicht in die Ferne. Ich begann mir andere Wege zu suchen, von unten, von oben, oft endeten sie an einem Felssturz, doch einige trafen sich in der Mitte. Einer führte in Serpentinen unter Birken den Hang hinauf, ein anderer im Tannenwald fast geradeaus, einen dritten entdeckte ich auf einer sumpfigen Wiese, ein vierter verband die drei Wege. Später fand ich auch Wege in den Felswänden, in versteckten Schlüchten, in Spalten, oder außen auf dem Fels, mich hangelnd von Tritt zu Griff. Einige kann ich nur in eine Richtung gehen, viele nur, wenn es hell ist, einige nicht zu der kältesten Zeit, am Morgen, einen, der über einen Grat führt, nur, wenn es Nacht ist. Etwas Regen auf einem Weg genügt, dass ich ihn den Tag nicht gehen kann, etwas Schnee versperrt einen Weg den ganzen Winter. Oft geschieht es, dass ein Halt aus einem Felsen bröckelt, dass ein alter Baum knickt, dass ein Hang abrutscht, dass ein Bach die Ufer mitreißt, dass sich ein Fluss ein neues Bett sucht, dass eine Felswand einstürzt, dass ein Berg auseinander bricht. Nicht lang hält ein Weg, und immer muss ich neue suchen, doch für eine Zeit geben sie mir Gewissheit.

Viele Wege habe ich gefunden, und viele finde ich noch, aber ich weiß, dass die Zahl der Wege im Gebirge so groß ist, dass ich nie alle gehen werde. Manchmal sehe ich einen Hirsch, ein Reh, sie fliehen auf Wegen, die ich nicht folgen kann, sehe einen Bilch, der sich auf Wegen versteckt, die ich nicht erkennen kann. Ich höre das Hämmern eines Spechts an einem Stamm, sehe die goldene Flechte am nackten Felsen, eine Gämse auf einem Sporn, sehe eine Birke, die sich an ein Felsriff krallt. Jedes Wesen hat seine Wege, kaum sichtbar für die anderen. Kein Ort ist im Gebirge, der nicht Weg sein kann. Ich versuchte die Vorstellung, ein anderer zu sein, und andere Wege zu gehen, aber es gelang mir nicht, mich weiter als einen Schritt von meinen Wegen zu entfernen.

Manchmal kommt mir der Gedanke, einen Ast über einen Bach zu legen, eine Stufe in den Fels zu schlagen, eine Leiter aufzustellen, einen Baum zu fällen. Ich weiß nicht, wie lange ich dem Gedanken noch widerstehen kann.

Mai 2008

Patrick Gorre    17.02.2009     Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen
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