Mit „Skeptische Zärtlichkeit. Junge deutschsprachige Lyrik“ legen Ulf Großmann und Axel Helbig als Herausgeber (gleichzeitig auch Redakteure der Zeitschrift für Literatur und Kunst, Ostragehege) einen Band vor, der an einen Versuch anknüpft, die aktuelle Lyrikszene zu beleuchten. Es handelt sich um Kurt Drawerts Sammlung „Lagebesprechung“, einen kleinen, vor acht Jahren bei Suhrkamp erschienenen Band. Beide, Drawerts wie die neue im Leipziger Literaturverlag edierte Publikation: ein Unterfangen, mutig gegen den Mainstream gestellt. Denn: Wie im Vorwort zum 29 Beispiele umfassenden Material vermerkt, besteht eine Diskrepanz in der großen Zahl von ernsthaft um eigene Lyrik bemühter Autoren (sie belaufe sich auf ca. 50 000) und den ca. 500 Lesern, die einen Lyrikband käuflich tatsächlich erwerben, und zwar auch nur den besten eines betreffenden Jahrgangs. Die durchaus ironisch angelegte Nützlichkeitsthese kennzeichnet die Außenseiter-Situation von Poesie in gleichem Maße: „… neben den Literaturforschern dürften zumindest noch die Verhaltensforscher und Soziologen ihr Brot mit der Lyrik verdienen können.“ – Folgerichtig: das Motto zur vorliegenden Publikation: „Den unentwegten Lesern deutscher Lyrik“. In Deutschland führt Lyrik ein Dasein im Schatten des heiß umkämpften Nimbus um den Bestseller-Platz, der in aller Regel Romanen und Monographien zukommt. Wie der im neuen Band vertretene Udo Grashoff sagt, ist Poesie „etwas, das ich nicht definieren kann“, ganz im Sinne Gerhart Falkners, der das Phänomen wie folgt expliziert: „Wir wissen nichts vom Gedicht.“ Denn es ist mit der ureigenen Erfahrungswelt eines Ichs verbunden. Mit seinem poetischen Text legt es doch nur immer einen Blitz seiner Innenschau frei. So sind es neben Kurt Drawert einige Kennerinnen und Kenner der Szene, die die junge deutschsprachige Lyrik in den Fokus der Betrachtung (Autorinnen und Autoren mit dem Geburtsjahr von 1951 bis 1983) rücken: Brigitte Oleschinski, Jan Wagner, Björn Kuhligk, Ron Winkler, Hendrik Jackson und Helwig Brunner, zumeist selbst ausgewiesene Dichter. Eröffnet wird der Zyklus mit dem Beispiel Dorothea Grünzweigs. Eine gute Entscheidung. Interessanterweise ist diese Autorin neben dem deutschen auch mit dem finnischen Thema befasst. Ihr Devise: „Früher gab es zwei Sprachen. Die Allerweltssprache – und die heilige Sprache. Die Allerweltssprache … war vielfältig, würzig, Übermut auslösend und fasslich. … Die Worte der heiligen Sprache waren Berge“. Mit Grünzweig wird der Leitgedanke von sacrum und profanum in die Debatte geworfen. Eine Größe, um die man sich sicher in Zukunft stärker zu kümmern hat. Denn in diesem Bezirk wohnen die Lebensgeister, die – letztlich – zu den verborgenen, indessen tatsächlich wichtigen Boten zählen. Zu studieren sind nun die Texte junger Begabungen, ob nun als kassiberhafte fachsprachen Ulf Stolterfohts oder als Gedichte „im Unterschied zu allem bisher Produzierten“, wie René Hamann es apostrophiert. Mit Marcus Poettler sind es Verse, orientiert am Vogelsang, mit Uljana Wolf sagen sie, „was ich nicht zu sagen habe …, was nicht ich zu sagen habe“. Nora Bossong spricht von einer Hilfskonstruktion, „die das Ich davor bewahrt, in sich zusammen zu stürzen“. Am Ende nimmt sich Ron Winkler der Autorin Sonja Harter an. Mit dem Blick auf die Art ihres Dichtens, benennt er, was gleichsam für alle gilt: „… kühle, menagerie, manege / der möglichkeit auf mindestens / etwas // das kurze aufleuchten, aufflüstern / von präsenz“ („Über mit S. H.“). Die Lyrik geht ihren ureigenen Weg. Mit den Worten von Jayne-Ann Igel in der Nachbemerkung: „… endgültig vorbei scheint die Zeit klarer und chronologisch sich fortschreibender Traditionslinien und Anknüpfungspunkte.“ Insgesamt trifft der Leser auf Texte, die einen gewichtigen Teil der Situation demonstrieren, auf das Myzel eines Ingeniums, das form- und sinnbildend wirkt, Zeugnisse für Konzentration und Leichtigkeit, die sich am Zungen- und Begriffsgrund formen und über die das große Getümmel des Buchmarktes ohne langes Verweilen hinweg steigt. Insofern gebührt den Editoren Anerkennung und Dank.
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Peter Gehrisch
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