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Septemberlicht

Wenn es in den Sommernächten zu heiß war, um zu schlafen, fuhren wir mit den Rädern runter an den Fluss und legten uns nackt ins Gras, keine zehn Meter von der Stelle entfernt, wo der alte Bootssteg ins dunkle Wasser ragt. Tagsüber knirschten die alten Planken nur ein bisschen, wenn man über den Steg ging, aber nachts krachte es jedes Mal, wenn deine nackten Füße auf den Brettern aufsetzten und du dich am Ende des Stegs kopfüber in die Dunkelheit warfst, und das obwohl du wusstest, dass sich der Fluss zu Zeiten in sein Bett zurückzieht und nur eine knietiefe Lache in Ufernähe hinterlässt, aber du warst am Fluss aufgewachsen und hattest es im Gefühl, wann man einen Sprung wagen konnte. Später folgte ich deinem rotflackernden Rücklicht durch den Wald, du kanntest ja alle Wege und Querverbindungen seit deiner Kindheit, und manchmal machtest du dir einen Spaß daraus, dich im Unterholz zu verstecken und mich an der nächsten Wegbiegung nach dir rufen zu lassen, und erst, wenn du einen Anflug echter Angst in meiner Stimme zu hören glaubtest, kamst du aus dem Gehölz gesprungen und nahmst mich von hinten in die Arme, und ich erinnere mich, wie es war, deinen Atem an meinem Hals und deinen Herzschlag wie ein aufgeregtes kleines Tier an meinem Rücken zu spüren, und ich erinnere mich auch, dass wir schon nach ein paar Stunden Schlaf wieder hellwach waren, auf den Rädern saßen und erneut zum Fluss fuhren, um dort im Schatten der Bäume zu liegen, bis uns die lärmenden Menschenmassen mit ihren Luftmatratzen und Holzkohlegrills vertrieben - eine Erinnerung, die so gar nicht mehr an diesen Ort passen will, denn heute ist hier nur ein glückloser Angler zu sehen, der nahe beim Ufer im Fluss steht und alle paar Minuten, wenn ich zu ihm hinübersehe, einen kleinen Fisch kopfschüttelnd zurück ins Wasser wirft. Der Wind kämmt den Fluss im späten Septemberlicht, gelbe Blätter und kleine Äste treiben vorbei, und ich merke zum ersten Mal, dass die Tage schon bedeutend kürzer geworden sind. Ich werde den Reißverschluss der Windjacke bis unters Kinn zuziehen müssen, wenn ich nachher mit dem Rad nach Hause fahre.
        Nachhausekommen bedeutet für mich immer noch, zuerst über deine Schuhe im Flur zu stolpern und mich dann über die ungespülten Tassen mit den hartnäckigen Teerändern in der Küche zu ärgern, aber letzte Woche habe ich dich nach einer halben Flasche Chianti verflucht und eine Anzeige aufgegeben. Umständehalber abzugeben, hatte ich in die Anzeige geschrieben, aber der Mann, der noch am selben Tag mit der Zeitung unterm Arm vor der Tür stand, interessierte sich natürlich nicht für die Umstände, sondern nur dafür, wie er den Preis drücken konnte. Meinen als Verhandlungssache angegebenen Spielraum nannte er illusorisch und erklärte mir, dass er bereits das Nachfolgemodell für weniger als die Hälfte neuwertig im Laden bekommen könne. Wir standen eine Weile unschlüssig herum, und schließlich sagte ich ihm, dass ich mich getäuscht hätte, das Fahrrad sei nämlich gar nicht zu verkaufen, und noch bevor er irgendetwas erwidern konnte, habe ich ihn kurzerhand rausgeworfen.
        Jeden Morgen versuche ich vergeblich zu begreifen, welche der nächtlichen Bilder noch der Erinnerung entsprungen sind und welche schon dem Traum zuzurechnen waren. Schwarzer Kaffee und zwei Zigaretten nach dem Aufstehen, um den Darm auf Touren zu bringen, der sich nur noch widerwillig entleert, und danach sitze ich den ganzen Vormittag über rauchend am Küchentisch und denke an Frauennamen, die ich nie aus deinem Mund gehört habe. Vielleicht wäre es ja tatsächlich einfacher gewesen, von Zeit zu Zeit das Parfüm einer Frau, die auf einem Barhocker die Beine übereinander schlägt und beim Lachen den Kopf weit in den Nacken wirft, aus deinen Kleidern zu waschen, als deine Erinnerung an die Frau, Schwester oder Tochter eines Rheinschiffers, der seinen Schleppkahn hier nur für eine Nacht festgemacht hatte, zu ertragen. Es spiele für dich schon seit Jahren keine Rolle mehr und sei lange vor meiner Zeit gewesen, hast du einmal gesagt, aber manchmal, wenn wir zusammen am Fluss waren und ein Schleppverband, auf dessen Deck bunte Wäschestücke im Wind tanzten, vorüberfuhr, hobst du, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, die Hand, und wenn ich später nach deiner Hand griff, war sie kalt und abweisend, und ich verfluchte alles, was sich auf dem Fluss bewegt, nur für eine Nacht anlegt und sich am nächsten Tag schon in unzähligen Schleifen und Windungen davonmacht, während du noch Jahre später der Erinnerung an ein Schiff zuwinkst.
        Wir brauchen Kaffee und Milch, Salz und Zucker, Duschgel und einen Stöpsel für die Badewanne, denke ich und schreibe alles auf den Einkaufszettel, und dann setze ich noch dein Rasierwasser auf die Liste, streiche es wieder durch, zerknülle den Zettel und lege mich am helllichten Tag ins Bett. Nachmittags fällt die Sonne jetzt nur noch in blassen Streifen durch die halbgeöffneten Jalousien ins Schlafzimmer, und es ist mir völlig unmöglich, auch nur für ein paar Minuten unter der Bettdecke hervor­zukriechen und mich dem wechselhaften Septemberlicht auszusetzen, denn du würdest gerade dieses Licht mögen, denke ich, ihm nachjagen über die Felder und Äcker, in den Wald und bis zum Fluss und wieder zurück, immer auf der Suche nach der richtigen Stelle und dem perfekten Einfallswinkel für einen Schnappschuss, der nicht den Gegenstand, sondern das Licht festhält, einen ganzen Film würdest du verschießen und atemlos nach Hause kommen, um nach Stunden in der Dunkelkammer enttäuscht und erschöpft zu mir ins Bett zu kriechen, wenn das Licht schon lange gewandert ist und du ihm wieder einmal nicht auf die Spur gekommen bist. Deine Kamera liegt seit Wochen unangetastet auf dem Schreibtisch in deinem Arbeitszimmer, und davor liegt der noch nicht entwickelte Film mit den Bildern, die wir an einem der letzten warmen Tage mit dem Selbstauslöser am Fluss gemacht haben.
       Deine Mutter hinterlässt fast täglich neue Vorwürfe auf dem Anruf­beantworter. Sie sagt, heb ab, ich weiß doch, dass du da bist, also heb endlich ab. Sie will, dass ich endlich Vernunft annehme und mit ihr rede, denn so könne es ja schließlich nicht weitergehen, sie sagt, ich sei in ihrem Haus jederzeit willkommen, ob ich das denn nicht wisse, aber mit jedem Anruf weicht die Enttäuschung in ihrer Stimme ein bisschen mehr der Wut, die sie nur noch mühsam unter Kontrolle bringen kann, und gestern Abend hat sie mich zum ersten Mal richtig beleidigt, nur um sich im nächsten Moment wieder bei mir zu entschuldigen und mich erneut anzuflehen, doch bitte mit ihr zu reden, und dann sagte sie auf einmal nichts mehr, nur ihr ungleichmäßiger Atem und der Fernseher, der irgendwo im Hintergrund lief, waren noch eine Weile auf dem Band zu hören, bis sich das Gerät von selbst abschaltete.
        Wenn ich nachts aufschrecke, kann ich immer noch den Sommer am Fluss riechen. Dein Körper bleibt als feuchter Abdruck neben mir im Sand zurück, und der kondensstreifenlose Himmel tanzt auf dem Wasser, das du mit kräftigen Schwimmzügen teilst, später schüttelst du dich am Ufer wie ein nasser Hund und deine Haare verteilen einen feinen Sprühregen auf meinem Bauch, die Sonne wandert allmählich in den Wald und hinterlässt einen Sternenhimmel, und dann kann ich wieder das Geräusch deiner nackten Füße auf dem morschen Holzsteg hören, du setzt genau fünf Mal auf, dann springst du ab und verschwindest in der Dunkelheit, und ich kann zusehen, wie ich mich wieder in den Schlaf zurückkämpfe, der sich jetzt immer öfter auch nach der zweiten Tablette nicht mehr einstellen will.
        Manchmal, wenn ich mit dem Fahrrad vom Fluss komme, verändern sich die Auen. Die Landschaft tritt für einen Moment so deutlich aus dem abendlichen Septemberlicht, dass ich vom Rad steigen und die Augen schließen muss, um bei Verstand zu bleiben, und wenn ich sie kurz darauf wieder öffne, stehen die Kopfweiden links und rechts des Weges wie vergessene Requisiten auf einer Bühne, auf der schon lange nicht mehr gespielt wird. Ein Wind kommt auf und legt sich wie eine kalte Hand in meinen Nacken, und dann behalte ich nur noch den zerfurchten Kiesweg vor mir im Auge und hebe den Kopf erst wieder, wenn ich schon lange den Hochwasserdamm überquert habe und die Lichter der ersten Häuserreihe sehen kann. Das zweite von rechts ist dein Elternhaus, die Küche und das Wohnzimmer sind abends zwei gelbe Quadrate im Erdgeschoss, und ich muss mir vorstellen, wie deine Mutter sich vielleicht gerade in diesem Moment vor deinem Vater im Wohnzimmer aufbaut und ihn beschwört, doch endlich auch einmal etwas zu sagen, und wie sich dein Vater deshalb jeden Abend, wenn er aus dem Büro nach Hause kommt, sofort in den Hobbykeller zu seiner Modelleisenbahn zurückzieht, um ihr aus dem Weg zu gehen. Deine Mutter versucht unterdessen verzweifelt, sich auf einen alten Schwarzweißfilm im Fernsehen zu konzentrieren, aber dann telefoniert sie doch wieder mit Gott und der Welt, um allen mitzuteilen, dass sie mich nun endgültig abgeschrieben habe und dass sie nie geglaubt hätte, dass ich dich einmal so schmählich im Stich lassen würde, sie ballt die Faust und schlägt den Rhythmus der Silben gegen die Wand beim Sprechen, während dein Vater im Keller seine Lieblingslokomotiven stundenlang im Affentempo durch die Miniaturlandschaft auf der Sperrholzplatte jagt, bis der Trafo heißläuft und die selbstgebastelten kleinen Häuschen, Brücken und Tunnel, wie von einem Erdbeben heimgesucht, vibrieren.
        Die ersten Regentage ziehen übers Land, stundenlang prasseln stecknadelkopfgroße Tropfen gegen die Fenster und verlaufen sich in schmutzigen Schlieren auf dem Fensterbrett, und ich muss wieder an die Tage im Frühjahr denken, an denen der Fluss über die Ufer trat und seinen Weg in die Keller des Neubaugebietes fand, sich die kleinen Dorfstraßen in reißende Bäche zu verwandeln drohten und überall in den Kneipen nur noch über perfide Versicherungsvertreter, die Ausschlussklauseln über Hochwasserschäden geschickt im Kleingedruckten versteckt hatten, geschimpft wurde, während wir durch die überschwemmten Auen paddelten und an seichten Stellen mit hochgekrempelten Hosenbeinen in die dunkle Rheinbrühe sprangen, um ein Stück Treibgut einzusammeln, voller unbändiger Freude darüber, dass uns der Fluss auch in diesem Jahr wieder spüren ließ, dass er uns hier nur duldet und jederzeit in der Lage war, uns seinen Willen aufzuzwingen, aber wenn wir in dieser Zeit abends mit Freunden zusammen waren, spürte ich wieder, wie du dich von mir entferntest, wie dein Blick nur die Ferne suchte, und wenn du überhaupt etwas sagtest, sprachst du nie über mich oder über uns oder über das, was aus uns noch werden könnte, sondern nur über deine Sehnsucht, die vielen tausend Lichtdiamanten, die bei Hochwasser in den überschwemmten Auen funkeln, in einem perfekten Bild festzuhalten, und wenn jemand das Thema wechselte, gabst du dir nicht die geringste Mühe, deine Enttäuschung und dein Desinteresse zu verbergen, und wenn wir später schweigend nach Hause fuhren, starrte ich nach draußen in die Dunkelheit und dachte an eine kleine Einzimmerwohnung in der Stadt, mit Blick auf die Fußgängerzone und die Leuchtreklamen der großen Kaufhäuser und Banken, eine Stadt, in der ich den Fluss, der sich dort ölig und rostrot durch die Außenbezirke quält, vor lauter Brücken und Betonwällen nie mehr sehen muss.
        Deine Mutter hat wieder angerufen, und diesmal habe ich abgenommen. Sie möchte es noch einmal mit mir probieren, wenn ich ihr verspreche ab sofort vernünftig zu sein und wieder mit zu dir zu kommen. Ob ich denn wirklich glauben würde, für sie sei das alles leichter zu ertragen, fragt sie, und ich sage Nein, natürlich nicht, nur über deinen letzten Kopfsprung in den Fluss, über die Nacht, in der dich dein Gefühl zum ersten Mal im Stich gelassen hat und in der du kopfüber in der Dunkelheit verschwandst, ohne nach ein paar Minuten wieder am Ufer aufzutauchen, und in der ich einfach im Gras sitzen geblieben bin, weil ich glaubte, dass du flussabwärts geschwommen seiest, um dich durch den Wald von hinten an mich heranzuschleichen, sage ich nichts, und sie sagt, dass sie jeden Tag bei dir sei und mit dir rede, und ich kann mir gut vorstellen, dass sie dir Gott weiß was erzählt, aber nie das, was du tatsächlich sehen würdest, wenn du sehen könntest: das Tag und Nacht heruntergelassene weiße Metallrollo und den verschrammten Plastikstuhl, auf dem deine Mutter sitzt und alle Vorgänge um dich herum wie religiöse Riten beobachtet, während dein Vater, die Hände auf dem Rücken ineinandergekrallt, auf dem Flur auf und ab geht, als warte er auf etwas.
        Ich habe die Fotos entwickeln lassen, und ich weiß jetzt, dass ich bald all meinen Mut zusammennehmen werde, um dich noch einmal zu besuchen. Eine Weile werde ich unschlüssig vor deinem Bett stehen und noch einmal alles in Zweifel ziehen, aber dann werde ich einen Weg finden, und danach werde ich an den Fluss fahren und dort im Septemberlicht sitzen, bis es erlischt.

Ralf Schwob          

Ralf Schwob
Prosa