Wir sind Begünstigte
Zum 75. Geburtstag Reiner Kunzes am 16. August 2008
Von Christoph Kuhn
|
Reiner Kunze
Das weiße Gedicht
Essays
S. Fischer 1989
|
Ende November 1976. Die evangelische Studentengemeinde Dresden verbringt ein Wochenende mit dem Dichter Reiner Kunze im Erholungsheim „Friedensburg“ im Kurort Rathen in der Sächsischen Schweiz. Die Gesichter der Studentinnen und Studenten auf den Fotos drücken das Glück aus, Reiner Kunze vor-lesend und in langen Gesprächen erlebt zu haben – aber es ist in ihnen auch Wehmut beim Abschied, als er mit seiner Frau Elisabeth wieder im Auto sitzt.
Über den Tagen hatte ein Schatten gelegen, wegen neuester Angriffe von SED-Führung und Stasi gegen unliebsame Künstler. So hatte am 13. November Wolf Biermann sein berühmtes Kölner Konzert gegeben und war danach von der DDR-Führung ausgebürgert worden.
Reiner Kunze war am 3. November aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen worden, gleich nachdem sein system- und gesellschaftskritischer Prosaband Die wunderbaren Jahre erschienen war – natürlich im Westen, im S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main.
Die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Gera protokolliert über das Wochenende in Sachsen: „ … An dieser Veranstaltung haben ca. 50 Personen teilgenommen … Über die Veranstaltung selbst wurde bis jetzt nichts bekannt, da die vorgesehenen IM trotz ihrer Bemühung, vom Studentenpfarrer … eine Einladung zu erhalten, nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnten. Beiden IM wurde zwar die Teilnahme in Aussicht gestellt, doch bei der Abreise wurden sie nicht mitgenommen. Als Grund wurde angegeben, dass nicht genügend Quartiere vorhanden seien.“ Aufgehoben in der Dokumentation Deckname „ Lyrik“, die Reiner Kunze aus seinen Stasiakten zusammenstellte und die 1990 als Taschenbuch bei S. Fischer erschien. Zwölf Bände, dreieinhalbtausend Blatt, waren durchzuarbeiten – Aktenmaterial aus knapp zehn Jahren, das die MfS-Behörde nicht mehr rechtzeitig bzw. vollständig vernichten konnte.
Kunze war zum Staatsfeind ernannt worden, zum „gekauften Subjekt des Klassengegners“ und sollte mit allen Unrechtsstaats-Mitteln „bearbeitet“, kriminalisiert, werden. Durch Observation mithilfe „gedeckter Posten“ in der Nachbarwohnung, akustische Überwachung, Kontrolle seines „Verhaltens und Bewegungsablaufs“, Postkontrolle. Die „Straftatbestände“ hießen „staatsgefährdende Hetze“ und „Staatsverleumdung“. Um die „Vorgangsperson“ zu „verunsichern“ und zu „zersetzen“, wurden „vertrauliche Beziehungen“ aufgebaut, die dann missbraucht wurden, Schmähbriefe geschrieben, sein Ansehen zu schädigen; in sein „Verbindungssystem“ sollte eingedrungen werden, um es zu „entlarven“. „Einschätzungen zur literarischen Arbeiten aus ideologischer, strafrechtlicher, psychologischer und fachlicher Sicht durch Experten-IM“ wurden eingeholt.
Nicht alle Stasi-Notizen sind falsch: „In bestimmten Kreisen werden die Texte abgeschrieben und herumgegeben.“ Solch ein Kreis war auch die Dresdner Studentengemeinde. Brief mit blauem Siegel wurde mit der Schreibmaschine per Durchschlag vervielfältigt. Das 1974 in der DDR erschienene Lyrik- Reclambändchen war ein publizistisches Ereignis; die limitierte Auflage befriedigte keineswegs die enorme Nachfrage. Unter Bedingungen der Unterdrückung des sonst freien Wortes entdeckten auch Menschen, denen im Allgemeinen nicht viel an Gedichten lag, die darin enthaltene, für die Herrschenden oft unbequeme Wahrheit. Solche Furore macht die neuere Lyrik natürlich nicht. Dabei sind Kunzes Gedichte so eindringlich wie damals, die innere Notwendigkeit ihrer Entstehung ebenso spürbar und der Bogen ihrer Aussage nicht minder weit gespannt (das heißt, die in der DDR entstandenen Gedichte nur als Reaktion auf die Diktatur zu lesen, verfehlte weitere Bedeutungsebenen). Erst recht wurden die Westbücher Kunzes abgegriffen und -geschrieben; deren Stoff kam aus dem Leben in der DDR über die Bundesrepublik Deutschland in die DDR zurück. Sein Kinderbuch Der Löwe Leopold wäre nur fast in der DDR erscheinen, 15.000 fertige Exemplare wurden doch noch vernichtet, weil der Inhalt des Buches „im Gegensatz zu den Interessen des sozialistischen Staates und seiner Bürger“ stand.
„K. fühlt sich in seiner physischen Existenz bedroht.“ Auch diese Feststellung eines IM stimmte: Reiner Kunze spürte die Verfolgung durch das MfS, was auch beabsichtigt war, und einer der perfidesten Spitzel, einer der Kunzes Vertrauen gewonnen hatte, verbreitete, Kunze habe einen „Stasi-Tick“. Als die Familie bereits im Westen lebte, ersann das MfS weitere Pläne zu Kunzes „Verunsicherung“; beispielsweise wurde das Gerücht gestreut, er arbeite mit der Stasi zusammen. Seine letzte Morddrohung habe er im Dezember 1990 erhalten, erzählte Kunze 2007 bei einer Lesung in Wittenberg.
Das Wochenende in Rathen war eine der letzten Veranstaltungen mit Reiner Kunze in der DDR. Damals schon sprach er von Schikanen, Verleumdungen und massiven Drohungen gegen ihn, und er sagte, man müsse in dieser Zeit vor allem einander helfen, den Geist hochzuhalten. Als ihm ein halbes Jahr später das Leben in der DDR schlechthin unmöglich zu werden schien, er sich schon auf Haft einrichtete, von Schlaflosigkeit und Ängsten geplagt wurde und sein Gesundheitszustand sich verschlechterte, stellte er den Antrag auf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft, und am 13. April 1977 siedelte die Familie in die Bundesrepublik über. Nicht freiwillig, sie wurde außer Landes gedrängt, zum Verlassen gezwungen. „Hinausbürgerung“, nannte es Kunze, der bis zum Schluss nie den Gedanken ans Weggehen hatte, wie er in einem Gespräch sagte. Er rettete auch seine Kraft zu dichten über die Grenze: 1981 antwortete er im Rundfunk auf die Frage, ob er seine neuen Gedichte auch in der DDR hätte schreiben können: „Nein. Einer, der durchatmet, erlebt die Welt anders als einer, den man würgt.“ Oder 1983 sagte er: „Wir waren auch in der DDR glücklich (…) Aber diese Glücksmomente sind von den großen politischen Sorgen, von dem Druck, von der ideologischen Indoktrination, die Tag für Tag bis in den innersten Bereich der Familie hineinwirkt, weggedrückt worden.“
Das heißt nicht, dass Reiner Kunze im Westen die ideale musische Gesellschaft vorzufinden glaubte. Vier Jahre nach seiner Ausreise erkärte er im österreichischen Fernsehen: „Was der Wirkung von Literatur entgegensteht, sind im Osten die Indoktrination und die nackte Macht … und im Westen die Tatsache, dass immer mehr Bereiche des Lebens ideologisiert werden.“
|
Reiner Kunze
lindennacht
Gedichte
S. Fischer 2007
|
Sein neuester Gedichtband lindennacht bringt viel Unheilvolles vor: beklagt den Sprach- und Kulturverfall, die Beschädigung der Natur und der Seelen und zeigt den Zusammenhang all dessen. In den SPOTTVERSEn wird die Zerstörung der „Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung ... auf dem Amtsweg“ sinnfällig. „Die sprache hat den mund zu halten, / wenn die hohen staatsgewalten / sich für ihren vormund halten / und barbaren sie verwalten“. („Der Abschied von der Hochsprache geht einher mit dem Abschied vom Humanen“, sagte Kunze in einer „Rede zur Sprache“ 2007 in Köthen. „Die Erkenntnis, daß Vergehen an der Muttersprache Vergehen an der Menschheit ist, scheint noch nicht ins Bewusstsein der politisch Verantwortlichen gedrungen zu sein.“)
Beim FRÜHSTÜCK MIT ZEITUNG ist die rasante Veränderung aller Medien mitbedacht: „Einst war der leumund / einholbar // Ein mundgänger // Nun umrundet in sekunden er / die erde / und fällt frühmorgens, / nach druckerschwärze riechend, / auf die tische der welt // Millionenzüngig leckt / die lippen sich / der rufmörder“, und das SEOULER STRASSENBILD steht für globale Beziehungslosigkeit: „(...) Das handy am ohr, schienen sie einander zu beteuern, / daß der eine für den andern wie geschaffen ist, / doch auf dem weg / in die entgegengesetzte richtung“. Die Zeichen der Neuzeit – der „Scharlatanzeit“, wie sie in einem Gedicht über die Kunst genannt wird – geben dem Dichter wenig Zuversicht. Hoffnungszeichen – oder sollte es heißen Glaubenszeichen? – sind eher im Zeitlosen, beim Archetypischen gesetzt.
Kunze versteht sich nicht als Christ, setzt aber ehrfürchtig die Wörter der letzten Dinge: Himmel, Hölle, Leben, Tod, Gott. Seine Gedichte seien „Überlebensakte“ hat er einmal gesagt. Zu seinem Verhältnis zur Religion, zu Gott befragt, sagte Kunze 1995 einer Zeitung: „Wenn es einen Gott gibt, dann ist er auch mein Gott. Wenn es Gott nicht gibt, dann ist er für mich die wirklich geniale und segensreichste Erfindung des menschlichen Geistes. Gott ist für mich das Mehr von allem, die letzte Instanz, die kein Mensch sein kann, denn der wäre genauso fehlbar wie ich. (…) Dass Religion eine Grunddimension des Menschlichen schlechthin ist, daran habe ich wohl nie gezweifelt.“ Durch seinen Großvater, der nie in die Kirche gegangen sei, aber oft in der Bibel las, sei er mit der Bibel aufgewachsen. „Sie hat meine gesamte Sprach- und Denktradition geprägt.“
Die Lindennacht beginnt mit KINDHEITSERINNERUNGen an die DIE SCHACHTTASCHE des Großvaters, an Kriegs- und Nachkriegsnot: „ (...) Meiner kindheit liehen ihre farben / kohle, gras und himmel / Unter dieser trikolore trat ich an, / ein hungerflüchtiger, süchtig / nach schönem“ (DER TEICH MIT DEN ROTEN FISCHEN).
Reiner Kunze wurde in Oelsnitz/Erzgebirge als Sohn eines Bergmanns und einer Kettlerin geboren, wuchs in äußerlich ärmlichen Verhältnissen auf, ohne Bücher, lernte allerdings von seiner Mutter Volkslieder. Er besuchte die höhere Schule, obwohl er Schuhmacher werden sollte, machte 1951 Abitur, studierte Philosophie und Journalistik in Leipzig, legte das Examen in Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte ab, war wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter. 1959 brach er aus politischen Gründen die Universitätslaufbahn ab, arbeitete in der Produktion, der Landwirtschaft und in Zeitungsredaktionen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seit 1962 lebte er als Schriftsteller in der DDR. Über die Literatur lernte er eine tschechische Ärztin kennen, die er heiratete. Seit dem 16. Lebensjahr in der SED, gab er am 21. August 1968 sein Parteibuch wegen der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts zurück. Spätestens seitdem war er für die doktrinären DDR-Kulturpolitiker stigmatisiert, Persona non grata. Der Weg unangepasster Künstlerinnen und Künstler führte entweder ins Abseits mit eingeschränkter Öffentlichkeit unter Kirchendächern, ins Gefängnis oder in den Westen. Nicht wenige erfuhren alle Konsequenzen.
In der Bundesrepublik konnte Reiner Kunze nicht nur frei publizieren – vor allem Gedichtbände, aber auch Prosa: Tagebuch- und Gesprächsaufzeichnungen wie Am Sonnenhang (1993) oder Wo Freiheit ist (1994) –, sondern erhielt auch zahlreiche Preise wie den Deutschen Jugendbuchpreis, den Geschwister-Scholl-Preis und vor allem den Büchnerpreis – anfangs noch begleitet von hämischen „Nachrufen“, wie von Hermann Kant (1978 bis 1989 Präsiden des DDR-Schriftstellerverbandes), der 1978 auf dem Schriftstellerkongress gesagt hatte: „Wenn die Darmstädter Akademie ihren Literaturpreis auf den Kunze bringt, muss sie selber sehen, wie sie damit zurecht kommt, und … aber lassen wir das, kommt Zeit vergeht Unrat.“
Inzwischen ist Reiner Kunze Mitglied zweier Kunstakademien, er wurde unter anderem ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz, dem Bayrische Verdienstorden, mit Ehrendoktorwürden und Ehrenbürgerschaften. Er setzt sich für unbekannte und verfolgte Dichter ein, dichtet nach, vor allem aus dem Tschechischen und Slowakischen: Vladimír Holan, Miroslav Holub, Jan Skácel oder Milan Kundera.
Er und seine Frau gründeten die gemeinnützige Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung. „Ort des Schönen“ und „Stätte der historischen Wahrheit“ soll ihr Haus auch über ihrem Tod hinaus werden. Zeitgeschichte, bildende Kunst und Literatur sollen sich darin begegnen.
Einige seiner neuen Gedichte behandeln die Themen Tod und Dauer: „Nur das unsicherste / ist sicher // Das, was außer in uns / keinen ort hat“. Nicht zu vergessen die Liebesgedichte in lindennacht: „(...) Des spiegels unerbittlichkeit / vermag uns nicht zu täuschen // Wir wissen mehr / als er“ (NOCH IMMER), oder mit feiner Heiterkeit in ZWEITE VARIATION ÜBER DAS THEMA „PHILEMON UND BAUCIS“: „Wir werden nicht in ast und zweig / dauern über uns hinaus // Doch wir sind begünstigte // Wir dürfen noch zu ende leben / unter bäumen“.
Reiner Kunze wird am 16. August 75 Jahre alt. Er ist einer der wichtigsten Dichter des Landes – während der Teilung und nach der Wiedervereinigung, und seine Stimme wird nicht nur hierzulande gehört, sondern weit über die Grenzen hinaus.
Christoph Kuhn 15.08.2008 Druckansicht Seite empfehlen
|
Christoph Kuhn
Portrait
|