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Schreien
Dann haben mir die Schweine auch noch die Elfi weggenommen. Ich saß gerade an meiner Novelle, auf meiner sandfarbenen Couch, stand vor dem tuberkulösen Spiegel im Bad, da musste es passiert sein. Diese Saftsäcke! Wo sie mir doch bereits im Juli des vorangegangenen Jahres den toten Säugling Sven von der Terrasse stibitzt hatten. Ich erinnere mich noch gut: Ich ließ die Rollläden ab, in der Ferne sah ich Leuchtraketen in den Himmel steigen, sie hatten gewonnen. Wollte schon schreien. Die Wurstigkeit hatte sich endgültig Bahn gebrochen, wie auch Bärbel jetzt sagen würde, wäre sie verdammtnochmal hier.

Und was hätte ich dem Sven nicht noch alles beibringen können? Ich hätte ihm vielleicht Geschichten vorgetragen. Die wahnwitzigen Räuberpistolen eines Wilhelm Hauff beispielsweise, als das Wünschen noch half, und Sven hätte gewiehert vor Glück und ich hätte mit ihm gelacht, hätte ihm Sprache beigebracht (vielleicht), ihm gezeigt, wie man schreibt (wohl eher nicht).

Im vergangenen Jahr beschäftigte ich mich noch mit Büchern. Ich nahm ein Buch aus dem Regal (wahrscheinlich den Pascal, den Storm, das Autorenlexikon, und ich vergewisserte mich, dass im Zeichen des Zwillings geborene Schriftsteller die allerschlimmsten sind) und stellte es wieder zurück.
Das Bücherregal in der Ecke meines Wohnzimmers. Darin Bücher, die in zweiterdritter Reihe parkten, Zettel zwischen Seite 112/113.
Zettelwirtschaft auf meinem Schreibtisch, zum Kotzen! Also verschob ich die Bücher, ordnete sie dem Alphabet nach, säuberte daraufhin meinen Schreibtisch, trat einen Schritt zurück und beguckte, was ich da eben angerichtet hatte.

Warum der vorangegangene Absatz? Warum nicht? So ist es doch immer, es ist für die Katz. Ich schaue zur Decke und frage mich, warum nicht endlos hier? „Das ist ja gar keine Wohnung mit ganz hohen Decken.“ Na und! Die besten Geschichten kommen doch eh aus der Tonne. Und habe ich eigentlich schon gesagt, dass mir die Arschgesichter vor nicht allzu langer Zeit die Elfi weggenommen haben?

Wen vermisse ich noch?

Bärbel? Nicht einmal mehr die Bärbel. Bei unserem letzten Treffen saßen wir uns im Weihenstephan gegenüber, in der Nähe des Bahnhofs, Bärbels Zug ging um halb zehn. Draußen fiel Schnee. Ein Zwicklbier trank Bärbel und ich aß mein Jägerschnitzel. Die flachsblonden Haare hatte sie sich nach hinten gebunden, was ich nicht ganz begriff. Manchmal guckte Bärbel zur Tür und ich stellte sie daraufhin zur Rede. Aber Bärbel winkte nur ab und meine Gedanken gingen gesondert. Aber ansonsten unterhielten wir uns ganz gut und gerieten gegen neun dann doch in Streit. Dass ich einer dieser Menschen sei, die nicht mehr wüssten, was Recht, was Unrecht, und ich fragte sie, welches Sternzeichen sie habe?
Welches Sternzeichen?!
Geschenkt, meinte Bärbel, Zwilling. Und ich nickte, wusste sofort, und Bärbel winkte nach dem Kellner, zahlte. Und nun? Nun nehme sie den Halbzehnzug, wie geplant.

Wen vermisse ich auch nicht? Mutter (auch schon gestorben, oder?), die immer sagte: „Mit der Hand für den Mund ist nicht gut.“ Was macht eigentlich Vater?
Mutter ist voraussichtlich tot. Und hatte ich eine Schwester? Ich hatte, oder habe doch noch einen Bruder, wobei Mutter immer gesagt hat: „Den hast du nicht!“ Aber ich war mir sicher, da ist ein Bruder, und stolz war ich auf ihn und ich eiferte ihm nach und er drückte mich weg und er lachte und
Vielleicht lebt Mutter ja noch. Ich weiß nicht: Was ist eigentlich mit Bärbel? Und was macht Vater? Vielleicht ist auch Vater gestorben. Vater ist gestorben. Auch von ihm habe ich nicht Abschied nehmen können.

Zurück in die Bedeutung des Augenblicks.

Heute Mittag erst zerstückelte ich das letzte Kapitel meines Familienromans, kehrte alles in heißes Fett, ein paar Buchstaben hinzu, die sonst kaum Verwendung finden, fertig. Heute Mittag erst, und ich darf nun wieder von vorne beginnen. Ein Vogel stieß wie bescheuert gegen die Scheibe und verstarb, auch ihn musste ich gehen lassen. Und das muss gestern erst gewesen sein:
Gestern glaubte ich in meinem Garten Stimmen zu hören. Ich lag auf meiner Couch und ließ die Daumen kreisen. Eine Mädchenstimme und eine dunklere Stimme, vielleicht der Vormund, etwas wie: „Vorsicht, Wurzelwerk!“ Ich sprang auf und trat an die Terrassentür und linste hinaus in den Garten.

Ich, der belachte Dritte.

Fest entschlossen wie Bärbel war. Winkte auch nicht mehr, war nichts mehr zu machen. Und ob ich, wir, irgendwann auf ein Bierchen vielleicht? Das glaube sie eher nicht. Kurz zuvor noch: „Mit dir, jederzeit!“ Aber so ist das eben. Es ist manchmal für die Katz.
Und dass ich, wenn ich nicht Acht gebe, mich selbst auch noch gehen lasse, glaubte Bärbel sagen zu müssen. Wie ich alle anderen habe gehen lassen, Elfi, Sven, Vater, Mutter, was mich empörte und das sagte ich Bärbel auch. Aber da glaubte Bärbel auf dem Gehweg vor dem Weihenstephan einen Bekannten ausgemacht zu haben. Das sagte sie mir auch und öffnete die nach hinten gebundenen flachsblonden Haare und meine Gedanken gingen gesondert. Bärbel. Ja auch so ein Zwillings-Kind. Wie Sven. Ich schlage nach: Das Zwillings-Kind spielt gerne, wenn sie es nicht schon frühzeitig vernichten, mit allerlei Schlagwerkzeug. Auch klettert das Zwillingskind gerne auf Bäume und kommt dann tagelang nicht wieder runter. Zeigt dir die lange Nase. Zwillingskinder geben fremde Meinungen ungefiltert wieder. Bei Zwillings-Kindern gibt ein Wort das andere, dass es zum Haarerraufen ist und,

Apropos: Wörter. Das sind auch nur Buchstaben und davon gibt es 26. Wörter ergeben Sätze und Sätze habe ich noch nie richtig begreifen können. Aber schön, wie sie so dastehen, auch wenn man sie nicht mehr begreift, felsenfest, unwiderruflich, Nachwelt. Und noch immer schlage ich mich hin und wieder seitwärts vor das Bücherregal und frage mich: Wozu eigentlich noch?
Ich ziehe einen schmalen Band hervor und versuche darin zu lesen. Ein Wort gibt das andere. Vater meinte doch, dass das, was ich da mache, für ihn ein Buch mit sieben Siegeln sei, zu einer Zeit, in der Vater durch die Verwandtschaft strich und kleine Holzkreuze verteilte (1986). Ob ich Vater verhandle?, fragte mich der Vater. Ich verhandle den Vater, ja. Dann möge er nicht mehr länger zahlen! Dann zahlte er auch nicht mehr länger. Das war vor seinem Tod, Vater ist bestimmt tot. Seitdem ist es auch in meiner Wohnung kalt und nebenan kochen sie Gemüsesuppe mit lecker Fleischhäppchen und das macht mich mit einem Wort nur noch krank.

Wenn jetzt doch nur ein Wort ins Gedicht fiele.

Es gibt welche, die essen morgens (und abends) Buchstabensuppe. Das ist wie: „Du hast wohl die Weisheit mit dem Löffel gefressen, was?!“ Das ist auch unerhört, kaum zu glauben. Sie verstehen es (vorzüglich), das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden:
Legen schon in aller Herrgottsfrüh auf den Tellerrand die erste Figurencharakteristik, den ersten nie gehörten Satz.

Drei oder fünf Teile benötigt doch die Novelle, mit der ich mich vom Januar bis November eingehender beschäftigt habe, in der Hoffnung, auch einmal eine solche Novelle zu schreiben, mit überraschendem Wendepunkt, Dingsymbol und dem ganzen Schnickschnack. Am Schluss dann die wohlverdiente Loslösung. Wo noch so richtig erzählt wird. Eine unerhörte, an sich ereignete Begebenheit eben.
Was blieb noch? Dass die Novelle mit einem unerhörten, überraschenden ersten Satz zu beginnen habe, was mir im Übrigen außerordentlich gut gefällt. Alleine dieser Satz macht mich halb wahnsinnig, gleichwohl er Wurst ist. Und wie ich (gerade) die Novellen langsam satt habe, fällt mir jetzt ein, und ihr Schaukelstuhlgeschmack, so hölzern, zum Indiefresseschlagen, wohingegen der Geschmack des Wendepunkts einer Novelle manchmal eine Ahnung von Jawohl auf die Zunge zaubert. Ich muss gestehen:
So sehr ich mich auch monatelang mit der Novelle an sich und mit meinem gefährlichen Halbwissen darüber auseinandergesetzt habe, so war es mir nicht vergönnt, auch nur eine (wenn auch noch so kariöse) Novelle selbst zu schreiben mit Wendepunkt überraschendem Dingsymbol Auflösung am Ende dann

Am siebzehnten dieses Jahres habe ich mir einfach so eine Geschichte erzählt. Ich bin dazu durch die Wohnung gewandelt und habe mir so mirnichtsdirnichts folgende Geschichte selbst laut vorgetragen:



Ich habe mich dazu auch in meinen Korbsessel gesetzt und wild gestikulierend, meinen über die Zeit stark gewachsenen Bart kraulend, folgende Geschichte ohne weiteres forterzählt:



Und musste dann wie nicht mehr ganz gescheit auflachen und verstummte, weil das Lachen gegen die weißen Wände meiner Wohnung schlug. Ich zog mir eine angefangene, aber ohnehin verrutschte Novelle aus der Schublade und biss hinein und dachte dabei auch an Bärbel.

Bärbel nahm den Halbzehnzug. Wollte ich auch immer sagen: Ich muss dann mal, ich nehm den Halbzehnzug. Und auch wissen, wo der Zug hält. Um dem Sitznachbarn Auskunft geben zu können, mit einem freundlichen Ausdruck im Gesicht: Fipshausen, machen hier einen Wahnsinnskäse. Aus dem Fenster kucken und eben nicht abschweifen müssen. Bärbel. Weiblicher Vorname. Offenes, nach hinten gebundenes flachsblondes Haar. Stieg weg und zog sogleich den Vorhang ins Gesicht.

Abfahrt. Abschied.

Und ich habe doch bereits erwähnt, dass die Wahnsinnigen mir die Elfi -? Ja, hab ich alles schon. Das wirkt noch. Deswegen. Aber auch aus dieser Sache werde ich gestärkt hervorgehen. Ich werde auch die Sache mit der Elfi einfach so vom Tisch wischen, wie man es mir doch geraten hat. Auf dem Zimmer bleiben. Draußen lauert eh nur der Tod. Und auch drinnen ist der Tod, freilich, aber er macht es sich erst einmal gemütlich. Nimmt sich einen Keks, oder eine Kapitelüberschrift, die sich diesmal aber wirklich gewaschen hat.

Wenn man also will, so brach im Sommer die Wurstigkeit sich endgültig Bahn. Ich erinnere mich noch ganz gut. Und mit dem heutigen Tag Auskunft geben. Oder aber erst morgen. Bis dahin und darüber hinaus den Pascal beherzigen. Ganz ruhig in der Wohnung bleiben. Schon der Szenenwechsel auf meinen Balkon wäre doch einschneidend. Wobei, wenn ich überlege:
mal wieder kneippen gehen drüben auf dem Hügel, mit Bärbel durch den Festspielpark und niesollstdumichbefragen, später in der Laube ein herrlich Bier und gebratene Würste aus der Hand.
Ist alles nicht. Bald schon wieder Weihnachten. Vielleicht gönne ich mir Schnee, obwohl. Dass wenigstens der Schnee den Blutfleck, den Elfi hinterlassen hat, der mich an Elfi erinnert, oder ist es Svens Blut?, dass wenigstens der Fleck da verdeckt wird. Ich weiß es nicht. Ich höre Stille. Zum Jahreswechsel werfen die Hosenscheißer ihre Satansknaller auf meinen Balkon. Ich müsste einfach mal wieder etwas Ordentliches schreien. So einfach.

René Becher   09.11.2006

René Becher
Prosa