Valuta
Marita war alt genug, um alleine die Stadt zu erkunden, wenn auch noch nicht alt genug, dass ihre Mutter davon erfahren durfte. Nur ihre kleine Schwester Jacki wusste Bescheid. Dass die brav den Mund hielt, war kein Wunder – als große Schwester hatte man schließlich so seine Methoden.
Seit drei Monaten stieg Marita jeden Nachmittag in die S-Bahn und fuhr in die Stadt. Am Anfang hatte sie allen Mut dafür gebraucht. Sie hatte sich in das Abteil direkt hinter dem Fahrer gesetzt, die Augen fest auf den Fahrplan geheftet und die Monatskarte griffbereit in der Hand gehalten. Doch inzwischen konnte sie darüber nur lachen, und wie die Helden im Kino lachte sie so tief aus der Kehle heraus. Inzwischen stand sie ganz hinten im letzten Waggon, eine Hand leicht an die Querstange gehängt, lässig war das, es fiel fast nicht auf, dass sie auf den Zehen stand.
Diese Fahrten waren natürlich ein Teil von dem Plan. Leider war ihre Mutter keine Kriminelle, so musste sie alles Wichtige mühsam aus Filmen und Büchern lernen. Ein echter Gangster überließ nichts dem Zufall, und wenn ausnahmsweise ein Q mal danebenging, verabschiedete er sich höflich lächelnd, ohne dass ihm etwas nachzuweisen war. So wie Müsjö Hugenay, der charmante französische Meisterdieb. Wie Hugenay wollte sie später auch werden. Möglichst allein arbeiten und mit ausgefeilten Methoden. Marita würde während edler Cocktailpartys den Seyf des Gastgebers öffnen und alle wertvollen Gemälde aus den Rahmen schneiden. Anschließend würde sie den Damen mit einem charmanten „woala“ die Tür aufhalten und sie mit ihrem aufblitzenden Lächeln betören. So ein Lächeln konnte wichtig sein und im Notfall Wunder wirken. Wenn sie zum Beispiel auf der Flucht wäre, würde sie eine Dame um ein Nachtlager bitten. Aber nicht untertänig, wie jemand, der sich verstecken muss, sondern so mit Pokerfes und brennendem Blick wie Alain Delon als Zorro.
Als jetzt die Bahn in der Station einfuhr, riss sie die Tür auf und sprang noch während der Fahrt ab. Marita liebte diesen Moment kurz vor der Landung, wenn der Fahrtwind ihr plötzlich ins Gesicht schlug, so dass der wilde Geruch von heißem Maschinenöl und wirbelndem Staub ihr fast den Atem nahm. Genau so mussten die Gefahren in der weiten Savanne riechen, wenn die Sonne heiß und schwer auf den Kopf prallte. Und dazu diese Spannung im Bauch, ob sie das Wagnis wirklich überleben würde. Einmal hatte sie nach der Landung einen Mann angerempelt, doch als der dann schimpfte, lachte sie frech, was sind Sie denn, ein Lehrer?
Den Trick mit der Tür hatte sie von Roy gelernt, dem Fußballer aus der Zehnten. Er hatte ihr auch beigebracht, mit dem Gesicht in Fahrtrichtung abzuspringen und dann den Schwung parallel zur fahrenden Bahn auszulaufen. Das war seit langem das Beste, was Marita gelernt hatte. Als echter Profi musste sie schließlich öfter aus fahrenden Zügen springen. Später würde sie Roy natürlich heiraten müssen. Aber das machte nichts, denn dadurch hätte sie bis zur Scheidung ein sicheres Hät Kwarter.
Ihr Plan war einfach und genial. Zuerst brauchte sie das Geld für ihre Ausbildung. Im Klartext: Kino und Bücher. Dann musste sie lohnende Objekte ausfindig machen. Dort würde sie alles auskundschaften. Dabei waren Fluchtwege und Wachtposten das Wichtigste. Die meisten Gangster scheiterten ja daran, dass der Schlaftrunk nichts taugt oder ein Auto nicht anspringt. Für das Alibi musste natürlich Jacki sorgen. Schwieriger war die Frage, wie sie nachts heimlich die Wohnung verlassen sollte. Aber vielleicht war es ohnehin praktisch, wenn sie den Schlaftrunk erst mal an ihrer Mutter ausprobierte.
Also Stufe eins: Monatskarte einsparen. Fünf Mark gab das her, das reichte für ein Buch oder sechs Mal ins Kino. Stufe zwei: Objekte tschecken und Fluchtwege sichern. Über Stufe drei war sich Marita noch nicht ganz klar. Am besten würde sie mit Colljees und kleinen Diamantringen beginnen, bevor sie sich an einen Seyf oder große Gemälde wagte. Den brennenden Blick hatte sie sicherheitshalber schon mal in ihr abendliches Trainingsprogramm aufgenommen. Jacki zog sich dann immer die Decke über den Kopf. Typisch, sie war nun mal keine Dame.
Für heute hatte Marita sich das neue Hotel vorgenommen, das die Österreicher gerade in der Siti bauten. Auf Baustellen lagen immer Bierflaschen herum, das brachte eine Menge ein. Außerdem war so ein Hotel ein geeignetes Objekt. Hier würden demnächst wohl genügend Juwelen lagern. Es konnte nicht schaden, rechtzeitig die Fluchtwege zu tschecken. Seit das Gebäude von außen fertig war, sah es schick aus, so weißer Beton und verspiegeltes Glas, ein Palast aus Schnee mit Fenstern aus dunklem Eis. Doch die Eisfenster waren nicht durchsichtig, sie schimmerten nachtschwarz und glatt. Marita presste das Gesicht gegen die Scheiben und schirmte die Augen seitlich mit der Hand ab, aber sie konnte nichts erkennen. Sie stellte sich vor, wie da drinnen bunte Fische schwimmen würden, die von innen an ihre Hand stupsten. Marita dachte sich öfter solche Sachen aus, das machte viel mehr Spaß als die Erklärungen, die sie in der Schule bekam. Jeden Tag sollten neue Gäste kommen, alle aus dem Enesweh, und ihre Übernachtung mit Waluta bezahlen. Die meisten Worte, die ihre Lehrer benutzten, waren langweilig, man fühlte sich immer ein wenig dumm, wenn man sie aussprach. Aber Waluta war anders, es klang wichtig und unglaublich geheim, es war viel spannender, als „Westgeld“ zu sagen.
Als Marita später nach Hause kam, hatte Jacki sie zum Fenster gezerrt. Der Westwagen, der seit zwei Wochen in ihrer Straße parkte, stand plötzlich auf dem Rasen hinter dem Haus. Die Motorhaube war abgenommen worden und lehnte hochkant am linken Kotflügel. Am Boden lag verschiedenes Werkzeug verstreut und ein Mann beugte sich über den Kofferraum. Marita nahm Jacki an die Hand und ging mit ihr in den Garten. Jacki war noch in einem Alter, in dem sich Erwachsene automatisch an versteckte Süßigkeiten erinnerten. Marita hatte längst herausgefunden, dass es für die süße Kleine mehr gab, wenn sie selbst sich hungrig und groß im Hintergrund aufbaute. Es war ein Diel, bei dem beide gewannen, denn Jackie hatte den Dreh noch nicht īraus.
Jetzt legte der Mann seine Zange zur Seite, nahm einen kurzen Anlauf und sprang auf die Haube. Die weißen Sohlen seiner Turnschuhe sahen schick aus im frühlingsgrünen Gras, sie sprangen hoch und landeten auf einer Querstrebe, es schepperte ein bisschen während die Zehen auf dem Metall balancierten. Für einen Moment hing der Mann in der Luft wie ein Turmspringer beim Absprung, dann verloren die Sohlen den Halt und glitten zurück ins Gras. Marita wunderte sich, woher die im Westen solche Sachen einfach wussten, sie konnten etwas bauen, das so perfekt ins Gras passte wie diese dicken Sohlen. Weich schmiegten sie sich an den Boden, als wären zuerst die Schuhe da gewesen und der Rasen extra für sie erfunden worden. Das strahlend weiße Leder war von drei blauen Streifen verziert, die in exakt berechnetem Abstand parallel zueinander liefen, sie waren an den Rändern leicht ausgezackt, und das Erstaunlichste war, dass nicht eine Zacke fehlte. Woher wussten die Ingenieure im Westen, dass man solche Schuhe brauchte, um eine Beule aus einer Motorhaube zu springen? Ihr fielen die braunen Schuhe des Nachbarn ein, der samstags immer an seinem Wolga bastelte. Mit solchen Schuhen konnte man höchstens ungerührt in einer Öllache stehen, doch für kules Springen waren sie eindeutig nicht gemacht.
Wieder nahm der Mann Anlauf, diesmal traf er die Beule, es gab ein kurzes Plong, bevor die Beule wieder zurückschnellte, als sei nichts geschehen. Wieder und wieder sprang der Mann, doch die Beule war dickköpfig, vergeblich hüpften die weißen Sohlen auf und nieder. Ab und zu merkte Marita, wie er sie beide mit einem Blick streifte, doch dann konzentrierte er sich und nahm einen neuen Anlauf.
Gerade als Marita aufgeben wollte, fragte der Mann Jacki nach ihrem Namen. Er hatte also doch noch angebissen, und um jedes Missverständnis auszuräumen, stellte sich Marita als große Schwester vor. Der Mann holte ein Päckchen Zigaretten hervor und lehnte sich mit dem Rücken lässig an sein Auto. Marita prägte sich das Bild fest ein, wie er so dastand, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, die Glut in der hohlen Hand geborgen, das rechte Bein angewinkelt, so dass der Fuß auf der Zierleiste ruhte. Das hier war eindeutig besser als Kino, so würde sie nach einem geglückten Q auch rauchend an ihrem Auto lehnen, so viel stand fest. Um dem Mann alle nötigen Hinweise zu geben, deutete Marita jetzt auf das Küchenfenster im ersten Stock, wir wohnen nämlich hier, und Sie, wohnen Sie in Österreich. Das war eigentlich keine Frage. Marita wusste, dass der Mann in der Pension nebenan wohnte und einer der österreichischen Ingenieure war.
Der Mann nickte, ja, aus Wien, und ohne sich umzudrehen öffnete er die linke Tür mit zwei Fingern der rechten Hand. Dann beugte er sich in den Wagen, wobei er das rechte Knie auf den Fahrersitz schob, so dass Marita das Muster auf der Unterseite der weißen Sohle sehen konnte. Dunkelblaue Blumen waren in perfekter Geometrie über die Sohle verteilt und an der Stelle, wo im Fuß diese kleine Kuhle sitzt, war ein Zauberwort eingeprägt. An den Rändern waren dicke Streifen aufgeklebt, sie liefen schräg auseinander wie Sonnenstrahlen aus blauem Schaum. Marita stellte sich vor, wie sie auf solchen Sohlen über nassen Sand lief und eine Spur aus Blumen und Sonnenschein hinterließ.
Als der Mann wieder zum Vorschein kam, hielt er zwei glitzernde Packungen in der Hand. Er drückte jeder eine in die Hand, warf die Tür zu, hob die Hand zum Gruß und nahm schon wieder Anlauf. Er hatte nicht mal ihren Dank abgewartet und sogar auf das übliche „Aberschönteilen“ verzichtet. Marita war so von Achtung erfüllt, dass sie fast geknickst hätte. Im letzten Moment konnte sie sich noch zusammenreißen, sie warf die leere Hand in die Luft, wie er es getan hatte und rief ein lässiges hey danke.
Am nächsten Tag machte Marita sich nach der Schule an die Arbeit. Sie holte einen bunten Karton hervor – farbigen Karton, hätte ihre Zeichenlehrerin dazu gesagt, wofür Marita sie hasste. Sie liebte dieses starke Papier, das in seiner Buntheit darum bettelte, für etwas Wunderbares und Geheimnisvolles benutzt zu werden. Man konnte es mit Silber- oder Goldpapier in einen Zauber verwandeln, der einen fröhlich machte. Man konnte mit dickem Filzstift Worte darauf schreiben, die niemand mehr wegmachen konnte, anders als das Füllergekritzel, das nach einiger Zeit von selber ganz blass und dumm wurde. Und dann dieses Wort – Karton – ein Wort voller Fremdheit und Abenteuer, ein Wort, das man beleidigte, wenn man es durch den Zusatz „farbig“ gewaltsam in einen langweiligen Zeichensaal zerrte, wo es gezwungen wurde, seine bunte Wildheit an dumme Weihnachtsmänner oder graue MIG 21 zu verschleudern.
Marita wählte einen grünen Bogen aus, auf den sie die braungoldenen Hölzer klebte, die sie aus der Verpackung der gestern eroberten „Wiener Baumstämme“ schnitt. Dann griff sie wieder zur Schere, um die lilafarbene Kuh aus dem Papier der Schokolade zu lösen, die Jacki bekommen hatte. Es war ziemlich schwierig, die Kuh so auszuschneiden, dass sie alle Beine behielt. Eigentlich fand Marita, dass sie zu groß für solche Basteleien war. Aber sie brauchte eine Art „Bonbon“ zur Bestechung. Sie holte aus ihrer geheimen Schublade eine kostbare Feder hervor, die sie gefunden und eingefärbt hatte. Dazu legte sie Wattebäusche und Goldpapier. Schweren Herzens trennte sie sich von einigen strahlenden Glitzerpailetten, fügte noch ein paar Tropfen von dem teuer eingetauschten echt silbernen Nagellack hinzu und machte sich wieder an die Arbeit. Es sollte schließlich ein besonders tolles „Bonbon“ werden, denn sie hatte in der letzten Nacht ihren Plan überarbeitet.
Ihr war schlagartig klar geworden, dass sie unmöglich ein Meisterdieb werden konnte, wenn ihr das nötige Werkzeug fehlte. So wie man mit braunen Schuhen keine Beulen aus Motorhauben springen konnte, konnte man kaum damit rechnen, mit Kleidung aus der Kindermode auf Cocktailpartys unauffällig zum Seyf zu gelangen. Marita war sich klar darüber, dass ihr dieses Deteil niemals hätte entgehen dürfen. Sie wollte sofort damit anfangen, sich um eine entsprechende Ausstattung zu kümmern. Weiße Turnschuhe, die eine blaue Blumenspur hinterließen, dürften genau die richtige Kleidung sein. Doch dafür brauchte sie das, was die Gäste des neuen Hotels brauchten, Waluta. Sie wusste, dass man sich auf dem Schwarzmarkt Waluta eintauschen konnte, für fünfzig Mark bekam man zehn Waluta. Marita hatte zwar keine Ahnung, in welchem Stadtteil der Schwarzmarkt lag, aber das würde sie sicher bald herausfinden. Außerdem müsste sie natürlich das Geld von den Monatskarten aufsparen. Nach zwei Jahren hätte sie hundertzwanzig Mark zusammen, wenn sie das umtauschte, sollte es für Schuhe eigentlich reichen. Natürlich würde ihr dann das Geld für die Ausbildung fehlen, aber da würde ihr schon etwas einfallen. Zuerst musste sie aber den Österreicher bestechen, damit er ihr solche Schuhe besorgte, wenn sie das Geld erst zusammen hatte. Und dafür war das „Bonbon“ gedacht.
Marita wedelte mit dem fertigen Karton herum, um zu sehen, ob auch alles hielt. Dann machte sie sich auf den Weg in seine Pension. Sie hatte sich vorgenommen, die Sache ganz vorsichtig anzugehen. Wie ein echter Profi würde sie nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen, sondern erstmal nach dem Auto fragen und dann ganz allmählich zum Thema Schuhe wechseln. Als sie dem Mann gegenüber stand, klappte alles wie am Schnürchen, er schien nicht den leisesten Verdacht zu schöpfen. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, beantwortete er ihr bereitwillig die Frage nach dem Preis für die Schuhe. Marita taumelte fast, als sie das Urteil hörte. Achthundert Schillinge hatte er gesagt. Mal fünf machte das viertausend Mark. Viertausend! Wenn sie das in Schwarzfahren umrechnete, war sie eine alte Frau, bevor sie den ersten Meisterdiebschuh in der Hand hielt.
Als Marita dann abends im Bett lag, wurde ihr klar, dass es höchste Zeit war, mit Stufe drei ihres Planes anzufangen.
Ronja BaerlinPrint