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Sandra Niermeyer
Stella
Die drei Bücher standen in der Stadtbibliothek ganz unten im Regal. Stella hatte sie entdeckt, weil ihr die Tasche vom Arm gerutscht war und sie sich danach bücken mußte. Die Bände wurden von einem Lesestuhl vollständig verdeckt, hatten Staub auf dem Einband. Die hat seit Jahren keiner gelesen, sagte Stella. Sie schob die Bücher nach hinten, stellte andere davor. Einen Mitgliedsausweis hatte sie nicht, sie las die Romane immer in der Bibliothek, weil sie sich die Ausleihgebühr nicht leisten konnte. Lukas Doehl hieß der Autor. Ich hatte den Namen noch nie gehört.

Ich wischte die Hände an der Schürze ab und stellte Stellas Tasche auf den Küchentisch. Unsere Küche sah zusammen gewürfelt aus. Kein Schrank paßte zum anderen. Der Gasherd war in einem Format, das heute nicht mehr hergestellt wurde. Stella war aufgeregt. Ich möchte alle drei Bücher hintereinander lesen, sagte sie, sie sind nur sehr dünn.
Ich ließ Wasser in die blaue Fußwanne und stellte sie auf die karierten Fliesen, weiße und graue Quadrate. Stella zog ihre Schuhe und Strümpfe aus, sie hatte schwarze Flusen unter den Zehennägeln. Sie setzte sich auf einen Hocker und tauchte ihre Füße ins Wasser. Ihre Füße waren blaß und schmal. Sie sog die Luft ein. Ist es zu heiß? fragte ich. Ich nahm einen Zahnputzbecher, wir nutzten die Spüle auch als Waschbecken, mit kaltem Wasser und schüttete ihn in die Wanne. Dann setzte ich mich ihr gegenüber und tauchte meine Füße ebenfalls in das schaumige Wasser. Der Schaum trat über den Rand und tropfte auf die Fliesen. Stella wackelte mit den Zehen. Donnerstags hat die Bibliothek bis 20 Uhr auf. Aber das schaffe ich vermutlich nicht. Zusammen haben die Bücher über 500 Seiten.
Stella trug eine Brille, die ihre Augen klein aussehen ließ. Wenn sie las, kniff sie ihre Lider alle paar Minuten zusammen, bis sich Tränen in den Augenwinkeln sammelten. Sie sah aus, als würde das Lesen sie zu Tränen rühren. Ich stieß gegen ihre Zehen, sie fühlten sich glitschig an. Neun Stunden, sagte ich, die Bibliothek hat am Donnerstag neun Stunden geöffnet. Trotzdem, sagte sie, das schaffe ich nicht. Sie beugte sich vor und drückte gegen die Adern an ihrem rechten Bein, die sich wie Flußläufe auf einer Landkarte schlängelten. Heute sind sie dicker als sonst. Ich sagte nichts. In ihrer Kniekehle waren kleine Adernester, die dunkelblau, fast schwarz wurden, wenn sie zu lange auf den Beinen war. Ich stieß wieder gegen ihre Zehen, eine Fluse taumelte nach oben an die Wasseroberfläche.

Nachts weckte sie mich. Wir lassen uns einschließen, sagte sie. Ich wußte sofort, was sie meinte. Warum wir, fragte ich. Weil ich alleine Angst habe. Sie sah mich bittend im Halbdunkel an. Ich drehte mich auf die andere Seite. Ich muß darüber nachdenken, sagte ich, ob ich eine ganze Nacht außerhalb meines Bettes verbringen will. Ich hörte, wie sie sich in ihr Kissen zurücksinken ließ, die Federn knisterten. Sie lag noch lange wach, manchmal seufzte sie. Ich bemühte mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, wie eine Schlafende. Ich versuchte meinen Schlaf zu imitieren, den Stella besser kennen mußte als ich, sie lag oft wach. Manchmal knipste sie eine kleine Leselampe an und las eins der wenigen Bücher, die sie besaß. Zerlesene Taschenbücher, die sie fast auswendig konnte.

Ich konnte auf ihren Kopf sehen, in all den Jahren, in denen ich sie kannte, hatte sich das nicht geändert. Ich sah ihren Haaransatz grau nachwachsen, bevor sie es sah. Wir gingen beide etwas gebeugt, dadurch hatte sich unser Größenverhältnis nie geändert. Als wir zwölf waren, waren wir an den Teich im Heimathof gegangen und hatten die Enten gefüttert. Wie zwei alte Omas, sagte sie damals, vielleicht kommen wir in sechzig Jahren immer noch hierher.
Genau das taten wir, jeden Freitagnachmittag, und jedes Mal sagten wir den Satz, den sie damals gesagt hatte. Wir ließen aus, daß wir vierzig Jahre keinen Kontakt gehabt hatten, daß wir uns vierzig Jahre nicht gesehen hatten, nicht geredet, nicht telefoniert, weil wir uns auseinandergelebt hatten, weil sie geheiratet und zwei Töchter bekommen hatte und ich nicht. Erst als ihr Mann gestorben war und ihre Töchter mit zwei Amerikanern verheiratet waren und in Georgia und Arkansas lebten, rief sie mich eines Tages wieder an, ganz selbstverständlich, als hätten wir uns vor einer Woche das letzte Mal gesprochen. Sie erzählte nie von ihrem Mann, von ihren Töchtern, wir knüpften dort an, wo wir vor vierzig Jahren aufgehört hatten. Wir nahmen eine gemeinsame Wohnung, wie wir es nach der Schule immer hatten tun wollen und nie getan hatten. Von ihrem Mann bekam sie eine bescheidene Witwenrente und von ihren Töchtern zum Geburtstag und zu Weihnachten eine Karte. Das war alles, was aus ihrem anderen Leben in unsere Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung drang. Ich fragte sie nie, weil ich nichts wissen wollte, und sie fragte mich ebenfalls nie, wir lebten zusammen, als hätten wir nie etwas anderes getan. Ihren Ehering trug sie nicht mehr. Als sie sich aus dem linken Bein die Krampfadern ziehen ließ, hielt ich ihre Hand. Die Krampfadern im rechten ließ sie, weil sie sich die Tortur nicht noch einmal antun wollte. Sie legte das Bein hoch, in der Wohnung, in der Bibliothek.

Am nächsten Morgen beim Frühstücken sah sie mich nicht an. Sie wartete, daß ich ja sagen würde, und sie wußte, daß ich es sagen würde, genau wie ich es wußte. Sie tauchte den Löffel in ihre Haferflocken und schlürfte die Milch bedächtig. Ich war immer schon fertig, bevor sie die halbe Schüssel leer gegessen hatte. Wann willst du dich einschließen lassen, fragte ich. Sie sah nicht auf. Heute.

Wir gingen um kurz vor 18 Uhr zur Bibliothek, ich hatte zwei Kissen in meiner Umhängetasche. Sie war aufgeregt, redete viel, manchmal faßte sie nach meiner Hand, wenn eine Ampel umsprang und wir eine Straße überqueren mußten, ganz kurz nur, als müßte sie sich versichern, daß ich noch da war.
Die Bibliothek war groß und unübersichtlich. Unter einer Glaskuppel standen lange Regalreihen. Vor jedem Gang stand ein Schild mit dem Alphabet, das die einzelnen Buchstaben den Abteilungen zuordnete. E für Romane, F für Sachbücher, R für Nachschlagewerke. Ich hatte das System nie verstanden bei den wenigen Malen, die ich in der Bibliothek gewesen war. Das Licht durch die Glaskuppel wurde langsam fahler und gelblich, elektrisches Licht flammte auf. Der Bereich vor den Kassen war groß wie eine Wandelhalle und weiß gefliest. Wo sollen wir uns verstecken, fragte ich. Nicht auf der Toilette, sagte sie, die wird abgeschlossen. Wir setzten uns in einen abgetrennten Raum mit Reiseführern und warteten. Stella riß die Haut an ihren Fingernägeln ab. Ich sah die kleinen Blutströpfchen, die sich unter den Nägeln verteilten. Ich blickte immer wieder auf die Uhr. Im hinteren Teil der Bibliothek verlöschte das Licht, nur vorne am Tresen brannte es noch. Zwei verspätete Kunden standen dort und ließen ihre Ausleihfrist verlängern. Ich sah an den Regalen mit Reiseführern entlang. Thailand, Mexico. Länder, in denen ich nicht gewesen war, und in die ich auch nicht mehr kommen würde. Der Fußboden knackte. Wenn hier jemand herein kommt, flüsterte ich. Dann setzen wir uns hinter den Kopierer. Sie deutete auf ein großes Gerät in einer Ecke. Ein vorsinntflutliches Ungetüm. Um 18.30 Uhr verlöschten die letzten Lichter, wir warteten noch eine viertel Stunde, ob noch ein Hausmeister oder eine Putzfrau kommen würde, dann gingen wir in die Abteilung Belletristik. Hier ist er. Sie rückte den Lesestuhl zur Seite und zog die drei Bücher von Lukas Doehl hervor, die sie hinter anderen Büchern versteckt hatte. Er hat auf mich gewartet. Sie drückte die Bücher vor die Brust und verschränkte die Arme wie einen Schutzwall.
Durch das Glasdach fiel nur noch wenig Licht. Wie willst du sie lesen, flüsterte ich, es wird immer dunkler. Sie grinste mich an. Ich habe eine Taschenlampe und Kerzen dabei. Wir legten unsere Kissen auf den Boden und sie stellte Teelichter und Kerzen im Halbkreis darum auf. Für mich hatte sie eine Decke mitgebracht. Du kannst schlafen, wenn du willst, sagte sie, aber ich kann dir auch etwas vorlesen. Lies du, sagte ich, und ich schlafe. Ich streckte mich auf dem harten Boden aus, ich konnte überall schlafen. Obwohl ich dünn war wie ein Strich und meine Knochen spitz durch das Fleisch stachen, hätte ich auch auf Zementfußboden schlafen können. Sie holte einen zweiten Stuhl heran, setzte sich und legte ihr Bein hoch. Sie blies den Staub von den Einbänden, wischte einen Fleck vom Umschlag, den nur sie sehen konnte, und schlug das erste Buch auf, als wickele sie ein Geschenk aus. Sie knipste die Taschenlampe an und der Schein fiel von den Seiten zurück auf ihr Gesicht. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck sehen, sie sah fast glücklich aus, so sah ich sie selten. Paß auf, daß die Bücher nicht Feuer fangen, murmelte ich. Dann drehte ich mich auf die andere Seite und schlief ein.
Nachts wachte ich auf, weil ich zur Toilette mußte. Ich hatte stundenlang in einer Position gelegen, meine Schulter schmerzte. Stella lag neben mir, mit dem Kopf auf dem Kissen und hielt das zweite Buch in der Hand. Die Kerzen waren fast heruntergebrannt. Sie kniff ihre Augen zusammen, weil die Flamme flackernde Schatten über die Seite warf. Ist die Batterie der Taschenlampe leer, fragte ich. Nein, aber ich will sparen. Sie blätterte eine Seite um. Wie ist es, fragte ich. Sehr gut. Sie wandte ihren Kopf zu mir und strahlte mich an. Ein guter Autor, vielleicht der Beste, den ich jemals gelesen habe, und niemand außer mir kennt ihn. Der Verlag kennt ihn, sagte ich, und der Lektor. Sie schlug das Buch vorne auf. Er ist längst vergessen, das Buch ist in den sechziger Jahren heraus gekommen und da war er schon fast vierzig Jahre tot.
Hinten im Buch steckte eine Stempelkarte, wie sie früher in Bibliotheken benutzt wurden. Das Buch war einmal 1965 und einmal 1967 ausgeliehen worden, danach nicht mehr. Ich drehte mich auf die andere Seite, meine Blase drückte. Wie lange noch, fragte ich über die Schulter. In sechs Stunden schließen sie wieder auf, murmelte sie. Zur Not würde ich einen Papierkorb benutzen müssen.
Als ich das zweite Mal aufwachte, war der Raum fast hell. Stella hatte alle drei Bücher durchgelesen und saß auf dem Stuhl. Die Kerzen hatte sie ausgeblasen. Es war toll, sagte sie. Meinst du, daß er nur die drei Bücher geschrieben hat? Ich zuckte die Schultern. Wir könnten im Internet nachsehen, sagte sie. In der Mitte der Lesehalle standen zwei Computer mit Internetanschluß. Wenn man sie benutzen wollte, mußte man einen Schlüssel von der Kasse holen und nachher eine Gebühr entrichten. Stella holte den Schlüssel und legte ein paar Cent auf den Schreibtisch. Wir setzten uns vor den Bildschirm und ich schaltete den Computer an. Tipp den Namen ein, sagte Stella. Er muß erst noch hochfahren, sagte ich. Jetzt, sagte sie, als ein paar Zeilen erschienen, weiße Buchstaben auf schwarzem Grund. Sie hielt ihr Gesicht ganz dicht vor den Bildschirm und runzelte die Stirn. Endlich kam der Desktop. Jetzt, sagte sie noch einmal, du kannst doch tippen. Du warst doch Sekretärin.
Vor Computern hatte ich selten gesessen. Ich schaffte es, die Verbindung zum Internet aufzubauen, fand die Seite eines Buchhandels und tippte den Namen Lukas Doehl ein. Drei Bücher erschienen. Die drei, die Stella gelesen hatte. Sie waren alle drei vergriffen und hatten nur eine Auflage erlebt. Stella zog ihren Kopf vom Bildschirm zurück und sah mich glücklich an. Ich habe alle Bücher von ihm gelesen, sagte sie, alle, die es gibt. Und ich bin die Einzige.
Als die Bibliothek aufgeschlossen wurde, setzten wir uns wieder in den Kopierraum zu den Reisebüchern. Nach einer halben Stunde gingen wir wie selbstverständlich aus dem Raum und verließen die Bibliothek. In Stellas Tasche klimperten die leeren Teelichter. Ich ging unbeholfen, meine Knochen fühlten sich müde an. In einem Café ging ich zur Toilette. Ich weiß, wo er begraben ist, sagte sie als ich wiederkam, das stand hinten auf dem Schutzumschlag. Sie hatte die Hände um ihre Kaffeetasse gelegt. Etwas zu essen bestellten wir nicht, obwohl mein Magen knurrte. Wo, fragte ich. Achthundert Kilometer von hier. Sie trank einen Schluck Kaffee und sah mich an. Es gibt jetzt etwas, das ich unbedingt noch vor meinem Tod sehen will.
Oh nein, sagte ich. Doch, sagte sie. Jeder hat etwas, das er unbedingt noch vor seinem Tod sehen oder erleben will, manche wollen nach Australien, andere nach Paris, wieder andere wollen ihre alte Heimat wiedersehen, nur ich hatte nie etwas. Jetzt habe ich es.
Wir können es uns nicht leisten, sagte ich. Wie sollen wir dahin kommen. Bahnfahren ist teuer, Fliegen auch, wir müssen uns ein Zimmer dort nehmen, für mindestens eine Nacht, wie stellst du dir das vor? Wir sind alt und waren schon seit Jahren nicht mehr im Urlaub. Sie hörte mich gar nicht. Sie trank ihren Kaffee und war mit ihren Gedanken woanders.
Auf dem Rückweg kamen wir an einem Reisebüro vorbei und sie ging hinein und nahm mehrere Kataloge mit. Zu Hause kochte ich uns noch einen Kaffee. Stella setzte sich aufs Sofa, legte ihr Bein hoch, und blätterte in den Katalogen. Sie schien überhaupt nicht müde zu sein. Mir fielen fast die Augen zu. Ich drückte ihr einen Kaffeebecher in die Hand und setzte mich neben sie. Ihre Haare mußten gefärbt werden, der Haaransatz war deutlich zu sehen. Ich sagte nichts. Jedes Mal, wenn ich ihr sagte, sie müsse zum Friseur, sah sie mich fast erschrocken an. Schon wieder, fragte sie, ich war doch gerade erst, schon wieder so viel Geld ausgeben. Sie blätterte in den Katalogen und trank ihren Kaffee. Ich stand auf und goß die Blumen, die alle Stella gehörten. Sie hatte sie aus ihrer alten Wohnung mitgebracht. Das war fast der einzige Besitz in unserer Wohnung, der ihr gehörte, die restlichen Sachen gehörten mir, nur das Bett hatten wir neu gekauft, ein Ehebett, zwei einzelne Betten hätten in den Raum nicht hineingepaßt. Wir stiegen aus dem Bett, indem wir bis zum Fußende rutschten und über den Holzrand kletterten. Neben dem Bett war nicht einmal genug Platz für eine Lampe. Am Anfang hatte ich mich beengt gefühlt, an der einen Seite eine Wand, an der anderen Seite Stella, das war ich nicht gewohnt, ich hatte immer alleine geschlafen, aber dann hatte ich mich damit abgefunden und so tief und fest geschlafen wie immer.
Wir fahren mit einem Busunternehmen, sagte Stella, als ich mit der Gießkanne ins Wohnzimmer kam, es ist das billigste. Bist du schon mal mit einem Busunternehmen gefahren, fragte ich, weißt du, was das für Touren sind? Rentnertouren.
Dann ist es ja genau das Richtige für uns. Sie zog einen Mundwinkel nach oben.
Ich kannte diesen Ausdruck. Wenn sie zu etwas entschlossen war, ließ sie sich durch nichts davon abbringen.

Sie kaufte drei Wochen nur Toastbrot und billige Margarine, bis wir Verstopfung davon bekamen. Wenn ich klagte, daß ich das Brot nicht mehr sehen könne, daß es wie Gummi sei, rechnete sie mir vor, wieviel wir dadurch jeden Tag sparten.
Sie zitierte Stellen aus seinen Büchern. Mein Schriftsteller, sagte sie, mein eigener Schriftsteller, ich habe ihn entdeckt. Sie sah verliebt dabei aus. Sie schien ganze Seiten auswendig gelernt zu haben. Wenn wir das Toastbrot kauten, sprach sie Sätze von ihm mit vollem Mund. Das Einzige, was ich verstand, war, daß er sehr einsam gewesen sein mußte und den Kontakt zu Menschen gemieden hatte. Er kam mir nicht näher, egal wieviel sie erzählte. Stella ging durch alle Antiquariate in der Stadt und fragte nach seinen Büchern, aber sie fand sie nicht. Sie war zufrieden. Sie hatte uns für eine dreitägige Bustour angemeldet. Als ich sie auf ihr Bein ansprach, antwortete sie nicht sofort. Es wird schon gehen, sagte sie. Danach war sie den ganzen Tag auffallend still und tastete ihr Bein ab, wenn ich nicht hinsah.
Ich holte meinen alten Fotoapparat hervor und kaufte zwei Filme. Die Fahrt würde einen ganzen Tag dauern, hatte ich im Katalog gelesen. Stella saß fast nur noch auf dem Sofa und legte ihr Bein hoch. Abends beim Fußbad knetete sie ihre Wade und drückte auf die Adernester in ihrer Kniekehle. Ich stieß wie aus Versehen gegen ihre Zehen, um sie abzulenken.

Dann kam der große Tag. So nannte Stella ihn. Wir gingen morgens um fünf zum Busbahnhof, beide nur mit einer kleinen Reisetasche, damit wir nicht soviel tragen mußten. In Stellas Tasche war unser Haarfön, in meiner Nähzeug und die Hausapotheke. Das Schuhputzzeug hatte ich im letzten Moment noch ausgepackt. Ungefähr zwanzig Reisende standen an der Haltestelle und warteten. Sie waren alle etwas jünger als wir, in den Sechzigern. Sie lachten und kicherten und schienen sich untereinander zu kennen. Was habe ich gesagt, sagte ich zu Stella, der Kegelclub fährt mit. Sobald wir da sind, trennen wir uns von ihnen, sagte sie, wir nehmen an keinem der Ausflüge teil, erst zur Rückfahrt finden wir uns wieder am Bus ein.
Wir wählten einen Platz vorne im Bus, weit von den anderen entfernt. In der Mitte des Busses blieben einige Plätze frei. Auf der Rückbank saßen drei Rentnerehepaare. Sie waren die Wortführer. Sie erzählten laut und viel und ernteten für jeden ihrer Sätze Lacher von den anderen. Sie holten schon eine Schnapsflasche heraus, bevor der Bus überhaupt losgefahren war. Als die Flasche bei uns vorne ankam, lehnten wir dankend ab, und waren damit als Spielverderber angesehen. Die beiden Nonnen auf der ersten Bank, hörte ich jemanden sagen. Sie erzählten sich untereinander von den anderen Bustouren, die sie zusammen unternommen hatten, und fielen sich gegenseitig ins Wort, wenn es anders gewesen war, als der Erzähler behauptete. Noch bevor der Bus auf die Autobahn fuhr, legte der Fahrer eine Kassette mit Schlagern ein, die er von einem der Reisenden in die Hand gedrückt bekommen hatte. Stella sah mich verzweifelt an. Wir waren entschiedene Schlager-Hasser. Wir hörten entweder Klassik oder die Beatles. Was habe ich gesagt, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Die hintere Bank hakte sich unter und begann zu schunkeln. Lauter, riefen sie nach vorne. Der Busfahrer drehte die Lautstärke hoch. Ich schloß die Augen.
Nach drei Stunden wurde Stella unruhig. Sie stemmte ihr Knie gegen den Vordersitz und setzte sich aufrechter hin. Willst du dein Bein auf meinen Schoß legen, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Kannst du aber ruhig, sagte ich. Sie war blaß. Schließlich schob sie ihr Bein zwischen die beiden Vordersitze, auf denen keiner saß, und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich blies ihr auf den Scheitel, ihre Haare teilten sich. Muß ich zum Friseur, fragte sie.
Als wir an einer Raststätte hielten, sah ich, daß Stellas Bein geschwollen war. Die Knöchel waren kaum noch zu sehen. Im Waschraum zog sie ihre Strümpfe aus und hielt das Bein unter kaltes Wasser. Ich stützte sie. Sie stand wackelig auf einem Bein wie ein Storch. Zwei Frauen aus unserer Gruppe kamen aus den Toiletten und sahen uns stirnrunzelnd an. Hätten lieber im Altenheim bleiben sollen, hörte ich, als sie durch die Tür nach draußen gingen. Sie sagten es so laut, daß sie sicher sein konnten, von uns verstanden zu werden.
Stellas Fuß war schneeweiß, wie erfroren. Ich drückte den Temperaturregler des Wasserhahns nach unten und reichte ihr Papiertücher aus dem Spender.

Wir fuhren über die Grenze und Stella drehte sich nach den fremden Straßenschildern mit den fremden Buchstabenkombinationen um. Sie versuchte, die Namen zu lesen und bewegte dabei tonlos ihre Lippen.
Den Rest der Fahrt schlief ich. Als wir ankamen, hatte Stella dunkle Ränder unter den Augen. Sie schwankte beim Gehen. Im Hotel legte sie sich aufs Bett und stützte ihre Beine gegen die Wand. Unser Zimmer war rosa eingerichtet. Rosa Wände, rosa Bettwäsche. Ich suchte im Radio über dem Bett einen Sender, der keine Schlager spielte. Ich fand einen Klassiksender und drehte die Musik laut. Für den Abend war ein Besuch in einem Variete geplant, an dem wir nicht teilnahmen. Am nächsten Tag stand ein Ausflug zur Burg auf dem Programm, zu dem wir ebenfalls nicht mitfuhren. Vom Reisepreis war uns trotzdem nichts abgelassen worden.
Wir hatten nur einen Tag, um das Grab zu finden, und Stella hatte keine weiteren Angaben als die, die auf dem Schutzumschlag und in der Zeittafel hinten im Buch gestanden hatten.

Wir frühstückten eher als die anderen, und machten uns schon auf den Weg, als die ersten aus der Gruppe den Speisesaal betraten. Sie sahen uns an und flüsterten miteinander, ihre Blicke immer noch auf uns gerichtet. Stella sah erholt aus, sie hatte gut geschlafen und wirkte tatendurstig. Sie warf einer der Frauen, der wir in der Toilette begegnet waren, ein gutgelauntes Guten Morgen entgegen und zuckte mit den Schultern, als keine Erwiderung kam.
Am Abend zuvor hatten wir in einer Wechselstube Geld gewechselt und einen Stadtplan gekauft, nun suchten wir eine Touristeninformation. Stella schob mich vor. Frag du, sagte sie, frag ihn nach dem Grab. Ich sprach den Mann hinter dem Schreibtisch auf englisch an und er antwortete mir auf deutsch. Wissen Sie, wo das Grab von Lukas Doehl ist, fragte ich. Lukas Doehl, sagte er, nie gehört. Fragen sie meine Kollegin. Er deutete auf eine Frau hinter einem anderen Schreibtisch, vor dem eine lange Schlange stand. Wir stellten uns hinten an. Frag du wieder, sagte Stella, du kannst besser englisch. Ich glaube, die können hier deutsch, sagte ich. Trotzdem. Die Frau sah mich unter geschminkten Lidern an. Sie hatte hochtoupierte Haare. Eine Frisur, die man bei uns seit Jahrzehnten nicht mehr trug. Lukas Doehl, sagte sie, sie sprach den Namen seltsam aus, der liegt auf dem alten deutschen Friedhof. Sie holte einen kleinen Zettel mit einem Ausschnitt des Stadtplans hervor und tippte mit langen violetten Fingernägeln auf eine Stelle am oberen Rand der Karte. Hier, sagte sie. Können Sie es einzeichnen, fragte ich. Sie sah mich an, als hätte sie es mit einer Debilen zu tun, dann holte sie einen Kugelschreiber und machte ein kleines Kreuz an die Stelle. Wir bedankten uns und verließen das Büro. Stella sprang draußen auf und ab. Wir finden es, wir finden es, sagte sie, es ist gar nicht weit von hier, oder? Ich hielt den Kartenausschnitt über den großen Stadtplan. Es ist nur drei Straßen weiter, sagte ich. Stella rannte fast, ihre Schritte waren plötzlich länger als meine. Sie nahm mich bei der Hand und zog mich hinter sich her. Ich mochte ihre kleinen trockenen Hände, die wie zerbrechliche Vögel in meiner Hand lagen. Heute war ihr Griff fest und entschlossen.
Der Friedhof war vollständig zugewachsen. Uralte, verwitterte Grabsteine, die einen aussichtslosen Kampf gegen Moos und Gras führten. Die Namen auf den Steinen waren kaum noch zu erkennen. Kann es hier sein, fragte Stella, er ist doch erst in den zwanziger Jahren gestorben. Sein Grabstein kann doch noch nicht so verwittert sein. Wir gingen an den Steinen vorbei und versuchten die Schrift zu lesen. Die sind ja schon fast antik, sagte Stella.
Ein Mann kam uns entgegen. Er trug grüne Gärtnerkleidung und eine Schirmmütze. Wie sind Sie hier hereingekommen, fragte er. Er sprach uns auf deutsch an. Ich hatte einmal gehört, die Nationalität könnte man an den Schuhen erkennen, wir trugen Gesundheits­schuhe. Die Frauen hier, auch die Älteren, trugen eher unbequeme Schuhe, mit denen sie über das Kopf­stein­pflaster klackerten. Fast alle hatten Hammerzehen und lackierte Fußnägel. Ich deutete auf eine Lücke im Zaun, durch die wir gegangen waren. Von dort, sagte ich. Sie müssen Eintritt bezahlen, sagte er. Sie dürfen den Friedhof nur von der anderen Seite betreten, dort können sie ein Ticket lösen. Eintritt? echote Stella. Sie klang empört. Liegt hier Lukas Doehl, fragte ich dazwischen. Lukas Doehl, sagte er, nie gehört. Stella drängte sich an meinem Rücken vorbei, hinter den sie sich gestellt hatte, als der Mann auf uns zugekommen war. Wann wurde hier der letzte beerdigt? Ihre Stimme hatte einen Befehlston angenommen. Der Mann kratzte sich am Kopf. Achtzehntes Jahrhundert, meinte er dann, vielleicht noch früher. Was? fragte Stella. Dann kann er hier ja gar nicht liegen. Der Mann zuckte die Schultern. Sie müssen auf jeden Fall eine Eintrittskarte lösen, sagte er. Wir gehen wieder, sagte Stella. Sie ging mit gesenktem Kopf. Ich trottete hinter ihr her.
Auf dem Rückweg durch die Stadt regte sie sich über die Frau im Informationsbüro auf. Wie kann sie so tun, als würde sie ihn kennen und dann behaupten, er liege auf einem Friedhof, auf dem der Letzte im achtzehnten Jahrhundert beerdigt wurde?
Vielleicht hat sie ihn mit jemandem verwechselt, sagte ich. Stella schüttelte den Kopf. Irgend jemand muß ihn hier kennen, es ist keine Millionenstadt und er war Schriftsteller.
Der Prophet gilt nichts in seinem Dorf, sagte ich.
Wir setzten uns auf eine Bank und aßen zwei Brötchen, die wir aus dem Speisesaal mitgenommen hatten. Wir hatten sie vom Teller auf die Serviette auf unserem Schoß geschubst. Stella schob jeden Bissen im Mund umher und hatte noch nicht mal eine Hälfte gegessen als ich mein Brötchen schon aufgegessen hatte und hungrig auf ihres blickte.
Wir könnten in einer Buchhandlung fragen oder in einer Bibliothek, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf. Wir fragen in einem anderen Informationsbüro, es muß noch einen deutschen Friedhof geben, sagte sie.
Die Frau in dem anderen Büro war sehr alt. Sie holte einen kleinen vergilbten Zettel aus einer Schublade, auf dem der Weg zum neuen deutschen Friedhof eingezeichnet war. Sie hatte mehrere von solchen Zetteln. Fragen oft Leute nach ihm, fragte Stella. Ich sah, wie sie eine Hand verkrampfte, als sie die Antwort abwartete. Nein, sagte die Frau, seit Jahrzehnten schon nicht mehr. Stella strahlte, gut. Sie nahm den Zettel in die Hand und hielt ihn dicht vor ihre Augen. Sie müssen mit der U-Bahn fahren, sagte die Frau, der neue deutsche Friedhof liegt außerhalb, acht Stationen von hier. Wo ist die nächste Haltestelle, fragte Stella. Gleich hier vor der Tür. Die Frau wies aus dem Fenster. Sie müssen eine Karte für eine Langstrecke lösen.
Wir bedankten uns und gingen nach draußen. Stella hielt den Zettel fest umklammert. Sie sah besorgt aus.
In der Station war es zugig, alles war uralt. Die Bodenfliesen waren durchgetreten, das Fliesenmuster an der Wand an mehreren Stellen abgebröckelt. Es roch nach Urin. Wir lösten eine Karte am Ticketautomaten und gingen zu den Rolltreppen. Die Treppen waren steil und lang und schneller als jede Rolltreppe, mit der wir jemals gefahren waren. Ich hielt Stella fest, als wir auf die Treppe sprangen. Der Blick nach unten war wie der Blick von der höchsten Stelle einer Loopingbahn. Die Treppe schien mit unglaublicher Geschwindigkeit in einen Abgrund zu rasen. Ich drehte mich um und sah Stella ins Gesicht. Ihre Haare wehten nach hinten. Ihre Augen hatte sie zusammengekniffen, kleine Tränen sammelten sich in den Winkeln. Sie hielt sich an beiden Handläufen fest. Sieh nach vorne, sagte sie, paß auf. Die Treppe schien immer schneller zu werden, sie näherte sich dem Ende, die untersten Stufen fraßen sich in den Boden. Ich hielt Stella fest, als wir absprangen. Sie schrie kurz auf, als sie umknickte. Dann richtete sie sich auf und grinste. Fast hätte es uns verschluckt, sagte sie. Wir brachten unsere Haare in Ordnung, Stella hatte einen kleinen Kamm und Taschenspiegel dabei, und warteten auf die Bahn. Meinst du, es ist die Richtige, fragte Stella aufgeregt, als sie auf die Anzeige sah. Ich nickte.
Die Bahn kam drei Minuten zu spät. Wir stiegen ein und hielten uns an den Schlaufen fest, die von der Decke hingen. Setzen wollten wir uns nicht, aus Angst, nicht schnell genug hochzukommen, wenn die Bahn unsere Haltestelle erreichte. Stella hielt mit der anderen Hand das Ticket und die Wegbeschreibung festumklammert. Sie sah starr nach draußen. Was ist, fragte ich. Sch, sagte sie, ich zähle. Sie zählte die Stationen. Als die Bahn das achte Mal hielt, riß sie mich am Arm mit nach draußen. Hier ist es, sagte sie. Mit uns waren nur einige andere ausgestiegen. Wir standen in einer alten Halle, die drei Ausgänge hatte. Welchen nehmen wir, fragte ich. Stella sah auf die Wegbeschreibung. Das steht hier nicht. Sie drehte den Zettel um. Auf der Rückseite stand ein Straßenname. Wir sahen auf die Hinweisschilder. Der Name war nirgendwo ausgeschrieben. Laß uns einfach den anderen dreien folgen, sagte ich. Wir gingen den dreien, einem Mann und zwei Frauen, hinterher und standen schließen auf einer stark befahrenen Straße. Stella drehte sich ein paar Mal um ihre eigene Achse. Dort ist er, rief sie schließlich. Auf der anderen Seite war eine Friedhofsmauer, vor der ein österreichischer Reisebus stand. Wir überquerten die Straße und betraten den Friedhof.
Plötzlich war alles ganz still. Der Straßenlärm war nicht mehr zu hören, als würde die Mauer alle Geräusche schlucken. Der Friedhof war groß. Es gab mehrere Wege. Wir sollen wir ihn bloß finden, sagte ich, wir müssen ja jedes Grab ablaufen, hat er wenigstens einen Grabstein? Stella nickte. Einen Obelisken, sagte sie. Ich wunderte mich, daß so genaue Angaben in dem Buch gestanden hatten. Wir wählten einen der Wege und lasen alle Inschriften auf den Grabsteinen. Es waren neue Steine, die Todesdaten waren noch nicht lange her. Die meisten waren in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gestorben. An einer Weggabelung sahen wir plötzlich einen Hinweispfeil mit einem Namen darauf. Lukas Doehl stand auf dem Pfeil. Das Schild sah neu aus. Er ist ausgeschildert, sagte Stella, er hat ein Hinweisschild. Sie drehte sich um und sah mich ungläubig an. Dann steckte sie den Zettel in ihre Hosentasche und ging weiter, dem Pfeil nach. Aus der Ferne sahen wir, daß der Weg gesperrt war, rotweiß gestreifte Absperrungen blockierten ihn. Dahinter standen zwei Bauarbeiter, sie gruben irgend etwas aus oder verbreiterten den Weg. Wir gingen langsam auf die Absperrung zu. Hier geht es nicht weiter, flüsterte Stella, wir kommen nicht zum Grab. Einer der Bauarbeiter richtete sich auf und deutete mit dem Arm in eine Richtung. Er schien genau zu wissen, was wir suchten. Wir bogen vor der Absperrung in die Richtung ab, die er uns gezeigt hatte, und liefen zwischen zwei Gräberreihen durch dichtes Efeu. Stella ging vor mir, sie hob die Beine wie ein Storch. Ich kam kaum hinterher. Meine Füße taten weh, wir waren den ganzen Tag unterwegs, und ich war diejenige, die erschöpft war, nicht Stella. Am Ende der Gräberreihe hörten wir Stimmengewirr. Stella sah sich zu mir um. Sie runzelte die Stirn. Wir bogen um die Ecke und sahen eine Gruppe Jugendlicher. Sie standen vor einem Grab um eine Reiseleiterin gescharrt, die ihnen etwas erklärte. Eine Schulklasse, sagte Stella. Sie sah mich wieder an. Wir kletterten über zwei Gräber und gesellten uns zu der Klasse. Stella richtete sich auf Zehenspitzen und versuchte über ihre Köpfe zu sehen, aber die Jugendlichen waren alle größer als sie. Der Obelisk, sagte sie. Sie setzte die Fersen wieder auf. Die Reiseleiterin erklärte. Lukas Doehl, sagte sie, wurde wiederentdeckt. Nachdem sich jahrelang niemand für ihn interessierte, erlebt er jetzt plötzlich eine Wiedergeburt. Stella ließ ihren Kopf sinken, sie sah auf den Boden, ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, sie tat mir leid, ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Die Reiseleiterin fuhr fort. Er hat zum Schluß mit vier Männern in einem Krankenzimmer gelegen, sagte sie, er, der sein Leben lang gerne alleine war, mußte seine letzten Tage mit vier Männern in einem Zimmer verbringen. Sie können sich lebhaft vorstellen, wie das für ihn gewesen sein muß. Die Lehrerin nickte wissend. Die Schüler sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Einige rauchten oder sahen auf die Displays ihrer Handys. Man merkte, daß die Führung ihnen schon viel zu lange dauerte. Er war Teilhaber an einer Asbestfabrik, um sein Schreiben zu finanzieren, sagte die Reiseleiterin. Das ist überhaupt nicht wahr, zischte Stella zwischen ihren Zähnen, sie hat keine Ahnung, sie verdreht alles, sie hat ihn wahrscheinlich nie gelesen. Sie sagte das so leise, daß nur ich es hören konnte. Ein paar Schüler drehten sich um und sahen uns an. Und wenn sie ihn gelesen hat, dann hat sie ihn nicht verstanden. Ich faßte ihren Arm und zog sie zu einer Bank. Wir setzten uns und sahen der Gruppe zu. Die Schüler kauten Kaugummi und wurden zunehmend apathischer, nur die Lehrerin nickte nach jedem Satz der Reiseleiterin. Schließlich gingen sie. Der Obelisk stand frei. Das Grab war das einzige, das nicht zugewuchert war. Über die anderen Gräber rankte Efeu, auf diesem lagen Zettel mit Steinen beschwert und einzelne Blumen. Schade, sagte Stella, schade. Sie sah auf ihre Füße. Geh zum Grab, ich stieß sie an, da kommen schon wieder welche. Auf dem Weg, den wir entlang gegangen waren, näherte sich ein Pärchen. Stella ging zu dem Grab und kniete sich hin. Sie hielt ihren Kopf schräg und las einen der Zettel. Von einem Japaner, sagte sie zu mir gerichtet. Beeil dich, sagte ich, die beiden kommen näher. Sie legte etwas zwischen die Steine, das ich nicht sehen konnte, es blinkte kurz in der Sonne, dann richtete sie sich auf und sah auf den Obelisken. Es war ganz still, das Pärchen war nicht mehr zu hören, nur in der Ferne knackten ein paar Zweige. Sie beugte sich vor, las die Inschrift. Sie blieb lange so stehen. Der Wind fuhr in das Haar auf ihrem Hinterkopf, hob es an und zeigte den grauen Ansatz. Ich holte den Fotoapparat aus meiner Tasche und fotografierte sie.

(2004)

Sandra Niermeyer    30.07.2009    
Sandra Niermeyer
Prosa