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Silvia Wolkan
Hilda
Hilda kommt nachts. Sie klopft mit dem Fingerknöchel an mein Fenster. Kurz, Kurz, Lang. Lang, weil sie die Hand an der Scheibe ruhen lässt, bis ich ihr öffne. Hilda sagt nie warum. Manchmal sehe ich, dass sie geweint hat, aber ich frage nicht. Ich lege mich zurück in mein Bett, das Bett ist noch mein Kinderbett, ich drücke meinen Körper an die Wand, ich mache Platz. Im Sommer klettert Hilda durch mein geöffnetes Fenster. Ich werde von ihrem Blick wach, öffne die Augen und Hilda fängt an zu kichern und flüstert: „Ich bin's, die Angst.“ Sie heißt Hilda. Hilda Angst.
Hilda zieht sich nichts aus. Sie legt sich ins Bett, so wie sie ist, im Sommer mit Sandalen, im Winter mit ihrer dicken Daunenjacke, so legt sie sich ins Bett, und wenn sie sich dreht, knistert ihre Kleidung wie Packpapier.
In der Schule kennt mich Hilda nicht. Hilda hat schwarz gefärbte lange Haare. Auch ihre Fingernägel sind schwarz lackiert und sie hat ein Piercing in der Lippe. Sie steht mit den anderen Mädchen in einer Ecke des Pausenhofs, zupft nervös an ihrem Piercing, während sie spricht. Sie raucht. Sie lachen, wenn ich vorüber gehe, jeder lacht, wenn ich vorbei gehe, sie nennen mich Papagei, weil meine Kleidung bunt ist, weil nichts zueinander passt. Das einzig Bunte an Hilda sind ihre Pillen. Die Pillen sind in einem braunen Tablettenröhrchen, sie klacken, wenn sie sich bewegt. Hilda hat immer Pillen in ihren Hosentaschen, und von Zeit zu Zeit greift sie hinein und steckt sich eine in den Mund.
Manchmal halten sie die Jungs fest. Einer biegt ihr die Arme auf den Rücken, die anderen zerren das Tablettenröhrchen aus ihrer Hosentasche. Sie werfen sich die Pillen in den Mund. Sie lachen, und Hilda schreit ihnen nach: „Arschficker. Ich hetz euch die Hunde auf den Hals.“ Nie hetzt sie ihnen die Hunde auf den Hals. Hilda hat nur einen Hund. Der ist grau um die Schnauze, er hat ein glanzloses Fell und matte Augen. Er heißt Hund, niemand hat ihm je einen Namen gegeben, er trottet immer neben Hilda her, und nur an seinen guten Tagen presst er ihr die Schnauze in die hohle Faust.
Das Haus, in dem ich wohne, ist mehrstöckig. In den Wohnungen wächst Schimmel an den Wänden, schwarzpockig sehen die Wände aus, besonders im Winter. Die Decken sind so niedrig gelegt, dass Mutter sie, wenn sie sich aufrichtet, fast mit den Haaren berührt. Das Haus riecht nach feuchtem Teppich, nach Hundefell. Abends kann ich die Menschen aus den anderen Wohnungen streiten hören. Je später der Abend, desto lauter werden sie, streiten in Sprachen, die ich nicht verstehe.
Hilda kommt in der Dunkelheit und geht vor dem Morgengrauen. Nur wenige Male hat sie verschlafen. Dann habe ich Mutters Schritte auf dem Flur gehört: „Sie kommt“, habe ich gewispert. Und Hilda ist unter mein Bett gekrochen, sie hat den Fuß gegen meine Matratze gedrückt, sie hat gekichert: „Ich bin's, die Angst.“

Papagei. Alle nennen mich so. Auch Hilda. Aber nur in der Schule, vor den anderen, sonst nennt sie mich „Junge“, weil meine Haare so kurz sind wie ein abgeerntetes Getreidefeld und weil ich kaum Brüste habe, obwohl ich schon fünfzehn bin. Vielleicht auch wegen der Baustelle, auf der ich nach der Schule arbeite. Ich trage Mütze und Handschuhe. Die Mütze reicht mir bis über die Augen, und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um geradeaus sehen zu können. Ich schleppe Ziegelsteine, um die Außenwände zu mauern, schnupfe den Tabak, den mir die Männer mit lauerndem Blick hinhalten, manchmal klapsen mir die Männer auf den Arsch. Einmal haben sie so fest zugeschlagen, dass ich vorne übergekippt bin, auf den Boden. „Wollten nur sehen, ob was dran ist an dir“, haben sie gesagt, als ich die Kieselsteine entfernt habe, die sich in meine Handflächen gebohrt haben.
Ab und zu steht Hilda mit Hund vor der Absperrung. Sie presst ihr Gesicht an das Gitter, stundenlang kann sie so stehen. Dann, am Abend, gehe ich zu dem Bauleiter in den Container. Der Bauleiter sitzt an einem winzigen Schreibtisch, dort wo das Licht aus der kleinen Stehlampe in der Ecke nicht mehr hinkommt. An den Wänden hängen Blätter mit Zeittabellen, irgendwo dazwischen ein Kalender und gelbe Polaroids. Die Menschen darauf sehen fremd und unscharf aus, eine Familie sitzt in einem schneebedeckten Garten auf einer Bank, im Hintergrund steht ein Weihnachtsbaum, ein Kind auf dem Arm irgendeines Bauarbeiters, auf einem anderen Photo sitzt dasselbe Kind auf der Rückbank eines gelben Käfers und sieht hinaus.
Der Bauleiter brütet über ausgebreiteten Zeichnungen. Manchmal gibt er etwas in den Computer ein, der vor ihm steht. Wenn ich eintrete, öffnet er eine Schublade und legt ein paar Geldscheine auf den Tisch, er hebt nie den Kopf. Sobald ich, das Geld in der Faust, aus dem Container trete, ist Hilda weg.
Anfang November habe ich meinen sechzehnten Geburtstag. Mutter schenkt mir zwanzig Mark, von dem Geld, das ich jeden Abend nach der Arbeit bei ihr abgebe. Sie backt auch einen Kuchen. Der Kuchen ist trocken. Er ist angebrannt, immer an der Unterseite, dort, wo man nicht hinsieht. Meine Mutter ist sehr alt. Ihre Haare sind silbern. Im Gegensatz zu meinem ist Mutters Haar lang. Sie sitzt im Wohnzimmer vor dem Fernseher auf einem Stuhl, sie sitzt nah davor, wegen ihrer schlechten Augen, sie bewegt sich nicht, nur ihre Haare, die wachsen, wachsen, bis sie den Boden berühren.

Ich kaufe mir Zigaretten von dem Geld. Vier Schachteln zu je fünf Mark, am Automaten neben der Bushaltestelle. In der Pause stelle ich mich auf den Hof, ich stelle mich nicht zu Hilda, sondern weiter hinten ans Schultor. Ich ziehe den Rauch so tief in die Lungen, dass ich husten muss, ein verstecktes Husten hinter zusammengebissenen Zähnen, den Stummel werfe ich in eine Pfütze, dann zünde ich mir noch eine an. Erst nach der dritten Zigarette werden sie auf mich aufmerksam. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie tuscheln und mit dem Finger auf mich zeigen. „Hey Papagei“, rufen sie, „seit wann kannst du rauchen?“ Ich zucke mit den Schultern, lächele. „Wollt ihr eine?“ schreie ich. „Klar“, schreien sie zurück. Sie bewegen sich nicht von der Stelle, und ich gehe zu ihnen und halte ihnen die Packung hin. Als die Packung leer ist, öffne ich die zweite. „Wie viele hast du denn dabei?“ fragen sie. „Noch zwei“, sage ich, ich sehe zu Hilda. Sie hat sich eine Zigarette genommen und schaut zu Boden. Ich sage: „Heute ist mein Geburtstag.“ Sie lachen, sie rauchen schnell, werfen die halbgerauchten Zigaretten in die Pfützen, sie liegen dort wie kleine Hölzer. Als ich die vierte Packung öffne, klingelt es. Sie zerren die Zigaretten aus der Packung. „Für später“, sagen sie, lachend rennen sie davon. Hilda zögert. Dann läuft sie ihnen hinterher.
An diesem Abend klopft Hilda nicht an meine Scheibe. Sie lehnt ihre Stirn gegen das Glas und sieht zu mir hinein. Ich liege im Bett. Wir sehen uns an. Ich sehe zu, wie die Scheibe von Hildas Atem beschlägt, wie die Kälte den Film fast im selben Moment unsichtbar macht - eine sich öffnende und schließende Atemblume. Ich mache die Augen zu. Als ich sie einen kurzen Moment später öffne, ist Hilda weg.
Am Morgen sehe ich, dass auf meinem Fensterbrett ein Geschenk liegt. Es ist in Zeitungspapier eingewickelt und mit einer roten Schleife zugebunden. Ich öffne es. Das Zeitungspapier fühlt sich klamm an, meine Fingerkuppen werden schwarz. Aus dem Papier fällt eine Schachtel Zigaretten auf den Boden.

Dann, nach der Schule, wartet Hilda auf mich. Nicht vor der Baustelle, ein paar Straßen früher. Sie lehnt in einem Hauseingang und raucht. „Junge“, flüstert sie, als ich vorübergehe. „Junge“, flüstert sie, etwas lauter. Ich bleibe stehen. Hilda tritt aus dem Hauseingang, sieht sich um, sagt: „Wohin?“ „Arbeit“, sage ich. Hilda nickt. „Immer Arbeit“, sagt sie und lacht. „Langweilig.“ Ich zucke mit den Schultern. Hilda rollt mit der Schuhsohle einen Kiesel hin und her, während Hund teilnahmslos an ihrem Schuh schnüffelt. Sie sieht sich um. „Schon was gegessen?“ Sie spricht sehr leise. Ich schüttle den Kopf. „Na also“, sagt Hilda und atmet geräuschvoll aus. Sie legt sich eine grüne Pille auf ihre Zunge, hält sie dort wie ein Blatt.
Sie geht vor, ich gehe nach. Immer wieder versuche ich sie einzuholen, damit ich neben ihr gehen kann, aber wenn ich schneller werde, wird Hilda auch schneller. Irgendwann gebe ich es auf. Hilda etwa zehn Meter vor mir, so gehen wir durch die Stadt, bis die Geschäfte seltener werden und die Häuser flacher. Wir kommen in die letzten Ausläufer der Stadt. In der Ferne kann ich die Maisfelder sehen. So kalt ist es, dass die Stauden grau wirken. Hinter den Maisfeldern verläuft die Autobahn. Hilda dreht sich um. „Warte hier“, zischt sie. Sie geht noch ein paar Meter weiter, verschwindet dann in einer Hauseinfahrt. Einige Minuten später kommt sie wieder heraus. Sie schiebt einen Kinderwagen und hält ein Netz mit Äpfeln in der Hand und einen Laib Brot. Vor mir stoppt sie. Sie dreht den Wagen so, dass ich hineinsehen kann: „Mein Schwesterchen“, sagt sie und lacht.
Wir gehen fast bis zur Autobahn. Hilda schiebt den Kinderwagen durch die Wiesen, durch das Gras, das klamm ist und unter dem Druck der Reifen quietscht. Irgendwann hält Hilda an.
Die Decke, auf der wir liegen, ist kratzig, Feuchtigkeit des Bodens drückt durch den Stoff. Wir essen Äpfel und sehen in den Himmel. Der Himmel ist so weiß und schwer wie ein mit Schnee verbackenes Tuch. Hilda hat das Kind zwischen uns gelegt. Das Kind gluckst, es spricht mit sich selbst, und manchmal bewegt es die Beine. Hilda dreht sich auf die Seite. Sie sieht mich an. Dann streckt sie die Hand aus und legt ihren Zeigefinger auf einen meiner Wangenknochen. Wie ein Zaun liegt ihr Arm auf dem Kind. Mit einer Hand versuche ich den Reißverschluss ihrer Jacke zu öffnen, aber nach ein paar Zentimetern bleibt er hängen. „Lass“, sagt Hilda. Sie schiebt meine Hand weg. Über ihrem Schlüsselbein schimmert ein grüner Bluterguss. Mit einem Ruck zieht sie den Reißverschluss zu.

Seitdem kommt Hilda fast jede Nacht. Sie klopft an die Scheibe. „Ich bin's, die Angst“, flüstert sie. In der Schule beachtet sie mich nicht. Sie steht mit den anderen in einer Ecke des Pausenhofs, sie rauchen, sie lachen, wenn ich vorbei gehe und sie schieben sich Hildas Pillen in die Münder.
Als der erste Schnee fällt, schlucken sie Batterien. „Wer Pech hat, der stirbt“, sagen sie, bevor jeder eine der Batterien nimmt und mit Wasser herunterspült. „Hey Papagei“, rufen sie mir zu, „willst du nicht kosten?“ Hilda dreht sich zu mir um. Sie nimmt drei Batterien aus der Packung, sie schluckt sie, ohne den Blick von mir zu wenden.
Dann, kurz vor Weihnachten, sehe ich, wie Hilda mit einem Jungen aus der Zwölften knutscht. Sie stehen bei den Turnhallen, hinter der Glasfront. Der Junge hat Hildas Körper an die Wand gedrückt, er will gerade ihre Jacke öffnen, aber Hilda windet sich aus seinen Armen. Sie kniet sich auf den Boden und nestelt an seiner Hose. Später richtet sie sich auf. Sie erblickt mich. Sie sieht mich an, ernst, fast nüchtern, dann legt sie eine Hand an das Glas - ich drehe mich um und gehe zum Schulgebäude zurück.
In dieser Nacht lasse ich sie nicht herein. Ich höre sie klopfen. Nach einer kurzen Pause klopft sie noch einmal. „Ich bin's, die Angst“, flüstert sie, aber ich presse meine Augen zu. Auch in der darauf folgenden Nacht weise ich sie ab. Nachmittags wartet Hilda vor der Baustelle auf mich. Sie drückt ihren Kopf gegen die Gitterstäbe. Wenn sie zurück tritt, hat sie den Abdruck der Stäbe auf dem Gesicht. Ab und zu hat sie das Kind dabei, hält es hoch, aber die Stäbe sind höher als ihre Arme, und bald lässt sie das Kind sinken.
Nach der Arbeit bleibe ich im Container. Der Bauleiter sitzt im Dunklen, ohne den Kopf zu heben, sein Stift kratzt auf dem Papier. Manchmal spitzt er ihn. Wie Haare fallen die Kringel auf den Schreibtisch, bei jedem Ausatmen stieben sie über das Blatt. Ich sehe durch den Spalt der angelehnten Tür nach draußen und warte, bis Hilda den Zaun der Baustelle verlassen hat.

Über die Weihnachtsfeiertage hat auch die Baustelle geschlossen. Heiligabend rücke ich meinen Stuhl neben Mutter vor den Fernseher. Wir essen Fisch. Der Fisch schmeckt kalt. Das Licht aus dem Fernsehen ist blau und brennt in meinen Augen. Mutter steckt sich den Fisch in den Mund und beißt ihm den Kopf ab.
Nach dem Essen spiele ich Mutter auf der Blockflöte vor. Ich kann nur zwei Lieder. „Oh du Fröhliche“ und „Bruder Jakob.“ Wenn ich die Luft aus der Flöte in meinen Mund sauge, schmecke ich das Salz meiner Spucke und den Geschmack nach nassem Holz. Ich spiele „Bruder Jakob“ nicht ganz zu Ende, weil ich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. Ich beiße mich am Mundstück fest. Später lege ich mir Mutters Haare wie einen grauen Pelz um die Schultern und drücke meine Stirn an ihre Wange. „Mein Mädchen“, sagt meine Mutter. „Mein gutes Mädchen.“
An diesem Abend sehe ich Hilda aus dem Licht der Straßenlaternen auf mein Fenster zugehen, eine kleine dunkle Gestalt, die ihre beiden Hände an meine Scheibe legt. Wir sehen uns an. Ihre Lippe ist aufgeplatzt. Erst nach einer Weile bemerke ich, dass sie weint.

Sie ist nicht in der Schule nach den Ferien. Ich halte vergebens nach ihr Ausschau. Sie steht nicht bei den anderen und kommt zu keinem Unterricht. Ich gehe zu der Hauseinfahrt, in der Hilda damals verschwunden ist, schleiche über den Rasen, auf dem eine dünne Schicht Schnee liegt, und ich kann die Nässe durch meine Sohlen hindurch spüren. Dann drücke ich meine Stirn gegen das Glas der Terrassentür. Drinnen, auf einem Stuhl, sitzt eine Frau. Sie säugt das Kind, das Hilda immer dabei gehabt hat, während Hund um ihre nackten Füße schnüffelt.
Ich gehe zur Haustür. ANGST steht auf dem Klingelschild, ich strecke den Zeigefinger aus, ohne zu klingeln.

Als Hilda einen Monat später immer noch nicht in der Schule ist, nehme ich die Packung Zigaretten, die sie mir geschenkt hat. In der Pause stelle ich mich zu den anderen. Sie zucken mit den Schultern, als ich sie nach Hilda frage. „Ausgetickt“, sagt eine. „Hat versucht, Schluss zu machen.“ „Das ganze Zeug, das die sich eingeworfen hat, kein Wunder“, sagt die andere. „Jetzt isse in der Klinik“, fügt die eine hinzu. „Irgendwo im Norden“, und sie nickt mit dem Kopf in Richtung Autobahn. Sie lacht. „Aber was interessiert dich das, Papagei, sieh lieber zu, dass du ne Fliege machst.“ Sie wirft ihren brennenden Zigarettenstummel nach mir, er bleibt auf meiner Jacke liegen, ich schnippe ihn weg, aber er hat schon ein Loch in den Stoff gebrannt.

Die Klinik ist sehr weit weg. Die Fenster der Klinik sind vergittert, und in den Treppenhäusern sind Auffangnetze angebracht. Hilda liegt auf einem Bett. Die meiste Zeit ist sie ruhig, sie redet mit niemandem, nur nachts bekommt sie Alpträume, von den Medikamenten, die sie ihr hier geben.

Einmal kroch ich abends unter ihr Bett. Ich sah die Beine der Krankenschwester, die Hilda nachtfertig machte, hatte Lust, ihr in die schneeweiße Strumpfhose zu kneifen. Ich legte meine Handflächen von unten an das Bett. „Keine Angst“, flüsterte ich. „Keine Angst.“

 

Silvia Wolkan  17.03.2008   

Silvia Wolkan
Prosa