Riten des Übergangs
Sich das Sonnenlicht von der Nase reiben, den Schlafsaum, die sinistren Träume. Das eiskalte Blau von Himmel und Meer getrennt von einem Nebelband, als wäre die Brennweite am Horizont verstellt. Ein blinder Fleck, weichgerieben von den vielen Blicken. Glattpoliertes verschwimmt.
Auf der Straßenseite gegenüber sind die Fenster der Bäckerei beschlagen. Die Tropfen rinnen die Scheiben hinab, Baguettes, Grießschnitten und Mandelbrote schwitzen im Ofen. Der Bäcker schlürft vor die Tür, seine Haut glänzt im Sonnenlicht. Er zündet sich eine Zigarette an und wischt sich den Schweiß am Hemd ab. Das Mehl an seinen Armen klebt wie abgeblätterter Gips. Dann kommen mir Menschen mit Ledertaschen entgegen. Ihre Gesichter sind gerötet vom Morgenlicht, das sich in den Fensterscheiben des Postamtes spiegelt. Davor hocken ein paar Männer auf den Absperrblöcken, einige baumeln mit den Beinen und rufen Oh.
Ich gehe immer weiter den Boulevard hinauf bis zum Tabakladen. Die Verkäuferin hat eine kleine Fahne heute. Als sie sich zum Regal herumdreht, schert ihr die Hüfte aus. Ihr Mann hinter dem Tresen löst Kreuzworträtsel. Man zieht Croissantschichten auseinander. Lässt Zucker in den Kaffee plumpsen. Beobachtet die Signaliers, wie sie die Kreuzung bedrucken. Die heiße Farbe tropft aus dem kleinen Ofen auf den Beton. Eilig überquere ich das frische Schachfeld auf der Diagonalen zurück zum Bäcker. Dort bitte ich um kühles Baguette und trage es wie ein Findelkind unter dem Arm nach Hause. Zwischen den Fingern darunter verstaut: den Schlüssel, das Geld, die Zigaretten. Möwen kreisen. Als Tischdecke dient heute ein mintfarbener Rock.
Still also kreisen die Möwen, dazwischen die Schwalben, dann der bedeckte Himmel. An der Hauswand gegenüber sind alle Fensterläden verriegelt. Wäsche baumelt auf den dünnen Drahtleinen. Und das Atmen. Die Schritte im Garten, die Ruderschläge, die wie Schwanenflügel über den öligen Wasserspiegel streichen. Ich gleite vorbei an Jollen, Bojen, leeren Flaschen. Weiter draußen die Angelschnüre und Felsformationen, am Horizont Fährennebel, manchmal. Im Nacken die verquollene Stadt. Sand weht ins Haar, kleine Krümel, Blutplättchen vielleicht und Krebsbeine.
Auf dem Markt sind sie wieder zusammen: Die Düfte, die gesunde Ernährung und die geflickten Familien. Äpfel und Kinderwangen glänzen in der Sonne, Brote stapeln sich hinter den Vitrinen, Tulpen blühen unter den scharfen Blicken der Verkäufer, während sich in den Bäumen über ihnen Plastiktüten verfangen.
Und in den Mahlströmen ganzer Nachmittage, Katzen streunen umher, Hunger setzt sich, lebe ich umsonst. Die Welt will betrachtet sein, wie ein Zoo. Wessen Fuß des anderen Terrain passiert. Wessen Hand wen handelt. Sanft, wie in den Fenstern eines Cafés der Schatten des Geschirrs auf das Holz fällt. Stille Stunde, in denen die Ticketnummer der Hafenfähre mit der Seitenanzahl von Esterhazy übereinstimmt. Hunde gähnen. Zucker löst sich, während der Blick tastet. Sich einsehen lassen wie ein Wintergestrüpp. Halbschläflich.
Sprechen, wie Seide zu weben.
Später auf der Canebière dreht sich ein Mann um. Während Passanten über den aufgeplatzten Beton hasten, bleibt er vor dem Bus Nummer 23 stehen, hockt sich auf die Fahrbahn und legt sich zwischen zwei Zebrastreifen nieder. Ganz so wie auf den wohligen Sofas der Heimstätten schlägt er die Füße übereinander, krault sich das Fell. Die Ampel springt auf Grün, der Busfahrer verschränkt die Arme hinter dem Lenkrad, Autos hupen, fahren seitlich vorbei.
Weiter unten, auf dem Cours d'Estienne d'Orves glitzert vor ockerfarbenen Hauswänden das Eis in den Pastisgläsern. Im Schatten gegenüber sitzt das Faktotum des Platzes auf einem Betonquader. Hinter der Frau stapeln sich die Decken, Schuhe, Lidltaschen. Auch einen Tisch hat sie, darauf zwei Gläser und eine Schachtel dänische Butterkekse. Sie schenkt die Gläser voll, trinkt den Rest aus der Flasche, wischt sich die Hände an der rostroten Schürze ab. Dann steht sie auf, schreit „Katjuscha“ und prostet zwei Bärtigen hinter sich zu.
Mitternacht tanzen wir wieder, trinken, schwitzen. Ich steige auf das Balkongeländer, klemme die Füße zwischen die gewundenen Eisenstangen und lehne mich zurück, über die Straße. Unter meinem Rücken rauschen die Autos vorbei, das dumpfe Laternenlicht liegt matt über den grauen Fassaden. Ganz am Ende die Kreuzung zur Canebière. Jemand legt highway to hell auf und ich lache wegen soviel alberner Verdopplung. Wir sprechen kurz über Robert Capa und die Landung der Alliierten in der Normandie. Dann kann ich nicht mehr folgen. Das Rauchen erschöpft mich. Und auch zum Küssen ist es zu heiß. Langsam zieht der Dunst unter dem Lichtkegel vorbei, steigt auf in den stumpfen Nachthimmel. Irgendwo blitzt es und jemand schreit den Namen dieser Stadt.
Morgens liege ich auf dem Bett, gleite mit der Hand über die Laken und flöße mir lauwarmes Wasser ein. Durch das Fenster dringt Kindergeschrei, und Television, der Krach, den sie in ihrem Leben machen. Auf dem Bauch das langsame Absinken der Wasserflasche. Und genau das ist es: Ein sich wie eine Heimat nach unten ausweitendes Etwas, in das sich die Dinge nach innen stülpen, zwischen die Membranschichten zurückziehen, tief hinunter in ein taubes Strömen.
Ungezähmtes, gebeuteltes Rund.
2006
Simone Unger 11.11.2006
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Simone Unger
Prosa
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