Schreiben statt stillen
Wir leben nicht, um zu lieben. Ich lebe, um zu schreiben. Ich weiss nicht, wofür du lebst, such dir was aus, aber vergiss die Liebe!, hatte Terzia einmal zu mir gesagt.
Sie war eine Gegnerin: Ich bleibe unverstanden, sagte sie immer, so fröhlich, wie man sie selten erlebte. Mit dem Alter wurde sie eine böse Frau. Sie brach mit einem Freund um den anderen und stellte sie in die Schusslinie ihrer Gehässigkeit. Die Freunde wandten sich nicht ab, sie hatten Mitleid. Terzia sei frustriert, sagten sie, weil sie keine Familie habe, ihr fehle Geborgenheit. Das glaube ich nicht. Sie hatte einfach eine natürliche Feindseeligkeit, so wie andere Leute rote Haare.
Sie war eine warmherzige Frau, sagte Jakob an der Beerdigung zu mir, wohl zum Trost. Terzia starb am 12. März in seinem Schweinestall.
Terzia war keine Schriftstellerin, keine Autorin, sie war keine Schreibende, sie war ein einziges Schreiben. Für sie gab es Papier, Stifte und Bücher, alles andere war Humbug und stahl Zeit. Sie ass wenig, trank wenig, und als ihr zu Beginn ihrer Karriere das Geld ausging und sie arbeiten musste – sie half in einem Büro als Schreibkraft aus – sprach sie mit niemandem mehr. Oft schloss sie sich zu Hause ein. In diesen Zeiten rief ich sie manchmal an und sagte, sie könne mich jederzeit anrufen, wenn sie mit jemandem reden wolle. Ich will nicht reden, ich will schreiben, verdammt noch mal!, brüllte sie mich dann an.
Ich war ihr nie böse. Vielleicht erzähle ich von ihr, um etwas an ihr sicherzustellen, das mich böse macht. Könnte ich ihr böse sein, wäre ich vielleicht nicht traurig über ihren Tod.
Ich kannte Terzia von ihrem 27. bis zu 52. Lebensjahr, bis zu ihrem Tod. In dieser Zeitspanne war sie immer gleich alt: Sie war immer alt. Sie trug altbackene Sachen: zartrosa Lederhandschuhe, einen hellblauen Schal mit eingestrickten Silberfäden, weite braune Röcke. Und sie besass zahlreiche weisse Blusen mit Puffärmeln. Mit 29 hat sie zu ihrer Schwester Mina gesagt: Natürlich bleibe ich jetzt so gross und schwer, wie ich bin, und muss nie mehr Kleider kaufen, und das hat sie auch nie wieder getan.
Ich hörte ihr gerne zu, weil ich es nicht fassen konnte, dass jemand so anders ist als ich. Ich hörte ihr gerne zu, auch wenn ich hätte reden können: Sie machte mich nie sofort mundtot. Zu mir war sie gnädig: Mehr konnte sie mir auch nicht bieten. Einmal schrie sie mich stellvertretend für Mina an, die gesagt hatte, sie hoffe, dass Terzia endlich den Mann ihres Lebens fände: Wozu braucht es einen Mann? Wozu braucht es Kinder? Wozu braucht es Menschen auf der Welt? Wir sind stinkende Abfallsäcke und produzieren stinkenden Abfall! schrie sie, und ich duckte mich.
Terzia wollte nie mit einem Partner leben, sondern mit einer Vielzahl an Menschen, unter denen sie jederzeit einzeln sein konnte. Doch mit dieser Vielzahl hat es nicht geklappt, weil sie die Menschen nicht ein- und ausschalten konnte wie es ihr passte, und je mehr Terzia die Einsamkeit suchte, desto mehr versuchten die Menschen sich um sie zu kümmern.
Ich kenne einen Teil der Menschen, mit denen sie Kontakt gehabt hat, aber bestimmt nicht alle. Selten hat sie von Frauen erzählt, oft von Männern, sie wurde mürrisch, wenn sie lange keinen Sex hatte. Aber Sex war ihr eine körperliche und geistige Ertüchtigung, und keine Art von Gemeinschaft. Sie hatte auch nicht wirklich Zeit dafür, danach musste sie immer sofort aufstehen und da weitermachen, wo sie mit Schreiben aufgehört hatte: All die Schriften, die wir zusammengetragen haben, lassen bezüglich des enormen Umfangs eine dringliche Frage offen: Auch wenn sie so oft wie möglich geschrieben hatte, wann hat Terzia das alles geschrieben?
Ihre grösste Angst war immer die, schwanger zu werden. Sie schrieb: Ich würde es nicht aushalten, wenn ich ein dummes Kind hätte, und das kann passieren, ich kenne brillante Frauen mit dummen Kindern und herzensgute Frauen, die ihr Kind liebeleien möchten, und deren Kind nie Küsschen gibt! Wenn ich ein Kind hätte, das nicht lesen will! Oder eines, in dessen Augen Dreisätze glänzen! Ich werde mich nie mit einem Mann paaren, der gerne Formeln durchdenkt (...) Als meine erster Freund mich fragte, was ich so mache, sagte ich, ich sei immer zu Hause, lese und schreibe, habe aber deswegen nie das Gefühl, ein verrücktes Huhn zu sein. Er fragte nach Kollegen, Sport und warum ich keine kleinen Kinder beaufsichtige, um nebenher einen Batzen Geld zu verdienen. Da habe ich mich von ihm getrennt. Bei den nächsten Freunden war es immer das selbe: Ich verbrachte meine Zeit lieber mit einer Biografie als mit ihnen.
Als Terzia älter war, erzählte sie mir auch einmal von ihrer Leidenschaft für Bücher und das Schreiben, und es klang schon eher wie eine Rechtfertigung: Irgendwer muss doch lesen, wozu wird sonst geschrieben? Und wenn niemand schreibt, was soll man dann lesen?
Beim Schreiben stellte Terzia immer einen Krug Wasser aufs Pult, damit sie nicht zu trinken vergass, gegessen hat sie, wenn ihr schwindlig wurde. Ich bin erstaunt, dass sie ein Kind hatte ernähren können. Sie hat mir nie gesagt, wie sie das geschafft hat, nur: Wenn du geschrien hast, habe ich zurückgeschrien. Ich wusste nichts mit dir anzufangen, du hast meine Sprache nicht gesprochen, du hast überhaupt keine Sprache gesprochen, und was soll ich mit jemandem ohne Sprache?
Als ich drei Jahre alt war, stand die Reduzierung der öffentlichen Spielgruppen der Stadt zur Abstimmung. Der neue Stadtpräsident hätte die Frauen gerne wieder vermehrt zu Hause am Herd gesehen. Kurz vor der Abstimmung gab es eine Demonstration. Auch wenn Terzia mich später nie in die Spielgruppe gebracht hatte, sondern immer zu Oma, machte sie mit, trug ein Transparent, auf dem <SCHREIBEN STATT STILLEN!> stand, und das rief sie auch den Menschen zu, die die Strassen säumten. Niemand schloss sich lautstark ihrer Parole an, Kinder in der Spielgruppe sind zu alt, um gestillt zu werden. Aber für Terzia war gesagt, was gesagt werden musste.
Natürlich war ich nicht geplant gewesen. Ich habe sie nie gefragt, warum sie sich für mich entschieden hat, als sie schwanger war – dass sie es getan hatte, war für mich in ihrem Fall Zuneigungsbekenntnis genug. Ich weiss nicht, wer mein Vater ist. Ehrlich, ich weiss es nicht, sagte Terzia. Ihre Ehrlichkeit konnte brüskieren, ehrlich war sie immer.
Für Terzia war es kein Problem, keinen Vater für ihre Tochter zu haben: Ihre anderen Kinder waren die Bücher, die sie geschrieben hatte und die hatten auch keinen Vater, und damit war sie immer gut zurechtgekommen. Sie wollte niemanden brauchen müssen. Hätte sie vorsätzlich Kinder gewollt, hätte sie sich bestimmt auf eine absurde Art und Weise selber befruchtet. Warum sie immer alles alleine machen wollte, weiss ich nicht, und auch nicht, ob sie alleine sterben wollte. Ein Jahr vor ihrem Tod hat sie aufgehört zu schreiben und ist zu Jakob gezogen. Ihre Wohnung in der Stadt hat sie nicht gekündigt, damit niemand merkt, dass sie woanders lebt, und dazu noch mit einem Menschen. Ich mutmasse, dass sie Jakob gebraucht hat, weil er ihr das gab, womit wir anderen nicht beständig an ihre Türe klopften, ich wünschte, ich wüsste, was es ist.
Jakob kam zur Beerdigung und in die Kirche, aber nicht zum Totenmahl. Das war uns recht, denn er gehörte nicht dazu – so hat das zwar niemand ausgesprochen, aber das war, was alle dachten. Was weiss Jakob?, fragten wir uns. Wir werden ihn nie fragen. Nicht, weil wir ihn nicht verletzen wollen, mit Fragen über eine Tote, die für ihn vielleicht noch lange lebt, sondern weil wir nichts von seinem Wissen haben wollen. Vor lauter Angst, dass sein Wissen über Terzia grösser ist als unseres, nehmen wir in Kauf, dass wir nie mehr über sie wissen werden.
Jakob ist Biobauer und es ist kein Wunder, dass Terzia ihn kennen gelernt hat: Ich habe die beiden einander vorgestellt, allerdings ohne Absicht. Ich kaufte bei ihm immer Obst und Gemüse, und als er im Herbst einen Überschuss an Apfelsaft hatte, erzählte ich ihm von Terzia, beziehungsweise davon, dass sie sehr gerne Apfelsaft trinkt. Noch in derselben Stunde luden wir 12 Liter Apfelsaft in seinen Wagen und fuhren zu ihr. Er hatte ihre Karriere seit ihrem ersten Bestseller mitverfolgt, und freute sich darauf, sie zu treffen. Ich hatte keine Lust, ihn zu warnen. Natürlich war sie ausser sich, weil wir sie beim Schreiben störten und fluchte. Jakob stand einfach da, nicht angespannt, nicht angewidert, er stand da wie ein Stück Butter, ganz weich. Terzia wurde kurz heiser, sah mich an, räusperte sich und keifte weiter. Jakob fuhr mich nach Hause und wann und warum sie sich wieder gesehen haben, weiss ich nicht.
Auf Jakobs Hof tummeln sich alle Arten von Tieren: Schweine, Rinder Hühner, Enten, Gänse, Katzen und ein Hofhund. Jakob baut auch Getreide an, Raps, Mais, Weizen, Dinkel und Gerste. Terzia muss das alles geschätzt haben, und auch, dass Jakob alleinstehend war. Ich habe mich immer gewundert, warum er so ein fröhlicher Mensch ist, wenn er doch die ganze Zeit alleine ist und so hart arbeiten muss. Ob Terzia ihm geholfen hat, weiss ich nicht, sicher ist nur: Geschrieben hat sie nicht mehr, keine Zeile.
Jakob hat Terzia im Schweinestall gefunden, auf Holzspänen. Ohne Wunde und es war bestimmt kein Selbstmord. Ich wollte nicht, dass man sie seziert, das wollte niemand, auch die vielen Männer nicht, die nun, da sie als Berühmtheit gestorben war, auf einmal alle mein Vater sein wollten. Sie war sowieso nicht krank gewesen, dessen war ich mir sicher, und wenn auch: Wen würde das jetzt noch beunruhigen? Ich glaube, sie ist daran gestorben, dass sie jemanden gefunden hat, dem es nichts ausgemacht hat, dass er trotz der Zweisamkeit alleine war. Die Zufriedenheit muss sie erstickt haben. Ich glaube nicht, dass Jakob das weiss. Und mehr will auch ich nicht wissen.
* Die Schreibweise ss nach Diphthong oder langem Vokal – statt ß in der Bundesrepublik – entspricht der offiziellen Schweizer Schreibweise, die wir im Original belassen haben.
Tania Kummer 13.05.2006 © 2006 Zytglogge Verlag, Bern