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Udo Kawasser
Vergessen auf der Istiklal Straße

Für Sermin

Essay


 
Nachdem der britische Anatom William Harvey zu Beginn des 17. Jahr­hunderts den Blut­kreis­lauf ent­deckt und beschrie­ben hatte, began­nen die Stadt­planer des Barocks die Metro­polen nach dem Modell des Men­schen­körpers aufzufassen, was zur Folge hatte, dass sie die Verkehrs­systeme als Blut­kreislauf verstanden und konzi­pierten. Hier liegt also der Ursprung der Rede von den pul­sierenden Verkehrs­adern, den grünen Lungen der Parks und dem zirku­lierenden und kolla­bierenden Verkehr1. Es war daher nicht ver­wunder­lich, dass die intensive Erfah­rung, die ich vor eineinhalb Jah­ren bei meinem ersten Besuch auf der Istiklal Caddesi in Istanbul machte, die eigene Leiblich­keit meta­phorisch in die Stadt hinein­wachsen ließ.

Als meine türkische Freundin und ich an jenem Samstag im Oktober gegen zehn Uhr abends auf die Einkaufs- und Vergnügungsmeile in Beyoğlu, dem am stärksten vom Westen geprägten Stadtteil Istanbuls, einbogen, gerieten wir sofort in den Sog des dahinschießenden Menschenstroms, wurden gedrängt, geschoben und gestoßen, vorbei an Cafés, Restaurants, Kinos, Boutiquen, Buchhandlungen und Musikgeschäften, die der Menge über große Lautsprecher den Takt zu geben versuchten. Die in der Mitte ge­pflasterte und ansonsten mit Platten befestigte Straße war auf die ganze Länge und Breite mit vorwärtsstrebenden Menschen so prall angefüllt, das man den Eindruck bekam, dass man an dieser Stelle die Schlagader der Stadt freigelegt hat und dem offenen Herzen beim Pulsieren zusehen konnte. Dies allerdings nur, wenn man sich in irgendwelche Nischen oder Hauseingänge drückte oder vom Strom in eine der vielen einmündenden Gassen ausgespuckt wurde, denn an ein Stehenbleiben und ruhiges Be­trachten war im Menschenfluss nicht zu denken.

Um das Erstaunen eines Betrachters hervorzurufen, der an österreichische Verhältnisse gewöhnt war, hätten die so spät noch geöffneten Geschäfte und die sonder Zahl hervorquellenden Leute schon genügt. Das Verblüf­fendste und Rätselhafteste war aber die Geschwindigkeit, mit der die Leute die Istiklal Caddesi, die Unabhängigkeitsstraße, durchmaßen. Hier wurde weder geschlendert, gebummelt, gewandelt, noch spaziert, promeniert oder gar flaniert, sondern geeilt, gehastet, stracks durch die Nacht marschiert. Es erging mir zuerst ein wenig wie Franz Hessel, der bei seinen Spaziergängen durch das Berlin der Zwanziger Jahre resignierend feststellen musste: „Hier geht man nicht wo, sondern wohin.“2 Doch konnte es sein, dass alle diese fröhlich eilenden Menschen am Samstagabend zu dieser späten Stunde noch Schul- oder Geschäftstermine wahrzunehmen oder dringende Einkäu­fe zu erledigen hatten? Wozu also die Eile? Je länger wir in der Menge da­hintrieben, umso klarer wurde mir, dass meine Berlin-Assoziation falsch war: Hier ging man nicht wohin. Hier musste niemand nirgendhin. Das aber auf dem schnellsten Weg. Tatsächlich gab es das eine oder andere Ge­sicht, das mir an jenem Abend mehrmals begegnete und zwar an unter­schiedlichen Stellen in entgegengesetzten Richtungen. Einigen ging es wohl darum, so oft wie möglich auf der Strecke zwischen Tünel und Taksim-Platz, dem unteren und oberen Ende der Istiklal hin- und herzuwandern, schneller als es die Nostalgiestraßenbahn schafft, die auf einem Gleis in der Mitte der Fußgängerzone die beiden Punkte verbindet. Als müsste sich ein Überschuss an Energie und Erwartung zwischen diesen beiden Polen langsam auspendeln und sei es durch Erschöpfung.

Diese abendliche Beschleunigung auf zwei Beinen steht im großen Gegensatz zum Infarkt, den die Stadt aufgrund des rasanten Bevölkerungs­wachstums täglich mehrmals zu den Hauptverkehrszeiten erleidet, zum lähmenden Stillstand, der etwa die ein, zwei Kilometer von Eminönü über die Galatabrücke nach Beyoğlu im Auto zu einer Nervenprobe von mehr als einer Stunde Dauer machen kann. Holen die jungen Istanbuler auf der Istiklal die freie Fahrt, den Rausch von Geschwindigkeit nach, der ihnen auf dem Weg nach Taksim verwehrt war? Das Viertel mit dem ursprünglichen Namen Pera, was auf griechisch so viel wie „gegenüber“ bedeutet, war den Genuesern im 13. Jahrhundert von den damaligen byzantinischen Herr­schern, die auf der anderen Seite des Goldenen Horns residierten, zugewie­sen worden. Es siedelten sich in der Folge nicht nur Italiener sondern auch Franzosen, Griechen, Armenier und Juden an. Die Blüte erreichte das Viertel im 19. Jahrhundert, als der Sultan mit seinem Hof in den in der Nähe gelegenen Dolmabahçe-Palast an den Bosporus übersiedelte und sich die europäischen Gesandtschaften im Viertel anzusiedeln begannen. Als ein Großband 1870 viele der alten osmanischen Holzhäuser vernichtete, wurden sie durch Steinbauten im Stil des Historizismus und des Jugendstils ersetzt, darunter auch einige Passagen, wie sie im Paris des 19. Jahrhunderts Mode geworden waren. Man konnte hier am Rande des Kontinents wie in einer europäischen Metropole leben, auf der Grande Avenue de Pera, so hieß nämlich die Istiklal ursprünglich, sowohl materiell als auch kulturell über das ganze Angebot einer verfeinerten Bourgeoise verfügen und befand sich gleichzeitig im Orient. In diesem so stark französisch und von Dekadenz geprägten Stadtteil könnte man sich eigentlich erwarten, dass es nach wie vor Reste einer Tradition des Müßiggangs und Flanierens gibt.

„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung“, beginnt Franz Hessels Buch Ein Flaneur in Berlin3. Walter Benjamin, der mit Hessel eng befreundet war, sieht in dieser Figur des Flaneurs, der die Stadt als Landschaft erfährt, den typischen Bewohner der Pariser Passagen. Der Flaneur widersetzte sich der Ökonomisierung der Zeit und grenzte sich provokant vom geschäftigen Treiben der anderen ab, indem er etwa eine Schildkröte an der Leine ausführte. Ist es möglich, dass in Beyoğlu diese Kunst des genussvollen Zeitverlierens, des Schauens und ziellosen Treibens in der Masse völlig in Vergessenheit geraten ist? Am folgenden Nachmittag kehrte ich zurück und setzte mich gegenüber der neu renovierten Çiçek-Passage (Blumen-Passage) an ein Fenster des Neoklas­sik-Cafés im ersten Stock, um auf die Fußgängerzone hinunterblicken zu können. Und tatsächlich schlenderten die Leute wie auf jeder anderen Ein­kaufsstraße des Erdballs, blieben stehen, betrachteten die Schaufenster, unterhielten sich und spazierten schließlich weiter. Natürlich gab es auch Eilige, doch der Grundbeat war gemächlich. Umso größer das Geheimnis der abendlichen Verwandlung. Was kommt da zum Ausbruch, was sich bei Tageslicht zu verhalten weiß?

Lässt sich etwa der Zeitpunkt bestimmen, an dem die Passanten anfangen, ihre Schritte zu beschleunigen? Es muss wohl nach Einbruch der Dunkel­heit sein, dass die Menschen auf der Istiklal geheimnisvollen Verspre­chungen folgend sich zu sammeln beginnen, um in die Tiefe der elektrisch erhellten Nacht, ins lockende Gewirr der Menschenmassen und der von Bars, Restaurants und Klubs gesäumten Nebenstraßen vorzustoßen. Aller­dings hat dieser Gestaltwechsel nichts damit zu tun, dass wie im London des 19. Jahrhunderts in Edgar Allan Poes The Man of the Crowd, „die or­dentlichen, gesitteten Leute verschwanden“, dafür „schärfer das Abstoß­ende“4 hervortrat. Ist doch die Massierung vor allem eine Folge des Zusammenströmens junger Menschen aus ganz Istanbul und Umgebung. Es könnte sein, dass sich die Veränderung einem einfachen physikalischem Gesetz verdankt, das dem Menschenstrom gebietet schneller zu fließen, wenn der vorhandene Raum enger wird. Doch reicht Physik wirklich aus, um eine solche Verwandlung zu erklären?

Aufschlussreicher scheint es mir zu sein, die Geschwindigkeit, mit der wir gehen, in Relation mit unserer eigenen Verfasstheit zu setzen. Gehen ist zwar eine Form des Aufrechtseins, im Grunde genommen aber eine kontrollierte Form des Fallens, ein fortgesetztes Sich-Auffangen, eine Kunst, die man als Kleinkind mit blauen Flecken und Beulen mühselig erwirbt. Dennoch bleibt der nur bei Fehltritten und Ausrutschern zu Tage tretende Skandal, dass man sich beim Gehen ständig dem Spiel der Schwerkraft überantworten muss und erst die richtige Indienstnahme ihrer Angriffskräfte durch den koordinierten Einsatz von Muskeln zur Fortbewegung führt. Gehen ist aber nicht nur Bewegung im Raum, sondern auch in der Zeit. Damit kommt eine zweite Schwerkraft, nämlich die der Verhältnisse ins Spiel, die eigene und die geschichtliche Zeit, die auf ganz andere Weise mitbestim­men, wie und wohin wir unsere Schritte lenken.

Ein weiterer Blick auf die Geschichte des einstigen Peras vermag uns vielleicht einen Hinweis darauf geben, an welchen Bruchlinien die Kräfte der Beschleunigung wirken. Nachdem das Viertel zu Beginn des Jahrhunderts seinen Höhepunkt erlebt hatte, führten die politischen Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs zu einer starken Dezimierung der Ausländer, wobei der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Ausrufung der Republik 1923 mit der Ernennung Ankaras zur Hauptstadt die Bedeutung des Stadtteils weiter verringerten. Armenier, Griechen, Bulgaren und Juden, die den Großteil der Ausländer ausmachten, zogen in der Folge entweder in bessere Stadtteile um oder verließen ganz das Land, besonders nach dem Istanbuler Pogrom von 1955 und dem Zypernkonflikt 1974. Die Mietpreise fielen und ärmere Schichten, darunter viele Anatolier bewohnten nun die verfallenden Straßen. Erst drei Militärputsche später kam es in den 90er Jahren wieder zu einer Revitalisierung des Viertels und zur Rückkehr von Geschäften und jungen Unternehmern nach Beyoğlu. Trotzdem bleibt bis heute ein Gegensatz zwischen dem Glanz der Istiklal Caddesi, ihrer allernächsten Umgebung und den vielen kleinen, z.T. pflasterlosen Gassen, die nach wie vor von sozialschwachen Türken bewohnt werden. Kein Wunder, dass die von Ministerpräsident Erdogan geführte AKP, die kon­servativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die stärkste politische Kraft des Viertels ist. Das harte Aufeinandertreffen von konser­vativen und progressiven Bestrebungen, wie es auch Beyoğlu kennzeichnet, charakterisiert die ganze Türkei. Vielfache Verwerfungen sind die Folge aus den Spannungen zwischen der kemalistisch verordneten Westorientierung und den traditionellen bzw. islamisch geprägten Lebensformen, zwischen dem modernen, ökonomisch höchst produktiven Westen und Süden der Türkei, der den Großteil zum 7,5 prozentigen, die Eurozone dreifach über­steigenden Wirtschaftswachstum des Landes beiträgt und dem agrarisch geprägten Osten, aus dem die meisten Zuwanderer stammen, zwischen den nach wie vor das Land prägenden Militärs, die sich als Garanten für die laizistische Verfassung des Staates sehen, und den islamischen Kräften, die bei den letzten Parlamentswahlen 2002 und 2007 klar als Sieger her­vorgingen. Die Fallhöhe für die Beschleunigung der abendlichen Passanten ergibt sich also aus der Härte der historischen, politischen und sozialen Brüche, die selbstverständlich auch in Istanbul, der größten Stadt der Türkei, sichtbar werden. Und je größer der Fallanteil am Gehen wird, desto mehr steigt die Beschleunigung. Eine kleine Szene mag ein Schlaglicht auf die Gräben werfen, die auch die gut gepflasterte Istiklal durchziehen.

Die Sonne stand fast senkrecht über Beyoğlus Schlagader, als der Muezzin der kleinen, 1597 erbauten Hüseyin Aĝa Moschee, die direkt neben dem Lokal der TKP, der Türkiye Komünist Partisi, steht, seinen um Tausende Watt verstärkten Gebetsaufruf auf die Fußgängerzone hinabbranden ließ. Meine durch den infernalischen Lärm sichtlich geschockte türkische Freun­din beteuerte, dass dies vor einem Jahr noch nicht so gewesen sei. Der Kulturkampf wird hier also (noch) mit Dezibel ausgetragen, der akustische Showdown zwischen Koran und Pop ist Teil des täglichen Schlag­abtausches. Aber dieser Konflikt ist nicht nur eine Folge der weltweiten Reislamisierungstendenzen, die Türkei wird auch an diesem Punkt von ihrer eigenen Geschichte eingeholt. Orhan Pamuk hat in einem seiner Essays darauf hingewiesen, dass die Westorientierung, die europäische Idee in der Türkei immer ein Instrument war, mit dem durchgesetzt werden konnte, was in der eigenen Kultur und Geschichte nicht existierte. „In unserem eigenen Land rechtfertigt dieses Konzept die Anwendung von Gewalt, radikale politische Veränderungen und einen rücksichtlosen Bruch mit der Tradition. Von der Stärkung der Rechte der Frauen bis hin zur Verletzung der Men­schenrechte, von der Demokratie bis zur Militärdiktatur wird vieles mit der Annäherung an den Westen gerechtfertigt“5.

In seinem Roman Die Langsamkeit entwickelt Milan Kundera den Gedanken, dass sich „der Grad der Langsamkeit direkt proportional zur Intensität der Erinnerung, der Grad der Geschwindigkeit direkt proportional zur Intensität des Vergessens“6 verhält. Ein Mensch, der sich etwas ins Gedächtnis rufen möchte, wird also automatisch langsamer, während eine Person, die einen unangenehmen Vorfall oder etwas Belastendes vergessen will, ihre Schritte beschleunigt. Die oben skizzierten Verwerfungen und Gräben im öffentlichen Raum, die sich selbstverständlich in den Familien fortsetzen, die leider existierende Tendenz Probleme mit Diskussionsverbot zu besetzen, wofür die Prozesse gegen Journalisten und Schriftsteller symptomatisch sind, und das, wie es Pamuk formuliert, „seit hundertfünfzig Jahren auf der Stadt lastende Gefühl des fortwährenden Scheiterns“7, geben Anlass genug den Schritt zu beschleunigen, um in den Kinos, Bars, Restaurants und Clubs entlang der Istiklal das Vergessen zu suchen. Dass die jungen Türken sich das vielfältige Angebot leisten können und dass Beyoğlu inzwischen zum Magnet vergnügungssuchender Menschen aus der ganzen Welt geworden ist, verweist darauf, dass diese Beschleunigung keineswegs nur eine Flucht ist, „Geschwindigkeit ist eine Form der Ekstase“8 sagt Kundera zutreffend, sondern auch den Charakter eines Aufbruchs hat.



1 vgl. das 8.Kapitel in Richard Sennett: Fleisch und Stein, Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Suhrkamp TB, Frankfurt/M, 1997, S. 319-336.
2 Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin, Das Arsenal, Berlin, 1984, S. 9.
3 Ebenda, S. 7.
4 „Der Massenmensch“, in: Edgar Allan Poe: Werke II, Deutsch von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1967, S. 712.
5 „Eine private Lektüre von André Gides öffentlichem Tagebuch“, in: Orhan Pamuk: Der Blick aus meinem Fenster, Betrachtungen, Hanser, München, 2006. S. 79.
6 Milan Kundera: Die Langsamkeit, Fischer TB, Frankfurt/Main, 1998, S. 40-41.
7 Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, Hanser, München, 2006. S. 57.
8 Milan Kundera: Die Langsamkeit, Fischer TB, Frankfurt/Main, 1998, S. 6.

Wespennest 147, Mai 2007

Udo Kawasser    11.03.2010   
Udo Kawasser
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