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Reisen in die Vergangenheit

Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall

Harald Hauswald, Lutz Rathenow | Ost-Berlin | Jaron VerlagNeugier schärft den Entdeckerblick. Da wird es zum doppelten Glücksfall, wenn gleich zwei zusammenfinden, der eine Schriftsteller mit frecher Feder, der andere Fotograf mit der Intuition für den besonderen Augenblick. Beide zieht es aus der Provinz in ihre Sehnsuchts­metropole Ost, und beide durchstreifen Berlin mit eigenem Außenblick. Der Prenzlauer Berg der alternativen Hinterhofkultur entwickelt gerade seinen Magnetismus auf wirkliche und Möchtegern-Poeten, auf Künstler und Punker. Hier kommen der in Jena exmatrikulierte Lutz Rathenow und Harald Hauswald, Überlebens­künstler aus dem sächsischen Radebeul, auf die Idee, der Halbstadt, die sich Hauptstadt nennt, zur 750-Jahrfeier einen eigenen Strauß zu binden.

Als der in seiner Art wohl einmalige Text-Bild-Band 1987 im Münchner Piper-Verlag erscheint, verstehen ihn die DDR-Oberen mit Kurt Hager an der Spitze als blanke Provokation. Erich Mielke schlägt vor, ein Strafverfahren zu eröffnen, „möglichst wegen Staatsverleumdung“. Das Buch kommt auf den Index, erhält Einfuhrverbot und schlägt diplomatische Wellen als „unfreundlicher Akt gegen den im Kulturabkommen vereinbarten Kulturaustausch DDR – BRD.“ Für andere erlangt es Kultstatus.
    „Es war unsere Art der Liebeserklärung“, schreibt Rathenow im Vorwort der Neuausgabe: Insofern sind Text und Fotos gleichzeitig Beleg lustvoll gelebter Ost-Identität und Ausdruck oppositionellen Verhaltens gegen den Staat.“

Heute ist „Ost-Berlin“ mehr als nur ein Buch. Es ist eine Reise in die Vergangenheit mit Wiedererkennungseffekt. Auf 128 Seiten werden sie noch mal lebendig, jene Fassaden und trotzig, tristen Schaufenster kurz vor dem sozialistischen Verfallsdatum. Der Fernsehturm als Zukunftssymbol findet sich in weite Ferne gerückt. Vor große Visionen schiebt sich Trabant-Monotonie. Dazu Uniformen und Randfiguren jener Paraden, die wohl keiner mehr vermisst. Allein schon die Flucht der Fahnenträger im Regen nimmt Geschichte vorweg. Zugleich wirkt das Buch überraschend gegenwärtig. Manche Porträts von Alten und Müden könnten mit Hartz IV untertitelt sein. Es überrascht, wie viel alte Armut in den Achtzigern zu entdecken ist, wie sehr sie neuem Elend ähnelt.

Wichtig sind Hauswald Gesichter und Menschen. Sie erzählen mehr vom Alltag, als alle Parolen und Zeitungen. Auf den Fotos daneben inszeniert sich eine Jugend und eine Szene, die erfrischt. Hier finden sich freundliche Punker und intelligente Protestkultur. Längst legendär ist Hauswalds Schnappschuss mit dem Schatten des Rockgitarristen, der über dem Seitenaltar der Zionskirche aufdunkelt.

Auch Rathenows Text durchweht eine sympathische Renitenz gegenüber autoritärem Gebaren. Kinder erweisen sich als positive Störfaktoren. „In der U-Bahn. »Gerade hinsetzen!« sagt der Vater. Zwei Männer verbessern ruckartig ihre Sitzhaltung. Nur der Sohn lümmelt unbeeindruckt weiter.“

Der Autor gibt den verschmitzt plaudernden Flaneur: „Ein heller Tag. Du trittst aus der Tür, und Zuversicht überfällt dich. Häuser rieseln auf Gehsteige. Und freudig atmest du Straßen ein.“ In andeutungsvollen Episoden entstehen eine Stadt, ein Alex und Sicherheitsbeamte, wie es sie so nicht mehr gibt: „Manchmal spaziere ich suchend über den Platz. Ich halte bewusst Ausschau. Ein prägnant durchschnittlicher Typ. Einmal grüße ich versehentlich. Er errötet. Und spaziert hinterher, bis zur Mokkastube.“

Rathenow durchstreift Zentrum wie Randkultur, erzählt Anekdoten und spürt Gerüchten nach: „Ein Marzahner Neubau versackt im sumpfigen Boden? In der Klinik darf der Schrank mit Westmedikamenten erst bei Todesgefahr geöffnet werden? Aha, das Leben ist doch nicht so langweilig, wie es manchmal zu sein scheint.“

Berlin, heißt es, sei eine Reise wert. Was wohl stimmt. Dieser Band mit seinen Geschichten, Ortsbezügen und Fotos macht Lust, der Frage nachzuspüren: Wie viel Ostberlin steckt im heutigen Berlin? – Ein Reiseangebot der besonderen touristischen Art.


Harald Hauswald / Lutz Rathenow
Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall
Life before the Wall fell
Berlin: Jaron Verlag 2005
Erweiterte Neuauflage

© Udo Scheer

Udo Scheer