Michael Wüstefeld
Das AnAlphabeth
Eine Schatztruhe voller Schaumkraut
Der Dresdner Dichter Michael Wüstefeld fischt kunstvoll nach Wörtern
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Michael Wüstefeld
Das AnAlphabeth
Steidl 2007
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Die berühmte dänische Lyrikerin Inger Christensen schrieb vor Jahren ein Langgedicht „Alphabet“, das mit dem Doppelvers beginnt: „Die Aprikosenbäume gibt es. Die Aprikosenbäume gibt es.“ Vom Buchstaben A führte sie, jeweils Wörter mit dem folgenden Anfangsbuchstaben häufend, den Text bis zum N und brach nach 321 N-Versen ab: Sie war einer vom Mathematiker Leonardo Fibonacci erfundenen, exponentiell wachsenden Zahlenfolge verfallen; der Buchstabe Z hätte 196418 Verse gefordert!
Im Kopf des Dresdner Dichters Michael Wüstefeld aber setzte sich die Aprikosenbaum- Zeile fest. Er buchstabiert sich rückwärts durchs Alphabet, vom Z bis zum N, jedoch ohne Zahlenmystik. Sein Langgedicht liegt nun als gegenläufiger Text zu Christensens Versuch vor – ein tolles, wenn nicht verrücktes, in der derzeitigen deutschen Literaturlandschaft jedenfalls einzigartiges Werk. Es reicht vom Z-Einzelvers – „überall Ziegenmelker, Ziegenmelker und Zigarettenkippen überall“ bis zu 295 N-Zeilen: „über Notanker nicht größer als ein Nonnenziegel/ vom Nordwind verwehte Nomaden/ eine Nachtigall trägt ihnen Nesseln nach“ – damit endet das Gedicht.
Hauptstilmittel ist die Aufzählung von Substantiven mit gleichem Anfangsbuchstaben, die meisten in Satzfragmenten, ein Teil in Haupt- und Nebensätzen. In jedem Buchstaben-Kapitel baut der Dichter Themengruppen auf – unter O etwa Offenbarung, Ozeane, Orkane, Organe oder Orte auf Offen- und Ober-. Die Gruppeninhalte reichen von Politik bis Technik, am häufigsten gibt es Tiere und Pflanzen, zum Beispiel so: „Schatztruhen mit Silberfischchen, Sonnentau und Schaumkraut/ überall Schaumkraut hellila bis rosa, zwischen hochschießendem Sauerampfer/ und buttergelben Sumpfdotterblumen, gelegentlich Stockschwämmchen/ oder Schwefelporling, zu schweigen vom Steinpilz hinter der Schattenblume/ auch Schöllkraut überall, und Storchschnabel, friedliebender Stechapfel/ raschelnde Strohblumen, und Gesichter schneidende Stiefmütterchen/ überall die Farben der Stiefmütterchen sonst Strandhafer, Sojabohne/ und über Stoppelfeldern am Himmel Siebenstern ...“
Aus den tiefsten Brunnen unserer Sprache holt der Dichter prallvolle Netze hoch, kombiniert Heterogenes, gibt Wortspiele, Wortwitze, Wortschöpfungen, Uraltes und Jargon-Neues, absurde Zuspitzungen: „Spargel stechendes Schnabeltier“ oder „Sex-Appeal von Sülze“.
Das „AnAlphabet“ ist ein herrlich-wilder Sprach-Strom, der schäumende Metaphern, rauschende Wort-Musik und vollvokalisch tönende Stromschnellen mit sich führt. Stellenweise ist der Strom so reißend, dass einem der Atem stockt; das den ganzen Text durchziehende Adverb „überall“ hält den Leser aber sicher fest.
Was für ein großer Wurf – und was für eine grandiose Huldigung an die viel gescholtene, unerschöpfliche deutsche Sprache!
Zuerst erschienen in der Sächsischen Zeitung
Michael Wüstefeld im Poetenladen
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Wolfgang Hädecke
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