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Robert Wohlleben (Hrg.)

Antreten zum Dichten!

Lyriker um Arno Holz

Kritik
  Robert Wohlleben (Hrg.)
Antreten zum Dichten!
Lyriker um Arno Holz
Reinecke und Voß, Leipzig 2013

Zum Verlag  externer Link



Eine Dachkammer in Berlin, Pariser Straße, Hinterhaus an einem späten Abend im späten 19. Jahrhundert. 6 Männer im Alter von 20-40 sitzen auf Klappstühlen, einer von ihnen hat einen Bleistift in der Hand, die anderen Hefte, Blätter, Geschriebenes. Die Zigarren qualmen.
  Das „Regiment Sassenbach“, so benannt nach dem Verleger, der die Werke der hier Ver­sammel­ten drucken ließ, ist in der Wohnung des Dichters Arno Holz ange­tre­ten. Ange­treten zum Dichten. Wobei es nicht leicht zu sagen ist, ob die gemein­samen Abende der Dichter­gruppe eher den Cha­rakter eines Schreib­seminars hatten, oder ob es wirk­lich um lyrisches Exer­zieren unter dem Kommando des Meisters ging. Arno Holz, der sicher kaum je von Zweifeln an der eigenen Größe ange­kränkelt ward, stellt es so dar, als habe er aus dem leb­losen Material, das seine Schüler ihm brachten, erst eigent­liche Gedichte gemacht. Paul Ernst, ein früherer Weg­gefähr­te, der sich schon früh im Streit wieder von Holz getrennt hatte, spricht dagegen von im Gespräch ent­standenen Gedichten.
  Jedoch geht es hier nicht allein um gemeinsames Dichten – es geht um einen Um­sturz, eine Revo­lution, die Er­neue­rung der deutsche Lyrik. Über­kommene For­men, Reim, überhöhte Dichter­sprache, all das wollen die Lyriker um Arno Holz zum Ver­schwinden bringen und durch eine neue Art zu dichten ersetzen, in freien Versen, schlich­ter Sprache, in Gedich­ten, deren Zeilen nicht mehr links­bündig sondern (jede Zeile ihre eigene Überschrift) zentriert gedruckt werden sollen. Und dieser Putsch wird als konzertierte Aktion durchgeführt: Mit gleich sieben Heften, die alle im Verlag Johann Sassenbach erscheinen, treten 1898/1899 Arno Holz (mit zwei Heften seines „Phantasus“) und vier seiner ›Schüler‹ an die Öffentlichkeit: Georg Stolzenberg mit „Neues Leben 1“ und „Neues Leben 2“, Rolf Wolfgang Martens mit „Befreite Flügel“, Ludwig Reinhard (d.i. Reinhard Piper) mit „Meine Jugend 1“ und Robert Reß mit „Farben“.
  Diese fünf Sammlungen, erweitert durch Stolzen­bergs „Neues Leben 3“ (ur­sprüng­lich 1903 erschienen) und einige verstreut publi­zierte Gedichte Paul Victors – er war zwar Mitglied des Kreises um Arno Holz, jedoch kein Teilnehmer an der konzertierten Aktion – legt nun Robert Wohlleben in einer sorgfältig und diplo­matisch edierten Ausgabe im Verlag Reinecke und Voß vor, der sich dadurch einmal mehr als Fachverlag für Horizont­er­weite­rungen erweist. Denn der Putsch­versuch war nicht erfolg­reich. Von den Zeit­genos­sen mit hämischer Kritik über­zogen, von der Nachwelt kaum beachtet verstummten diese fünf Dichter und ver­schwan­den aus der öffent­lichen Wahr­nehmung ebenso wie weitgehend auch aus den Lite­ratur­geschich­ten, in denen sie meist gerade mal noch eine Fuß­note zu den Einträgen zu Arno Holz hergeben. Ihre Gedichte ver­schwan­den ebenfalls und ließen sich bislang nur mit Mühe in Biblio­theken und Anti­quariaten auffinden.
  Doch jetzt verdanken wir Wohlleben, der uns die Texte noch durch einen knappen Kommentar und ein kenntnis­reiches und erhel­lendes Nachwort erschließt, die Gelegen­heit, uns selbst ein Bild davon zu machen, welche Rolle diese Dichter in der Entwicklung der Lyrik spielen, ob sie wirklich nur dilet­tan­tische und banale Epigonen sind, die man nach dem ›kennste einen kennste alle‹-Prinzip getrost ignorieren kann, oder ob es sich nicht doch lohnt, sie als Individuen wahrzunehmen.
  Natürlich lohnt es sich. Auch wenn die Dichter unleugbar den Eindruck er­wecken, zu­sam­men­gehörig und Holz zugehörig zu sein. Auch wenn dem heu­tigen Leser vielleicht manches wirklich nach Ober­stufen­schüler­lyrik klingt (um niemanden zu be­leidigen: ich meine meine eigene Ober­stufen­schülerlyrik):

Wer mein Freund ist?

Ein Baum
auf der weiten Haide
einsam
krank.

So etwa beginnt Stolzenbergs Gedicht auf S. 45 des ersten Heftes „Neues Leben“. Es finden sich aber auch ganz andere Töne:

Metallisch glänzt der Abendhimmel.
Unter dunklem Geäst
bläst ein Hirt.
Noch springen munter die Zicklein.
Mücken tanzen.
Ein Schaf schaut in die untergehende Sonne.
Bäh!

(Robert Reß, Farben, S. 9)

Vieles vereint die Dichter. Sie alle notieren Impressionen, geben dem Alltag und seiner Sprache viel Raum (da bähen nicht nur die Schafe, es waten auch Jören ins Wasser, man trinkt 'nen Cognac, ein Botaniker putzt seine Brille u.s.w.) und halten sich natürlich alle an die Holz­schen forma­len Vorgaben. Und doch hat jeder der fünf seinen eigenen Ton und es wäre schlicht falsch, ihre Gedichte nur als Holz-Nachahmungen zu eti­ket­tieren. Etwa wenn es um die Schilderung proletarischen Alltag geht:

Kopf an Kopf füllt der Plebs die Arena.

Seine Edelsten starten.

Wie sie sich abrackern! Wie sie sich schinden!

Das Ziel! das Ziel! Um jeden Preis!

Wenn sie ihr Rückgrat beschwert, reißen sie sichs aus – weg!
Hindert sie ihr Herz – weg!
Wen sein Hirn geniert – weg!

Da:
schon sind sie an den byzantinischen Säulen!

Die Hetzjagd!

Wieder,
durch den Staub,
blitzen ihre bunten Livreen.

Das Ziel! Das Ziel!

Blos noch Haut
erreicht es der Sieger.

Aber keine Göttin ists,
die ihm den Kranz gewunden!

(Martens, Befreite Flügel, 31)

Wie viel leiser als der tönende Martens dage­gen Reinhard Piper, der Buch­handels­gehilfe und spätere Verleger, der unter dem Namen Ludwig Rein­hard dichtet:

An jedem toten Wintermorgen
begegnet mir das Arbeitermädchen.

Ich weiss, wie sie fröstelnd aufsteht,
wie sie sich zitternd das Kleid überwirft,
wie sie sich bebend das Haar macht
in der kalten Kammer.

Ich blicke sie mitleidig an.

Sie lacht mir frech ins Gesicht.

(Meine Jugend, 26)

Mit unpathetischer, präziser Beobachtung dichtet Robert Reß:

Gift und Galle, hinter ihr läuft ein Kochtopf über, kreischt sie vom vierten Stock runter
„Wiste machen, dette ruff kommst?“

Mit weiten, starren Augen,
an seinem beschmutzten Kleidchen herumwischend,
bis unter die Wade ist am linken Bein das Strümpfchen gerutscht,
ängstet es sich die Treppen hoch;
fällt auf alle Viere.

Oben
steht schon die Entreethür auf.

In allen Ecken sucht sie nach dem Ausklopper.

Die ganze Küche ist voll Dampf!

(Farben, 24)

Und wieder ganz anders klingt Georg Stolzenberg:

Jeden Abend,
wenn im Biergarten die Militärkapelle spielt,
lehnen rings das Gitter entlang
Arbeiter in blauen Blusen,
das Kinn in die Hand gestützt.

Elektrisches Licht beleuchtet die ernsten Gesichter.

In die rußigen Seelen
duften
Blumen einer fremden Welt.

(Neues Leben 2, 45)

Die Lektüre dieser Gedichte macht misstrauisch sowohl gegenüber der hämischen zeit­genös­sischen Kritik als auch gegen die vorschnell klassi­fizie­rende (Holz­nach­ahmung, Natura­lismus) Litera­tur­geschichts­schrei­bung. Und dabei lassen sich auch noch herr­liche Ent­deckungen machen, der stille, bis­weilen Robert-Walser-artig bescheidene Ludwig Rein­hard etwa, oder der lako­nische und groß­artig un­pa­the­tische Robert Reß.
  Sicher: manche der hier abgedruckten Texte werden wir Heu­tigen mit derselben befrem­deten Rüh­rung betrach­ten, mit der Arno Holz des ersten Dichters gedachte, der Herz und Schmerz zum Reimen brachte; aber daneben wird jeder der vielen Leser, die ich dem Buch wünsche, eine große Zahl von Gedichten finden, die die Lektüre lohnen, einfach weil es gute Gedichte sind.

 

Dirk Uwe Hansen    01.05.2013   

 

 
Dirk Uwe Hansen
Lyrik