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Robert Wohlleben (Hrg.)Antreten zum Dichten!Lyriker um Arno Holz Kritik
Eine Dachkammer in Berlin, Pariser Straße, Hinterhaus an einem späten Abend im späten 19. Jahrhundert. 6 Männer im Alter von 20-40 sitzen auf Klappstühlen, einer von ihnen hat einen Bleistift in der Hand, die anderen Hefte, Blätter, Geschriebenes. Die Zigarren qualmen. Das „Regiment Sassenbach“, so benannt nach dem Verleger, der die Werke der hier Versammelten drucken ließ, ist in der Wohnung des Dichters Arno Holz angetreten. Angetreten zum Dichten. Wobei es nicht leicht zu sagen ist, ob die gemeinsamen Abende der Dichtergruppe eher den Charakter eines Schreibseminars hatten, oder ob es wirklich um lyrisches Exerzieren unter dem Kommando des Meisters ging. Arno Holz, der sicher kaum je von Zweifeln an der eigenen Größe angekränkelt ward, stellt es so dar, als habe er aus dem leblosen Material, das seine Schüler ihm brachten, erst eigentliche Gedichte gemacht. Paul Ernst, ein früherer Weggefährte, der sich schon früh im Streit wieder von Holz getrennt hatte, spricht dagegen von im Gespräch entstandenen Gedichten. Jedoch geht es hier nicht allein um gemeinsames Dichten – es geht um einen Umsturz, eine Revolution, die Erneuerung der deutsche Lyrik. Überkommene Formen, Reim, überhöhte Dichtersprache, all das wollen die Lyriker um Arno Holz zum Verschwinden bringen und durch eine neue Art zu dichten ersetzen, in freien Versen, schlichter Sprache, in Gedichten, deren Zeilen nicht mehr linksbündig sondern (jede Zeile ihre eigene Überschrift) zentriert gedruckt werden sollen. Und dieser Putsch wird als konzertierte Aktion durchgeführt: Mit gleich sieben Heften, die alle im Verlag Johann Sassenbach erscheinen, treten 1898/1899 Arno Holz (mit zwei Heften seines „Phantasus“) und vier seiner ›Schüler‹ an die Öffentlichkeit: Georg Stolzenberg mit „Neues Leben 1“ und „Neues Leben 2“, Rolf Wolfgang Martens mit „Befreite Flügel“, Ludwig Reinhard (d.i. Reinhard Piper) mit „Meine Jugend 1“ und Robert Reß mit „Farben“. Diese fünf Sammlungen, erweitert durch Stolzenbergs „Neues Leben 3“ (ursprünglich 1903 erschienen) und einige verstreut publizierte Gedichte Paul Victors – er war zwar Mitglied des Kreises um Arno Holz, jedoch kein Teilnehmer an der konzertierten Aktion – legt nun Robert Wohlleben in einer sorgfältig und diplomatisch edierten Ausgabe im Verlag Reinecke und Voß vor, der sich dadurch einmal mehr als Fachverlag für Horizonterweiterungen erweist. Denn der Putschversuch war nicht erfolgreich. Von den Zeitgenossen mit hämischer Kritik überzogen, von der Nachwelt kaum beachtet verstummten diese fünf Dichter und verschwanden aus der öffentlichen Wahrnehmung ebenso wie weitgehend auch aus den Literaturgeschichten, in denen sie meist gerade mal noch eine Fußnote zu den Einträgen zu Arno Holz hergeben. Ihre Gedichte verschwanden ebenfalls und ließen sich bislang nur mit Mühe in Bibliotheken und Antiquariaten auffinden. Doch jetzt verdanken wir Wohlleben, der uns die Texte noch durch einen knappen Kommentar und ein kenntnisreiches und erhellendes Nachwort erschließt, die Gelegenheit, uns selbst ein Bild davon zu machen, welche Rolle diese Dichter in der Entwicklung der Lyrik spielen, ob sie wirklich nur dilettantische und banale Epigonen sind, die man nach dem ›kennste einen kennste alle‹-Prinzip getrost ignorieren kann, oder ob es sich nicht doch lohnt, sie als Individuen wahrzunehmen. Natürlich lohnt es sich. Auch wenn die Dichter unleugbar den Eindruck erwecken, zusammengehörig und Holz zugehörig zu sein. Auch wenn dem heutigen Leser vielleicht manches wirklich nach Oberstufenschülerlyrik klingt (um niemanden zu beleidigen: ich meine meine eigene Oberstufenschülerlyrik): Wer mein Freund ist? Metallisch glänzt der Abendhimmel. (Robert Reß, Farben, S. 9) Vieles vereint die Dichter. Sie alle notieren Impressionen, geben dem Alltag und seiner Sprache viel Raum (da bähen nicht nur die Schafe, es waten auch Jören ins Wasser, man trinkt 'nen Cognac, ein Botaniker putzt seine Brille u.s.w.) und halten sich natürlich alle an die Holzschen formalen Vorgaben. Und doch hat jeder der fünf seinen eigenen Ton und es wäre schlicht falsch, ihre Gedichte nur als Holz-Kopf an Kopf füllt der Plebs die Arena. (Martens, Befreite Flügel, 31) Wie viel leiser als der tönende Martens dagegen Reinhard Piper, der Buchhandelsgehilfe und spätere Verleger, der unter dem Namen Ludwig Reinhard dichtet:An jedem toten Wintermorgen (Meine Jugend, 26) Mit unpathetischer, präziser Beobachtung dichtet Robert Reß: Gift und Galle, hinter ihr läuft ein Kochtopf über, kreischt sie vom vierten Stock runter (Farben, 24) Und wieder ganz anders klingt Georg Stolzenberg:Jeden Abend, (Neues Leben 2, 45) Die Lektüre dieser Gedichte macht misstrauisch sowohl gegenüber der hämischen zeitgenössischen Kritik als auch gegen die vorschnell klassifizierende (Holznachahmung, Naturalismus) Literaturgeschichtsschreibung. Und dabei lassen sich auch noch herrliche Entdeckungen machen, der stille, bisweilen Robert-Walser-Sicher: manche der hier abgedruckten Texte werden wir Heutigen mit derselben befremdeten Rührung betrachten, mit der Arno Holz des ersten Dichters gedachte, der Herz und Schmerz zum Reimen brachte; aber daneben wird jeder der vielen Leser, die ich dem Buch wünsche, eine große Zahl von Gedichten finden, die die Lektüre lohnen, einfach weil es gute Gedichte sind.
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Dirk Uwe Hansen
Lyrik
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