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Friederike Moldenhauer und Tina Uebel (Hg.)
Sex ist eigentlich nicht so mein Ding

Guter Sex findet nicht statt!
Eine Anthologie lotet Wege und Abwege des Intimen aus

Friederike Moldenhauer und Tina Uebel (Hg.) | Sex ist eigentlich nicht so mein Ding
Friederike Moldenhauer u.
Tina Uebel (Hg.)
Sex ist eigentlich nicht
so mein Ding
Anthologie
Eichborn Verlag 2007
Nach der Lektüre der Anthologie Sex ist eigentlich nicht so mein Ding hat man auf paradoxe Weise wieder Lust aufs Leben. Die Heraus­geberin­nen Friede­rike Molden­hauer und Tina Uebel stellen gleich zu Beginn klar, dass alles Geschlechtliche nicht nur über­bewer­tet, sondern mittler­weile auch übermäßig ausge­leuchtet sei: „Nein, ehrlich gesagt möchten wir keinen Ge­schlechts­verkehr. Wir möchten auch eigentlich nicht mal darüber nachdenken. ... Überhaupt gehören anato­mische Details zu den erschre­ckends­ten Aspek­ten des Geschlechts­verkehrs, man möge auf­hören, uns mit derlei zu behel­ligen.“ Diese Ver­wei­gerungs­haltung verdankt sich also auch dem Null­sum­men­spiel der kommer­ziali­sierten Rest­losig­keit aller Bilder- und Ans­pruchs­möglich­keiten. Dauer­verhandelt wird es üblicherweise auf der Ebene des Erfahrungs­berichts, des Dauer­lifestyles im Tipps-und-Rat­geber-Modus und dessen omni­prä­sen­tem Leis­tungs­horror.
      Bleibt die Literatur, um den Zwangsjacken-Konsens vom anything goes als lebensbejahender Leistungsschau zu hintertreiben. Tabu-Bruch heute wäre somit nicht die Darstellung von beweglichen Körperteilen und ihrer sonstwie krassen Schmatzgeräusche, sondern das systematische Aushebeln ständig blind vorausgesetzter Glücksansprüche, d.h. hier: die ad absurdum geführte Freiheit im Tun und Lassen von Sexuellem. Die angeblich letzte Bastion des Privaten, der eigene Körper, das eigene Intime – auch sie erscheint korrum­piert von den Machbar­keits­phantasien eines in der Werbe­trommel verrührten und den Autoren suspekten Körperkults.

Dieser Band versammelt Protagonist / Innen, die sich daran stoßen, im medialen Overkill lediglich Vorposten oder Abfangjäger der Verdinglichung zu sein. Den besten der 31 Beiträge gelingt, was dem Leben meist vorenthalten bleibt: der überregulierten Verhaltensfalle zu entkommen. Hier wird bewusst auf die Spitze getrieben. Die Entwertung bzw. Verkehrung klischeeverhafteter Optiken treibt – so verstanden – zwingend logische Blüten. Eingeteilt in acht (nicht ganz so logisch benannte) Kapitel enthält der Band unter anderem Texte von Harald Martenstein, John von Düffel, Sibylle Berg, Jakob Hein, Feridun Zaimoglu, Tanja Dückers, Wolfgang Schömel, Martin Brinkmann und Michael Weins. Ausgehend vom Verhinderungs- und / oder Verweigerungsgestus reicht die Palette vom hasserfüllt-zerknirschten Abschiedsbrief (Zaimoglu), Karikatur (Schömel, Brinkmann, von Düffel), Gender und Kapitalismuskritik (Berg) über die Idiosynkrasien gegen alles Sexuelle (Weins, Sven Amtsberg) und das Morbide (Gunter Gerlach, Benjamin Maack). Kennzeichen der meisten Texte ist ein deutlicher und in diesem Kontext erfrischender Hang zur Groteske.

Den sexuellen Overkill hat die Geschichte, die der Anthologie ihren Namen gab, von Michael Weins (Sex ist nicht so mein Ding) zum Thema. Ausgelöst vom nymphomanen Spielchen seines weiblichen Gegenparts sieht sich der Erzähler zum „Orgasmusapparat“ degradiert („Ich war nichts als ein Körper für sie, eine Maschine, die machte, daß sie glücklich war.“) und (ver-)zweifelt schließlich mit seinen ihm verbliebenen Denk- und Fühlresten an dieser Rolle. Absurde Übersteigerungen dieser Art zeichnen die meisten Beiträge aus. So auch Sven Amtsbergs Erzählung Flickflack, die den ansonsten ja eher zu Beklemmung und psychologischem Ernst taugenden Begriff des Frühkind-Traumas genüsslich in die Groteske verlegt. Ebenfalls in diese Richtung zielt die stilistisch irgendwo zwischen Henry Miller und Kafka stehende, surrealistisch bis comic-haft anmutende Geschichte von Michel Abdollahi, die die Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen am konsequentesten offenlegt.
      Sibylle Bergs Beitrag über Eindrücke von der „Schweizer Sexmesse“ bringt solcher Art Entfremdung zwischen den Geschlechtern trocken und unprätentiös auf den Punkt: „Wir haben es nicht geschafft, mehr zu sein als wir sind. Der Biologie hinterherjagend.“ Einen selbstironischen Einblick in die hormonelle Narretei bietet Eugen Egners selbstloser Liebhaber, der sich für die Angebetete haushoch verschuldet, um am Ende trotzdem als überzählig ausrangiert zu werden. Der Verzweiflung angesichts der reinen Leere des Biologischen und den damit verbundenen Gefühlen begegnet auch John von Düffels Text Kramer in Form der Karikatur. Dieser furiose Konjunktiv-Monolog kann zweifellos als der stärkste Anthologiebeitrag gelten. Dessen Sicht der Dinge zielt auf einen geradezu senilen Realismus, der dem überbeanspruchten Eros den Nimbus des Extravaganten nimmt: „So verspüre er beispielsweise seit einigen Jahren eine buchstäblich orthopädische Zuneigung zu ihr in den Beinen. ... Er, Kramer, würde einfach nur dasitzen wie immer, mit gefalteten Händen und mittlerweile angelegten Daumen, erfüllt von dem Gefühl der Dauer, das mit rheumatischer Gemächlichkeit durch seine Knochen wandere wie ein in Wärme verwandelter Schmerz.“

Vom Ich-losen Treiben in Entgrenzung und Berauschung, vom freien luftigen und lustigen Segeln durch die Sinnenverzückung ist auch in allen anderen Beiträgen nicht die Rede. Das Konzept eines widerborstigen Gegenentwurfs zu den überdrapierten Verkehrsformen im Abziehbildchen-Format fasst Tania Kibermanis (Guter Sex findet nicht statt) so zusammen: „ ... und wir erfreuen uns still an dem Sex, den wir glücklicherweise nie hatten.“ Derart enthaltsam freuen auch wir uns am mittig austarierten, längst überfälligen Aufruf zur Abgeklärtheit zwischen Soll und Haben. Dass dies erst jetzt geschieht, kann eigentlich nur verwundern. Oder, um mit Friederike Moldenhauer zu sprechen: „Warum ist darauf nicht schon vorher jemand gekommen?“

Marcus Roloff     19.09.2007

 

 
Marcus Roloff
Lyrik
im toten winkel des goldenen schnitts
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