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Meine fremden Hände

Ich bin 1986 geboren. Muss wohl'n Scheißjahr gewesen sein. Ich habe keine Hände und keine Füße. Manchmal habe ich auch kein Gesicht.
Ich habe sieben Geschwister, aber die sind alle jünger als ich. Mittags verteile ich das Essen in acht Schälchen, mit den Händen, von denen ich weiß, dass es gar nicht meine sind. Und auch meine Füße, auf denen ich durchs ganze Haus laufe, gehören gar nicht mir. Die sind nur da, damit ich hier alles machen kann. Wenn es meine eigenen Hände und Füße wären, wäre ich schon lange nicht mehr hier.
Aber die anderen, die fremden Hände und Füße, die lassen nicht zu, dass ich weggehe. Die zwingen mich hier tagein und tagaus alles zu tun, was zu tun ist.
Ich war nie in der Schule oder so. Das heißt, angemeldet war ich schon immer, aber ich konnte ja nicht hingehen. Und irgendwann haben die Lehrer dann auch aufgehört zu fragen, warum ich nie komme.
Ich hab mir das alles selbst beigebracht. Mehr als ein bißchen Schreiben, Lesen und Rechnen muss man ja auch nicht können. Ich weiß immer genau, was ich für das Geld kriege, das gerade da ist.
Meine Geschwister, die gehen wohl in die Schule. Aber nur die großen, die kleinen noch nicht. Deshalb gehe ich ja auch nicht. Es ist immer das älteste Kind, das zu Hause bleibt und die jüngeren versorgt. So war es immer und so wird es immer sein.

Wir haben nie einen Vater gehabt. Wir sind Kinder, die ohne Vater entstanden sind, denn sonst wäre ja mal einer da gewesen.
Deshalb habe ich auch manchmal kein Gesicht. Weil die Leute auf der Straße, die gucken uns immer so an. Die können einfach nicht verstehen, dass es auf dieser Welt Kinder gibt, die ohne Vater entstanden sind. Wenn die so gucken, dann geht mein Gesicht weg, verschwindet und kommt erst wieder, wenn die Haustür hinter uns zu ist. Ich weiß auch nicht, wo es hingeht, aber ich weiß ja auch nicht, wo meine richtigen Hände und Füße sind.
Ich hoffe, dass bei meiner Mutter nicht noch mehr Kinder ohne Vater entstehen. Ich bin jetzt 14 Jahre alt und mein jüngster Bruder, der ist drei. Wenn der in drei Jahren in die Schule geht, dann bin ich 17. Vielleicht muss ich dann nicht mehr zu Hause bleiben. Ich wäre dann ja auch ganz alleine zu Hause, und das hat ja keinen Zweck. In die Schule will ich dann aber auch nicht mehr. Ich kann das doch schon alles.
Ich will was anderes. Ich will morgens, wenn alle anderen in der Schule sind, meine Hände und Füße suchen. Ich will auch wissen, wo mein Gesicht hingeht. Vielleicht gibt es da ja auch noch andere Kinder, die ohne Vater entstanden sind und deren Gesicht manchmal weggeht. Vielleicht kann ich mich ja mit denen verstehen.
Die anderen Mädchen, die hier im Dorf wohnen und so alt sind wie ich, verstehe ich nicht. Sie mich bestimmt auch nicht, aber ich rede ja auch nicht mit denen. Weil die so anders sind. Weil die alle mit Vater entstanden sind. Das weiß ich, weil die Väter von denen, die kommen abends immer mit dem Auto.
Wir haben kein Auto, aber ich darf ja sowieso noch keins fahren. Wir gehen deshalb immer mit dem Bollerwagen einkaufen. Auf der Hinfahrt lass ich die zwei kleinsten immer drinsitzen. Auf der Rückfahrt geht das nicht, weil dann ist der Wagen ja voll. Und die Kleinen, die müssen dann auch was tragen. Meine fremden Hände, die sonst alles machen, können nicht immer den ganzen Einkauf alleine tragen. Ich bin immer froh, dass es nicht meine eigenen Hände sind. Weil, dann muss ich mich auch nicht schämen, dass die immer so rot und schwielig sind. Die anderen Mädchen haben das nicht, das seh ich bei den Kassiererinnen vom Laden immer. Aber die haben auch bestimmt keine fremden Hände. Die haben bestimmt eigene Hände.
Nur meine Mutter, die hat das auch, aber die ist ja auch schon alt, auch im Gesicht. Vor drei Wochen ist sie 32 geworden. Ich weiß nicht, ob ich auch so alt werden will.
Weil dann sieht mein Gesicht vielleicht auch so alt aus. Und vielleicht geht es dann auch nicht mehr weg, weil es zu alt zum Weggehen ist. Und was soll ich dann machen, wenn die Leute auf der Straße wieder so gucken?
Ich glaube, ich will auch keine Kinder haben. Meine Geschwister sagen sowieso schon Mama zu mir.
Aber vielleicht bin ich ja auch so wie meine Mutter, und die Kinder entstehen einfach ohne Vater. Ich weiß nicht, ob so was erblich ist. Ich weiß auch nicht, wer mir sagen kann, ob das erblich ist, und ob die Kinder dann einfach immer kommen, auch wenn man das gar nicht will.
Meine Mutter hat das auf jeden Fall nicht geerbt, weil die Oma hat ja den Opa. Der Opa mag meine Mutter gerne, und uns auch ein bißchen, aber die Oma, die schimpft immer mit meiner Mutter. Die mag auch uns Kinder nicht, weil wir dreckige Bastarde sind. Deshalb besuchen uns die Oma und der Opa auch nie.
Ich habe meine Mutter gefragt, was dreckige Bastarde sind. Sie hat gesagt, Bastarde sind ganz besondere Kinder, nämlich die, die ohne Vater entstanden sind. Und deshalb sind die so besonders, weil Jesus auch ohne Vater entstanden ist.
Und dann hat sie noch gesagt, wir sollen froh sein, dass wir manchmal dreckig sind, weil die anderen Kinder dürften sich nie dreckig machen.
Aber die Oma sagt das immer mit einem Gesicht, dass man richtig Angst kriegt. Meine Mutter hat gesagt, das ist, weil die Oma nur neidisch ist, weil ihre Kinder nicht ohne Vater entstanden sind.
Deshalb will ich auch später keine Kinder kriegen. Weil ich will nicht, dass die Leute neidisch auf mich sind und mich mit so einem schrecklichen Gesicht angucken.
Abends, wenn ich die Kinder alle ins Bett gebracht habe, bete ich beim Aufräumen immer, dass ich nicht so bin, wie meine Mutter, bei der die Kinder einfach ohne Vater kommen. Dann ist mein Leben später auch viel einfacher. Weil ich dann ja Zeit habe. Weil ich dann nicht wie meine Mutter immer weg sein muss, um für Brötchen zu sorgen.
Das sagt die nämlich immer, dabei gibt es Brötchen bei uns nur zu Weihnachten, und sogar dann nur selbstgebackene. Ich will später nicht jeden Tag und jede Nacht für Brötchen sorgen.
Das einzige, was ich will, ist wissen, was mit meinen Händen und Füßen passiert ist. Und ob die noch mal wiederkommen. Wenigstens manchmal, so wie mein Gesicht.

Rebecca Maria Salentin      07.02.2006

Rebecca Salentin
Prosa
Interview