Der goldene Stern
Am Abend das Riesenrad und die Buden, der Greifarm, der im Glaskasten nach Kuscheltieren greift, Waffeln mit heißen Kirschen und Sahne. Der zerkratzte Wahrsageautomat. Dann zur Bahn wie unter Wasser. Am Bahnsteig treffen dich Fischblicke und sülzige Augen. Aber zufällig und unregelmäßig, die völlige Abwesenheit eines Gegners. Die Laternen wie Beine einer übergeordneten Welt, in einem langsamen Sturm unter Wasser. Dann in einem goldenen U-Boot nachhause, in weicher Mechanik, in der vollen Bahn langsame Langustenbewegungen. Was hat der Handleseautomat gedruckt und ausgespuckt, was stand auf dem kleinen gelben Zettel?
Die Kirche im Dorf lassen. Sie gewinnen mit Willenskraft.
Also Sport. Also Sport am nächsten Morgen, dieses Leid der letzten Wochen ist dir eh vorgekommen wie Kleingeld. Ein neuer Morgen. Wie konntest du nur so theatralisch sein? Das ist dir jetzt ganz fremd. Sport als Anti-Theatralik. Das ist gut. Wenn schon nicht gegen fauchende Drachen kämpfen, dann Sport. Wer keinen Feind hat: Sport. Und warum immer quer sein, warum nicht, wie heißt es noch mal? Aufrichtig. Warum nicht Bauch rein und Brust raus? Ein deutscher Morgen.
Du also in Badehosen.
Die sind pink und grün, denn du bist ein witziger Kerl. Kein dämlicher Liedermacher oder so, der sich viel zu ernst nimmt und dabei ein Weichei ist.
So einer nicht.
Auch kein Mountainbiker, machst du Sport? Ja, das schon, aber du bleibst dabei Mensch und das finden wir gut. Wie heißt dieser sympathische Kerl, hat er eine Freundin? Wir mögen ihn und möchten vielleicht mit ihm schlafen.
Aber es sind keine Frauen in der Halle.
Ganz hinten links untersucht der Bademeister eine Topfpalme. Kein Außerirdischer, er sieht nicht mal unsympathisch aus. Wie er jetzt mit dem Kopf aus der Palme taucht und dich entdeckt. Als einzigen Gast. Ich würde dich überall erkennen.
Du schwimmst drei kraftvolle Bahnen, steigst dann aus dem Wasser und rauchst im verglasten Außenbereich. Erste Senioren kommen in die Halle. Sie sind ganz weiß und haben gelbe Hauben auf. Sie versammeln sich um ein separates Gymnastikbecken. Als sie sich im Wasser aufgestellt haben, macht der Bademeister am Beckenrand Bewegungen vor. Die Senioren machen das nach mit ihren gelben Hauben, dieselben Bewegungen wie der Bademeister. Du rauchst.
Du bist so ein Typ, du lässt die Kirche im Dorf.
Später dann plötzlich Bewegung an der Pforte zur Beckenlandschaft. Wer kommt? Schülerinnen nicht zu knapp! Eine Bohnenstange steht in einem arroganten Kontraposto da und lässt kühle Blicke durch die Halle schweifen. Begleitet von ihrer dicken Freundin, die die Handtücher hält.
Der Bademeister hat sich inzwischen in seinem Hochstuhl eingerichtet und die Senioren diffundieren frei durch die Thermalsituation.
Du stehst da und siehst gebannt auf dieses lange Mädchen, entdeckst dann aber plötzlich jemand ganz anderen, wen?
Einen Menschen.
Also doch.
Du winkst ihm energisch zu, sieht er dich? Nein. Er steht da in Badehosen und Latschen und guckt doof. In dieser sympathischen Komik eines Bekannten in der Menge.
Steht da und sieht einen nicht. Immer noch nicht? Nein.
Haha, der ist aber blind, denkst du. Ein Kind pisst dir mit einer Wasserpistole ans Bein, keck wie eine Rübe. Aber das nimmst du dem Kind nicht krumm. So einer bist du nicht. Vielmehr fragst du dich, warum dich hier keiner sieht. Du stehst da und winkst wie ein Arschloch im Mai, langsam wird es peinlich.
Später mit Sigmund im Thermalbadkeller, Sigmund hat gekifft, aber für dich heißt es ja seit kurzem: sinnvoller leben.
Seit wann genau? Seit gestern. Wie? Hauptsächlich Sport.
Sigmund sagt: Geil, bekifft in die Sauna.
Es gibt Palmen und Liegestühle und ein Eisbecken. Rundherum die sieben gierigen Mäuler der Saunen. Und natürlich Nackte. Faltenmänner und Faltenfrauen. Freund Sigmund steigt leichter Hand aus der Hose. Du auch. Steigst aus der pinken und grünen Hose, streifst also deine grobstoffliche Hülle ab, legst also dein Innerstes frei und rufst: Schaut her, ich bin schön!
Das nicht.
Aber unangenehm ist es auch nicht, denkst du. Blickt dort ein altweibisches Fischauge auf dein Genital? Das muss wenn überhaupt zufällig und unregelmäßig sein. Die völlige Abwesenheit der Liebe nämlich hier unten. Sigmund schreitet voran zur finnischen Sauna: 80° (80 Grad), macht die Tür auf und sagt: Guten Tag.
Und die Gemeinschaft, fröhlich schwitzend aus dem Nebel heraus: Guten Tag.
Die Welt, vorhersehbar. Selbst in der Sauna weiß man inzwischen was passiert.
Hamlet stirbt.
Der Ausgang ist völlig klar.
Ihr setzt euch hier hin und da sitzt ihr da. Nicht wie beim richtigen Sport, wo einer gewinnt. Das hier ist etwas völlig anderes. Das hier ist Wellness. Was ist Wellness? Wellness ist Scheitern. Wellness ist ein Wahrsageautomat, alle sehen dich an.
Kein Schweiß aufs Holz.
Unter keinen Umständen darf man sich einfach so auf das nackte Holz setzen!
Wir werden neue Kontinente erreichen, mit einem Helden wie dir ist das ja kein Problem.
Sex, Sex nämlich, ganz plötzlich im sinnlosen Raum, die arrogante Bohnenstange neben ihrer dicken Freundin, wagen sich da als blutjunge Schülerinnen herein. Und ihr als Gruppe: Guten Tag.
Wie sitzt Sigmund da? Ganz ganz souverän, der alte Dadaist. Sein Genital in den Raum legend.
Und du?
Wie eine beschissene Dame.
Stell die Beine lieber nebeneinander, präsentier dich dem krassen Raum.
Die beiden Mädchen wie in Marmor gehauen.
Und dann dieser Quadratzentimeter. Ganz kurz. Welche Farbe? Dunkelblond, ein dunkelblonder Haaransatz. Da sitzt sie auf ihrem Schatz. Da sitzt sie als Gymnasiastin mit ihren langen Beinen über Kreuz, die Mäusebrust kess in den Raum gereckt. Sie wendet den Kopf? Nur ganz langsam wie eine Giraffe oder eine Sphinx, das Kinn noch etwas erhabener. Sie wendet den Kopf? Sie trägt Zopf, nur eine Strähne hat sich gelöst, zum gelegentlichen wegpusten, sofern sie nicht schon klebt. Der Schweiß der Sphinx. Sie streift deinen Blick mit ihren engelsblauen Augen und du sitzt wehrlos mit deinem Zipfel im Raum.
Als Liedermacher.
Sie schließt die Augen. Und daneben ihre dicke Freundin: als Ball.
Soviel Sex an nur einem Tag, du bist ganz begeistert von deinem Leben. Eine weiche Mechanik mit einer Art Hand, die ab und zu rauspumpt und nach etwas greift. Sie greift ins Leere, aber es gibt einen gewissen Quietschton. Ein nacktes Mädchen sitzt in einer Sauna.
Und als du die Augen wieder aufmachst, ist sie verschwunden. Elvis has left the building. Haha.
Du lachst über diesen kleinen Spruch, den du dir innerlich gönnst. Du tippst Sigmund an und flüsterst: Elvis has left the building. Und ihr genießt euren kleinen Zwei-Mann-Spruch. Ein Spruch, der nicht wirklich witzig ist, aber doch ein bisschen, zumindest ausreichend. Was gibt es schöneres, als mit einem Freund zu lachen. Da wird der Moment zu einem kleinen Haus. Und der Witz zu einem Hund am Kamin. Ein Bellen des Geistes, aber immer Vorsicht mit der Theatralik.
Später in der Röhrenrutsche. Die geht sogar nach draußen und dann wieder rein. Das ist ein Spaßschwimmbad. Die Stimmen klingen dumpf und intim in der roten Röhre. Du bist ganz alleine mit dir und das Tempo könnte schneller sein. Du hörst ein dumpfes Quieken. Um eine Kurve würde sich der Klang lichten, sähst du plötzlich die Bohnenstange, dämonisch lächelnd. Sie hätte sich quergestellt und auf dich gewartet. Sie würde dir die Zunge rausstrecken und blitzend lächeln und du würdest erschrecken, hektisch abbremsen, während sie lacht, lacht, die Schönheit. Aber das passiert nicht. Du plumpst nur klobig unten raus. Aus dieser Röhre. Aus dieser Mischung von Tropfsteinhöhle, Uterus und Freizeitspaß.
Abends das Riesenrad und die Buden. Himbeernacht, das Leuchten der Lichter. Der warme Tieratem der Nacht. Du bist mit Sigmund da und ihr seid gut gelaunt. Was denn sonst! Ihr lasst euch nicht unterkriegen, Kumpels. Und dich kann man immer gut erkennen. An deiner Nase zum Beispiel. An der Art wie du gehst und in der Gegend stehst und mich nicht siehst. Die seltsame Komik eines guten Freundes in der Menge. Du siehst so albern aus, das macht mich richtiggehend froh, das lässt mich manchmal (Vorsicht!) ganz unschuldig empfinden. Im Riesenrad der goldene Stern der Bierreklame und wir hier in unserem Unterwasserfilm gehen würdig und zeitlupenhaft durch die Welt. Als befreundete Helden. Wenn die Krise alles verfinstert hat, werden die Kinder des Lichts die Sterne anzünden.
Andreas Stichmann 02.04.2006