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Der lange Gang über die Stationen
Das erste Kind
Sie sprühte Waschbecken und Badewanne ein, Schaumflocken des Citrus-Reinigers schwebten durch den Raum, sie säuberte den Spiegel mit Glasreiniger und sah sich selbst dennoch verschwommen, dann schrubbte sie mit einer alten Zahnbürste die Fliesenfugen, gab Rohrreiniger in die Ausgüsse und polierte die Armaturen. Die Luft in der gesamten Wohnung war beißend von all den Reinigungsmitteln, aber sie hatte vergessen, einen Teil der Schrankwand zu putzen und hob die Fotografien ihrer Enkelkinder eine nach der anderen an, um das Regalbrett abzuwischen. Auf dem Schwammtuch hatten sich schwarze Striemen gebildet, sie spülte es aus und hängte es zum Trocknen über die Heizung. In ihren Lungen stach es immer heftiger, nur noch raus wollte sie und zog ihren Mantel über, warf noch einen kurzen Blick zurück und verließ die Wohnung.
     Sie sah bereits den Rand des Stadtwalds, durch den sie häufig spazierte, blieb jedoch auf der Brücke stehen, deren Boden unter ihren Füßen vibrierte, und ein dumpfes Dröhnen war zu hören; sie beugte sich über das Geländer und sah, wie die Wagendächer eines Personenzugs durch ihr Blickfeld schossen. Neben der Bahnstrecke verlief ein stillgelegtes Gleis, zwischen dessen Schwellen das Unkraut hoch gewachsen war und das zu einer alten Fabrikhalle mit teilweise eingerissenen Wänden führte, was sie an das Bild der aus den Schutthaufen hervorragenden Mauerreste erinnerte, auf deren Bruchlinien sich Schnee angesammelt hatte, der in Brocken herunterfiel und teils auf dem Schutt zerbröselte, teils im Wind zerstäubte. Sie schob den Kinderwagen durch die trümmergesäumten Straßen, und so sehr sie sich dagegen wehrte, sie musste sich einfach umdrehen, und da verliefen nur die Spuren einer Person im Schnee. Sie hob ein Bein an und verglich den Fußabdruck mit den Spuren, die auf sie zuliefen, und es waren die gleichen, ohne Zweifel. Der Himmel war fast genauso weiß wie der Neuschnee um sie herum, nur ein Rauchfaden stieg aus dem Schornstein eines intakt gebliebenen Hauses auf, und die schattenhafte Gestalt eines Vogels kreiste in großer Höhe. Sie hörte einen Säugling schreien, wandte den Kopf ruckartig zu den Trümmerhaufen, wollte schon auf sie hinaufklettern, um die Backsteine abzutragen und die Balken wegzuzerren, aber von dort kamen die Schreie gar nicht, sie waren auch viel zu nah, so als läge das Kind im Kinderwagen oder sogar noch näher, in ihren Armen, fest an ihre Brust gedrückt. Dann war es wieder so still, dass sie das Rieseln der Schneeflocken hören konnte, und sie ging weiter.

Sie stützte sich auf das Brückengeländer, als ein Güterzug vorbeizog, so langsam, dass sie die Ladung hätte genau erkennen können, wären die Waggons nicht mit Planen abgedeckt gewesen, und nachdem der Zug fort war, fiel ihr Blick auf die mit Graffiti besprühte Schallschutzwand, auf die verzerrten Schriftzüge, deren Bedeutungen ihr unklar blieben. Noch knapp zwei Stunden, dann würde ihr jüngster Enkelsohn ankommen, und sie ging zurück in Richtung ihrer Wohnung, sah bereits die Obst- und Gemüseauslagen des kleinen Lebensmittelladens, in dem sie all ihre Einkäufe erledigte. Sie blickte durch das Schaufenster, um sich zu vergewissern, dass dort keine der anderen alten Frauen des Viertels waren, deren Lebensgeschichten sie schon beinahe auswendig kannte, aber sie musste sie sich doch immer wieder anhören, wobei sie sich um einen interessierten Gesichtsausdruck bemühte, bis ihr irgendwann der erwartungsvolle Blick ihres Gegenübers signalisierte, dass sie an der Reihe war mit Erzählen, und es strengte sie an, sich immer etwas auszudenken, das sie vorschieben konnte, irgendeine dringende Besorgung, einen Arzttermin oder den Besuch von Bekannten, deren Namen sie sich auf die Schnelle ausdachte. Doch allein durch die Aufforderung zum Erzählen tauchten die Bilder wieder auf, wie der mit Papieren überhäuften Schreibtisch, der inmitten eines Raumes mit hohen vertäfelten Wänden stand, und dahinter saß ein Mann, der offensichtlich sehr laut redete, aber sie hörte seine Worte nur gedämpft und von der Seite kommend, obwohl er ihr gegenüber saß, dann wurde seine Stimme plötzlich so laut, als würde er ihr direkt ins Ohr brüllen, Verstehen Sie, was ich Ihnen sage, Verstehen Sie mich? Sie nickte, und er, in dem sie erst jetzt einen Arzt vermutete, wirbelte mit einer fahrigen Handbewegung die Papiere auf und stieß beinahe die Lampe vom Tisch. Ich verbiete Ihnen, weiterhin den leeren Kinderwagen durch die Straßen zu schieben, hören Sie? Ansonsten bin ich gezwungen, Sie in die Nervenheilanstalt einzuweisen. Sie musste an die Frau denken, die jeden Tag mit einem Korb voller Äpfel die Bahnhofsgleise auf und ab gegangen war und jedem erzählt hatte, dass heute ihr Mann zurückkommen würde, manchmal war sie auch Wildfremden um den Hals gefallen und man hatte sie nur mit Hilfe mehrerer Männer wieder von Ihnen trennen können, und von dieser Frau erzählte man, dass sie in die Anstalt gekommen sei und sicher nie mehr herauskommen würde. Der Arzt lehnte sich zurück, nahm einen Schluck aus einem Cognacschwenker und schien sich um ein Lächeln zu bemühen, dann sagte er in ruhigerem Ton, Hören Sie, ich weiß, der Verlust eines Kindes wiegt schwer, aber Sie sind noch jung und werden sicher noch viele Kinder bekommen – denken Sie daran und stellen Sie den Kinderwagen in den Keller, bis sie ihn wieder brauchen. Einverstanden? Sie wollte antworten, wollte sagen, dass sie den Wagen doch jetzt brauche, brachte aber keinen Ton heraus.

Der Besitzer des Lebensmittelladens sah von seiner Zeitung auf und grüßte, sie nickte ihm zu und ging zwischen den Regalen entlang, blieb vor den Getränken stehen und suchte nach der Limonade, die ihr Enkelsohn als Kind so gerne getrunken hatte, und jetzt fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte zu fragen, was seine Freundin mochte. Wie hieß sie noch? Es war doch zum Verzweifeln, nicht einmal den Namen konnte sie sich merken, obwohl die beiden schon seit Jahren ein Paar waren. Und hatte ihr Name nicht auch auf der selbstgebastelten Karte gestanden, die sie erst vorhin in den Händen gehalten hatte, auf der Unser erstes Kind stand und der ein Foto beigelegt war, das den schlafenden Säugling im Gitterbett zeigte? Sie erkannte die Limonade an dem Etikett, auf dem zwei Zitronen abgebildet waren, eine halbierte Frucht und eine ganze, deren Schalen mit glänzenden Wassertropfen benetzt waren. Sie bezahlte und kehrte in die Wohnung zurück, der beißende Geruch hatte sich fast vollständig verflüchtigt, dann stellte sie die Limonade in den Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer, um den Tisch zu decken, wobei sie bemerkte, dass sie noch immer die Straßenschuhe trug, die sie sofort auszog und anschließend saugte sie die Wege, die sie eben gegangen war, verwendete einen speziellen Düsenaufsatz für den Läufer im Flur, und den Küchenboden und die Parkettdielen im Wohnzimmer wischte sie hinterher nochmals. Sie rief die Taxizentrale an, um einen Wagen zum Bahnhof zu bestellen, und als sie die Treppe herunterging, fand sie sich in der absoluten Finsternis im Haus ihrer Schwiegereltern wieder, durch das sie sich an den Wänden entlangtastete, und allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, traten die grauen Wände nacheinander hervor, an deren rauen Tapeten sie mit den Fingerkuppen entlangstreifte. Sie kam dem Geschrei näher, das lange auf einer hohen Frequenz blieb, einem schrillen Ton, der sofort aufhören musste, und sie wollte schneller gehen, aber der Boden unter ihren Füßen begann zu schwanken und sie wurde hin- und hergeworfen. Zwischendurch wurde das Geschrei kurz von einem Luftschnappen unterbrochen oder es senkte sich wie eine abklingende Sirene, und jedes Mal hoffte sie, dass es ganz aufhören würde und nie mehr wiederkäme. Sie erreichte das Zimmer, und der gerade noch langgezogene Schrei geriet ins Stottern, als sie den warmen Körper in der Wiege ertastete und heraushob, als sich der kleine Kopf, von dem ein süßlicher Geruch ausging, an ihre Armbeuge schmiegte und sie dem Kind die Brust gab. Während es beim Trinken heftig schnaufte und mit einer Hand über ihren Hals strich, sah sie aus dem Fenster, Nebelschwaden zogen um die einzige Laterne in der Straße, die inzwischen wieder dicht bebaut worden war.

Sie saß auf der Rückbank des Taxis und blickte hinaus, wo sich die Gebäude durch ihr Blickfeld schoben, dann fiel ihr ein, dass ihr Enkelsohn am Telefon ausdrücklich darauf bestanden hatte, nicht am Bahnhof abgeholt zu werden. In der Bahnhofshalle suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Zettel, auf dem sie sich das Gleis und die Ankunftszeit notiert hatte, und dann verglich sie die Daten mit denen des Plans hinter einer zerkratzten Glasscheibe, an der die Überreste einiger Aufkleber hafteten. Es roch nach Putzmittel, in einiger Entfernung sah sie ein kleines Reinigungsfahrzeug und vor ihren Füßen das eigene Spiegelbild schemenhaft in den feuchten Bodenfliesen. Die Halle mündete in einen Gang, durch den sich die Menschen zwängten, die Abfahrenden arbeiteten sich gegen die Ströme der Ankommenden die Treppen hinauf, die zu beiden Seiten an die Gleise führten. Ein schreiendes Kind klammerte sich an eine Haltestange, direkt neben ihr brüllte jemand in ein Handy, und die Worte waren ihr ebenso unverständlich wie die Lautsprecherdurchsagen, die gleichzeitig von verschiedenen Gleisen kommend durch die gekachelten Wände des Ganges hallten, durch den sie eher geschoben wurde, als dass sie ging, und gerne wäre sie für einen Moment stehen geblieben, um sich zu orientieren, aber allein der Versuch schien ihr aussichtslos zu sein. Als sie auf dem Gleis stand, war sie sich nicht sicher, ob sie den Weg letztlich eigenständig gefunden hatte oder ob sie nur zufällig von der Menschenkolonne am richtigen Treppenaufgang ausgestoßen worden war. Jedenfalls musste sie doch viel länger für den Weg gebraucht haben, als sie angenommen hatte, denn der Zug fuhr bereits ein und andere Wartende erhoben sich von den Bänken oder von ihren Koffern, mit kreischenden Bremsen kam der Zug zum Stillstand. Die Türen öffneten sich und die Aussteigenden blickten stur in Richtung der Treppe, vor der sie stand, niemand ließ seinen Blick schweifen hoch zu der wellenförmigen Überdachung oder über die Gleise hinweg, und weil sie fürchtete, dass auch sie selbst von der heraneilenden Menge übersehen werden könnte, ging sie etwas zur Seite und versuchte ihren Enkelsohn auszumachen, aber selbst als sich der Bahnsteig beinahe wieder geleert hatte, fand sie ihn noch nicht, bis sie einen Mann sah, der einen Kinderwagen aus einem der Waggons hob, und dann einen zweiten, der den Wagen an der anderen Seite hielt, und war er das? – ja, das war ihr Enkelsohn, und er winkte ihr zu und sie ging zu ihm hin, ach Oma, du solltest uns doch nicht abholen, sagte er, und sie wollte gerade antworten, als sie in den Kinderwagen blickte, der Boden unter ihren Füßen kippte weg und sie klammerte sich an den Griff des Wagens, während sie ihren Enkelsohn etwas sagen hörte, aber seine Stimme war nur ein unverständliches Dröhnen, und die Schritte der Vorbeigehenden waren ein dumpfes Trommeln, das in ihrer Brust vibrierte, und sie sah nach oben, wo sie einen Fixpunkt zu finden versuchte, aber die Lichtstrahler begannen sich immer schneller zu drehen und flatterten als leuchtende Schleier vor ihren Augen und sie spürte ihre Kräfte schwinden, sie würde gleich loslassen müssen und in die Tiefe stürzen, dann griff ihr jemand unter den Arm, die Stimme ihres Enkelsohns war jetzt ein fernes Rufen, das immer näher kam, bis sie seine Worte verstehen konnte, Oma, sagte er, Oma, sieh doch mal her, und da stieg seine Freundin aus dem Waggon mit dem Säugling auf ihren Armen, den sie fest an ihre Brust gedrückt hielt.

 

Anjo Schwarz  21.02.2008   

Anjo Schwarz
Prosa
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