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Der 15. Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt 2007

Viele Themen, eine Meinung

Ein Bericht von Anjo Schwarz
15. Open Mike
Auch als Zuschauer hat man es nicht leicht, in Deutschlands bekanntesten Nachwuchs-Literatur-Wettbewerb vorzudringen. Hat man sich erst durch das Gedränge im Foyer gezwängt, braucht es einiges Glück, um einen freien Stuhl zu ergattern. Viel mehr als nur Glück brauchten die Finalisten des 15. Open Mike: über 660 Einsendungen verzeichnete die Literaturwerkstatt Berlin, nur 21 blieben nach dem Auswahlverfahren durch sechs Lektoren übrig. Doch die größte Hürde steht den Jungautoren noch bevor: Auf der Bühne der WABE im Prenzlauer Berg müssen sie die Jurymitglieder Georg Klein, Antje Rávic Strubel und Raphael Urweider von ihren literarischen Arbeiten überzeugen.

Es geht für die Finalisten um Preisgelder, die neuerdings unter zwei Prosa- und einem Lyrik-Preis aufgeteilt werden, es geht darum, beim Publikum gut anzukommen, aber machen wir uns nichts vor: Noch viel wichtiger muss es den Teilnehmern der Endrunde sein, ihre Texte vor den staubigen Stapeln unverlangt eingesandter Manuskripte zu bewahren. Eine bessere Gelegenheit als diesen Wettbewerb gibt es kaum, um bei Fischer, Luchterhand und Co Begehrlichkeiten zu wecken. Kurzum: Hier können Jungschriftsteller der Verwirklichung ihres größten Traums – der Veröffentlichung in einem renommierten Verlag – sehr nahe kommen. Sicher: Ein Preis beim Open Mike garantiert keine große Karriere, wie etwa die einer Julia Franck, Open-Mike-Preisträgerin 1995, die in diesem Jahr mit ihrem Roman Die Mittagsfrau den Deutschen Buchpreis gewann. Dennoch sollen hier jungen Autoren die Türen zu den Verlagshäusern geöffnet werden – darin bestehe auch laut Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, der Sinn und Zweck dieser Veranstaltung, nicht mehr und nicht weniger.

Diesen Anspruch erfüllt dieser Literaturwettbewerb und stellt daher für junge Literaten eine große Chance dar. Doch der Open Mike ist mehr, er bietet einen Einblick in die literarischen Arbeiten junger Autoren und zeigt auf, welche Themen sie beschäftigen und mit welchen Mitteln diese bearbeitet werden. Gab es an der Form eher wenig zu mäkeln, haben sich einige Feuilletons in den letzten Jahren auf eine angebliche Inhaltsarmut der Open-Mike-Texte eingeschossen. Die junge Autoren hätten offenbar nichts zu erzählen, und ein Schuldiger wurde auch schnell gefunden: Die Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim, wo Texthandwerker ohne Blick für große Themen ausgebildet würden. In diesem Jahr könnten derartige Behauptungen nur als vollends absurd bezeichnet werden. Erstens sind oder waren nur sechs der 21 Finalisten Studenten einer Schreibschule, und zweitens zeigte dieser 15. Open Mike, dass von Themenarmut keine Rede sein kann.

Die Ich-Erzählerin in Carolin Reeß' Textauszug Dünne Haut erlebt, wie ihr unheilbar kranker Freund und dessen Familie mit dem bald bevorstehenden Tod umgehen und mit der Weigerung des jungen Kranken, sich Therapien zu unterziehen, die sein Leben nur kurz verlängern würden. Äußerst plastisch wird die Figurenpsychologie der einzelnen Familienmitglieder in diesem Text gezeichnet, auch wenn die Emotionalität des ohnehin ergreifenden Themas stellenweise zu sehr an der Textoberfläche sichtbar gemacht wird. In An einem Ferientag erzählt Djawad Hossaini aus der glaubhaft gestalteten Perspektive eines Schuljungen im Iran. Zur Normalität der kindlichen Erfahrungswelt gehören neben Mutproben und dem ersten Buhlen um Mädchen die Schrecken eines sich im Krieg befindenden Landes – die Handlung spielt kurz vor Ende des Iran-Irak-Kriegs.

Ein weiteres Beispiel für die Vielfalt der behandelten Stoffe ist Simon Urbans Wettbewerbsbeitrag Immerhin habe ihr Onkel durch seine Flucht in DDR jetzt ein eigenes Denkmal, sagte Jana Schramm. Die Erzählung setzt sich anhand der Geschichte eines Kieler Fabrikanten, der später nach Ostdeutschland „flüchtet“, in satirischem Tonfall mit den Absurditäten der DDR-Diktatur auseinander. Anzeichen dafür, ob diese Art von politischem Humor bei der Jury Gefallen fand und wie all die anderen Beiträge ankamen, gab es nicht. Mit unverändert ernster Miene fixierten die Jurymitglieder entweder den Text oder den Vortragenden, nur selten gab es ein kurzes Tuscheln, hin und wieder konnte man in den Jurorengesichtern den Ansatz eines Lächeln ausmachen. Das Publikum war nicht nur zahlreich vertreten, sondern hörte bei allen Lesungen sehr aufmerksam zu und belohnte zunächst alle Teilnehmer mit gleich bemessenem Applaus. So hatten wohl auch die Zuhörer – es waren gut zwei Drittel der Lesungen vorüber – noch keinen Favoriten gefunden.

Dann las Johann Trupp. Lektor Dieter Stolz stellte ihn vor: Lagerist im Großhandel, der bisher noch nicht mit dem Literaturbetrieb in Berührung gekommen sei, und dessen Text Parallelgestalten zu der Art von Literatur gehöre, die einfach geschrieben werden muss. Die Eindringlichkeit, mit der Johann Trupp vorlas, löste dieses Versprechen ein. Diesem Text kann man keine knappe Inhaltsangabe überstülpen, er handelt von verschiedenen Lebensabschnitten, von Kindheit, Vaterschaft und dem Sterben. Der Erzähler scheint überwältigt von allen großen und kleinen Ereignissen, die ihm widerfahren und die er wahrnimmt, die Trennlinie zwischen Banalität und Bedeutungsschwere wird einfach weggewischt und ein Kosmos entsteht, in dem das Individuum verloren ist und zugleich alles um sich herum staunend betrachtet. Ein erster eindeutiger Applausrekord dieses Open Mike bewies, dass das Publikum nicht nur beeindruckt, sondern auch ergriffen war.

Die Mehrzahl der Lyrikbeiträge konnte nichts dergleichen bei Zuhörern bewirken, zumindest wenn man nach den regen Diskussionen in den Pausen geht. In der Mehrzahl wurden die Gedichtlesungen als Beiwerk betrachtet, was einerseits als weiteres alarmierendes Signal für die schwere Stellung dieser Literaturgattung gesehen werden, aber auch gegen die Qualität der eingereichten Texte sprechen könnte. Da nützte es auch nichts, dass sich Christian Döring mehrmals für die Lyrik einsetzte, Prosa als blind bezeichnete und einen Deutschen Lyrikpreis analog zum Deutschen Buchpreis forderte. Die erste gesonderte Auszeichnung für Lyrik in der Geschichte des Open Mike bekam Judith Zander und erhielt den verdienten Applaus eines Publikums in Hochlaune. Kurz zuvor war regelrechter Jubel ausgebrochen, als Johann Trupp den taz-Publikumspreis gewann, der ebenfalls zum ersten Mal vergeben wurde und eine Veröffentlichung des Gewinnertextes in der taz beinhaltet.

Eine der beiden Auszeichnungen für Prosa erhielt Tina Gintrowski. In ihrem Text Planet Pony erzählt in schnoddrigem Ton ein Ich, Pony genannt, dass sich – scheinbar fern jedes nüchternen Realismus – in einer fantastischen Wildwest-Welt bewegt. Im weiteren Verlauf wird durch geschickt eingesetzte Realitätseinbrüche einer Psychiatriewelt klar, dass paradoxerweise nicht klar ist, was nun Realität ist und was nicht. Man könnte meinen, ein derartiger Text müsse den Leser unbefriedigenderweise konfus zurücklassen. Tina Gintrowski beweist das Gegenteil und zeigt auf, dass jeder Realitätsverlust gleichzeitig ein Realitätsgewinn sein kann.

Bei der Verleihung des zweiten Prosa-Preises zeigte sich, dass die Geschmäcker der drei Jurymitglieder und die der fünf für den Publikumspreis zuständigen Juroren sich durchaus ähneln müssen. Johann Trupp wurde ein zweites Mal an diesem Nachmittag ausgezeichnet. Es wird wohl kaum jemand zuvor auf seiner ersten Lesung, bei seinem ersten Kontakt mit dem Literaturbetrieb derart geherzt und umjubelt worden sein. Es war vielleicht schon zu viel der Harmonie und der Zufriedenheit über den Ausgang des Wettbewerbs, aber angesichts eines 15. Open Mike mit in der Mehrzahl so unterschiedlichen wie hochwertigen Textbeiträgen muss eine solche Stimmung auch mal erlaubt sein.

Anjo Schwarz, geboren 1979 in Darmstadt, studiert seit 2006 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Anjo Schwarz   05.11.2007

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Prosa
Open Mike