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An der Brücke

Wir beobachten das Mädchen, das unter der Brücke haust. Sie ist nicht die Einzige, die dort lebt. Ein seltsames, bewohntes Konglomerat von Kisten und Pappkartons, in dem sich der Wind fängt wie in einem Labyrinth, ist zusammengetragen worden.
     Vielleicht hat der warme, nächtliche Sommerwind das Mädchen zum Fluß gelockt. Sie hockt nahe am Wasser in einem schulterfreien Shirt, rötliche Pusteln überziehen ihren mageren Rücken. Von den festgefügten Quadern der Uferböschung aus schnipst sie flache Steine in den Fluß. Zwei- dreimal schnellt sich der Kiesel über die schwarze glitzernde Flut.
     Dann ist er weg. Eilig und streng rauscht der Fluß vorüber, und ein riesiger Mond steigt über den Bäumen der gegenüberliegenden Flußseite auf.
     Da hebt das Mädchen die Arme und schreit Gruhh. Wir wagen nicht, ihr zu antworten, obwohl wir überall in ihrer Nähe in den Bäumen hocken. Unsere Lampions blinken. Wir summen nur und sehen zu, wie das Mädchen, bis zu den Hüften im Wasser, endlich von der Strömung mitgerissen wird, einer ungeduldigen Strömung, die den bleichen Körper in großer Geschwindigkeit fortträgt.

Christine Hoba      15.02.2006

Christine Hoba
Lyrik
Prosa