Die Spaltung
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Ernst-Jürgen Dreyer
Die Spaltung
Roman
11. Kapitel
© Stroemfeld Verlag 2001
(Typoskript Hövelborn 1979)
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Da du grad von diesem Typ Frauen sprichst: diese Frauen üben auf dich und mich, die wir aus der gleichen Klasse kommen, starke Anziehung aus. So will ich dir ein Erlebnis erzählen, das, wenn du so willst, ein ganzer Roman ist. Es ist dabei auch so eine Frau im Spiel. Aber vielleicht sollte ich, bevor ich damit beginne, analysieren, inwiefern gerade wir diesem Zauber so ausgeliefert sind. Wir sind auch der Arbeiterklasse gegenüber sehr kritisch. Klassenbewußtsein wird ja heute mit Lokalpatriotismus verwechselt. Ja der plötzliche Emanzipationsprozeß unserer Klasse setzt gerade die Eigenschaften frei, die wir schon als Kinder mit Mißtrauen betrachtet haben. Wir fallen diesen Frauen gegenüber auf folgenden Irrtum herein: Wir halten sie für das Bild dessen was unsere Mütter hätten sein sollen, aber nicht werden konnten. Dann verwundert man sich des Todes, mit welcher Grobheit man diese Frauen, die uns – auch deshalb, weil sie, wegen des Altersunterschieds, unser Begehren nicht mehr erreicht – wie Göttinnen scheinen, von ihren eigenen Töchtern behandelt sieht. Also stimmt auch da nicht alles hundertprozentig. Wir vergessen in der Verwirrung das Relative. Wir glauben uns vor ihnen bewähren zu müssen. Das ist auch an deiner Geschichte die eigentliche Pointe. Du gingst also davon mit einem Glücksgefühl, das etwas an sich hatte wie von bestandener Prüfung. Durch deine proletarische Hülle hindurch hat sie dich erkannt, glaubst du. Aber darin irrst du dich sehr. Sie sehen auf dich wie die gnädige Frau auf den Kutscher sieht, und du bist einfach ihrer vollendeten Sitten zu ungewohnt, als daß du durchschauen könntest, daß sie dich keinen Augenblick als gleichberechtigt empfunden haben. Wenn du davongehst wie auf Wolken, dann ahnst du nicht, daß du dich pausenlos und mit jedem Wort vor ihnen blamiert hast. Oder besser gesagt: sie haben dich vor sich selber blamiert auf eine so feine Art, daß du nicht einmal im Traum dahinterkämest. Genug, ich rate dir zur Vorsicht ihnen gegenüber; ihnen dein Herz auszuschütten wäre das falscheste was du tun kannst und wenn du dich auf den Boden geworfen hättest, wie du nachträglich wünschtest, so wäre deine Blamage vollkommen gewesen – so vollkommen, daß vielleicht sogar du – sagen wir, du hörst, wie sie, kaum daß du zur Tür hinaus bist, in Gelächter ausbricht (aber es gehört zu ihrer Art damit zu warten bis du es eben nicht mehr hörst) – sogar du gemerkt hättest, wo der wahre Defekt liegt, denn der liegt in aller Blamage nie beim Blamierten, sondern bei dem, der blamiert.
Aber du wartest auf die Geschichte. Ich saß also einer Frau gegenüber, die ganz der von dir beschriebenen glich. Auch das Zimmer, in dem wir saßen, glich ganz dem, das du beschreibst, nur waren die Vorhänge zugezogen, weil es Abend war; und auf dem Tisch stand kein Kaffee, sondern Alkohol – Weinbrand oder Wodka – von dem wir aus kleinen Gläschen tranken, und geraucht wurde auch. Die Wärme, das Tischchen, das du erwähnst, der Sessel, das alles stimmt überein. Auch hier saß sie auf dem Sofa, und es herrschte die gleiche Opiumzigarettenatmosphäre. Aber du hast den Stolz zu erwähnen vergessen, der einen erfüllt, von einer solchen Frau eines (wie es scheint) gleichberechtigten Gesprächs gewürdigt zu sein, das du für ganz vertraulich, ganz ohne Arg, ohne Falsch und für ohne Spekulation hältst. Vielleicht wird die Geschichte, die folgt und die hier ihren Anfang nimmt, diesen Anschein auch gar nicht widerlegen. Aber leider wird dir desto ersichtlicher werden, daß sich zwei so verschiedene Klassen notwendig nur mißverstehen können, und das bei so absolutem Anschein der Übereinstimmung wie nur möglich.
Das Gespräch drehte sich um die Tochter, Marion, mit der ich befreundet war. Es drehte sich in einer langen, labyrinthischen Spirale irgendwohin, aber wohin, das wußte ich nicht, und ich saß also, benebelt und wie auf Kohlen zugleich, hellwach und lauernd, sagte „ja“, oder irgendwas, um Zeit zu gewinnen, und verfolgte fieberhaft jedes Wort. In Beul ging damals einer um, von dem kein Mensch wußte, was mit ihm los war. Mit den Männern sprach er kein Wort, ließ höchstens mal eine Bemerkung fallen, wenn er hinter seiner Sonnenbrille ungebeten an einem Tisch saß; dann wurde es still; es war irgendeine rätselhafte Bemerkung, halb zynisch, halb Unsinn, aber irgendwie vielleicht auch mit Hintersinn, den aber keiner kapierte. Wir haßten diesen Mann, diesen Rabetke: Rabetke hieß der; wir hatten einmal fest ausgemacht ihn hinter der Schneiderwiese abzupassen und ihm klarzumachen, daß er aus Beul zu verschwinden hat. Es war uns dann aber wohl zu unfair, ihm zu viert oder fünft aufzulauern, oder haben wirs auch gemacht, und er kam nicht, und dann haben wirs nicht wieder versucht, ja so wars. Denn dieser Mensch machte sich an die Mädchen ran und zwar immer auf die gleiche Tour: erst taucht er überall wo sie ging und stand aus dem Nichts auf und steht irgendwo in einem Hauseingang und starrt sie an hinter seiner undurchsichtigen Brille, und irgendwie hatten die Mädchen Angst, aber sie waren auch fasziniert, weil eben keiner diesen Rabetke durchschaute. Zu der Zeit war er nun grade hinter Marion her, aber das hatte ich noch nicht spitzgekriegt, denn ich war, seit ich in Leipzig war, ja kaum mehr in Beul. Dieses dunkle Subjekt, ich kann dir nicht sagen ob es ein Grenzgänger war oder ein Spitzel oder ein verkrachter Philosoph, ein Abenteurer jedenfalls, wanderte jedenfalls auch durch unser undurchsichtiges Gespräch; und ich erinnere mich wie an einen leichten elektrischen Schlag an das Wort „gefährdet“, denn das hatte sie schon mal gesagt und jetzt fiel es zum zweiten Mal: Marion sei gefährdet. Marion sei neunzehn. Ich war, wie gesagt, innerlich überdreht vor Aufmerksamkeit und übrigens auch vor Unbehagen, denn es berührte den Nerv meiner eigenen Unkenntnis, daß mich diese erwachsene Frau so zum Mitwisser dessen machte, was in ihrer Tochter vorging. Denn es hatte doch irgendwas zu bedeuten, daß sie das gerade mir erzählte. Die Sorgen an und für sich, die begriff ich wohl, und ich verehrte die Frau auch wegen der ruhigen und klugen Art, in der sie sich sorgte, und daß eben keine Nervosität dabei war, sondern der Abstand, in dem diese Dinge ganz klar geworden sind, einmal, weil sie sie ja selbst erlebt hat, und zweitens, weil sie ihr nicht mehr über den Kopf wachsen. Aber warum sprach sie darüber mit mir, dem es ja auch nicht besser ging, und dem dieser Abstand ja auch fehlte. Und wenn sie es schon mir erzählen mußte, warum in dieser leisen, kreisenden unklaren Art, in diesem Zimmer hinter den Vorhängen. Verstehst du: ich hätte verstanden, wenn sie sich eben mal mit mir hätte unterhalten wollen, um mal zu sehen mit wem die Marion da so befreundet ist, und wenn sie gesagt hätte: also die Marion ist ein braves Mädchen, ich will hoffen, daß sies Abitur einigermaßen macht, usw. Vielleicht hatten wir auch zu Anfang einfach so bißchen über das und jenes und auch über Marions Leistungen in der Schule geredet, aber das Gespräch war in eine alarmierende Sphäre geraten, und ich wußte nicht, in welche Verpflichtung es wollte Vielleicht war diese Verwirrung auch viel kürzer als jetzt beim Wiedererzählen, und alles hing mit dem zweiten „gefährdet“ zusammen, denn das Gesprächsthema wechselte ja auch und sie sprach von dem Fest in Leipzig, zu dem ich Marion eingeladen hatte. Sie freue sich, daß die Marion doch mal rauskäme aus Beul, und sie gönne es ihr, und sie wüßte sie ja bei mir in den besten Händen, und fing auf einmal an, mich über den grünen Klee zu loben. Meinen Charakter, und daß ich offen wäre und so, ich will das nicht wiederholen weil mir das peinlich ist, aber sie sagte auch an Tatsachen so über mich eine Menge, auch Sachen, die sie nicht von der Marion haben kann, weil die Marion das nämlich selber nicht wußte. Jedenfalls sei sie froh zu wissen, mit wem ihre Tochter nach Leipzig fährt, und froh, daß es kein schmieriger Kerl wie Rabetke ist, dem sie sie anvertraut, und daß sie ganz vertrauensvoll Marion zu mir fahren ließe, das wollte sie mir doch gesagt haben. Und indem sie die Marion ganz in meine Hand übergebe für die Faschingstage, solle ich wissen, daß sie weiß, ich würde das Rechte tun und so.
Damit war unser Gespräch am Ende, wir standen im Flur oder hatte ich sogar schon den Mantel an, jedenfalls drückt sie mir die Hand und sieht mir in die Augen und zwar auf einmal so forschend irgendwie wie wenn sie Angst hat daß ichs vielleicht doch nicht ganz begriffen hab was sie meint. Das war der Augenblick der Ernüchterung der ja auch bei dir nicht fehlte. Und am nächsten Tag fuhr ich weg.
Am Freitag holte ich die Marion vom Zug ab. Also die Marion war in blendender Laune wie ich sie noch gar nicht kannte, und wie ich ihr den Koffer abnehme, fällt sie mir um den Hals und küßt mich. Mensch Marion, sag ich, du kannst doch nicht hier wo die vielen Leute sind. Die Marion lachte nur. Dann sind wir heim zu mir, durch den Park. Auf dem Weg war die Marion auch noch in sehr guter Laune, und wir haben uns in den Schnee geschmissen und so, aber dann fing sie an zu frieren und dann sind wir heim. Ich hatte mein Zimmer gestrichen, und zwar schwarz, eigentlich sah es furchtbar aus, aber der Marion gefiels. Geheizt war auch noch. Also die Marion legt sich aufs Bett. Willst du denn nicht bißchen essen, Marion, wo wir doch nachher den ganzen Abend viel trinken, daß dir da nicht schlecht wird. Nee, sie wollte nichts essen. Und soll ich dir nicht bißchen Tee machen. Daß dir wieder warm wird.
Dann hab ich mich auch aufs Bett gelegt und wir haben bißchen geknutscht und erzählt und da hat die Marion auch noch sehr gute Laune gehabt. Wie ich aufstehe sagt sie: komm, laß doch das Licht. Warum machst du denn das Licht an. Du mußt dich jetzt fertig machen, Marion. Wir wollen doch zum Fasching. Du willst dich doch auch noch umziehn. Ach wolln wir denn da überhaupt hin, sagt sie. Wolln wir nicht viel lieber hier bleiben. Ich sag: Marion, das geht doch nicht. Warum geht das denn nicht. Na ja weil ich es dir doch versprochen habe. Wegen mir doch nicht, sagt sie: das macht doch nichts, daß du mir das versprochen hast. Ja, aber ich hab doch auch denen erzählt, daß du kommst, und deiner Mutter hab ichs auch versprochen. Ach, das ist doch nicht so schlimm, das braucht sie doch nicht zu erfahren. Nee Marion das geht nicht daß wir da nicht hingehn, das mußt du doch einsehn. Na ja, da ist sie dann doch aufgestanden und wollt sich umziehn, und ich hab gesagt, sie soll mich rufen, wenn sie fertig ist. Und dann sind wir wie gesagt in die Schule. Ich will davon nichts weiter sagen, als daß die Marion da auf einmal völlig verändert war. Sie war auf einmal kalt und abweisend zu mir, also das ganze Gegenteil wie sie die ganze Zeit gewesen war, und irgendwie frech und so, und tanzte mit allen, bloß mit mir nicht, und wenn ich mit ihr tanzen will, läßt sie mich einfach stehn. Es war schwierig, sie immer im Blick zu behalten, mal mußte ich ja auch raus und sofort war irgendwas los. Ich hab ihr dann auch mal glaub ich ne furchtbare Szene gemacht und mich mit einem geschlagen auf der Treppe, der sich an der Marion vergreifen wollte, und ich mußte ja auf sie aufpassen, jedenfalls weiß ich noch daß sie auf einmal alle schrien und irgendwas war mit einer zerbrochenen Flasche, entweder ging der mit der Flasche auf mich los oder ich auf ihn – ich weiß nicht, ob die Marion das alles mit Absicht machte, um mich zu ärgern, oder ob sie wirklich so harmlos war, wie sie tat: Was willst du denn, ich werd mich doch amüsieren dürfen, und du spielst hier den Tobsüchtigen. Ich hab mich dann auch bei der Marion entschuldigt, und irgendwie haben wir uns dann auch wieder ausgesöhnt, jedenfalls wie wir heimsind, da war sie dann auch wieder aufgekratzt und getrunken hatte sie auch bißchen viel. Da fing sie wieder an mich in Schnee zu schmeißen, und Zuhause, da hab ich dann die Betten gemacht. So, du schläfst hier in meinem Bett Marion, und ich mach mir hier unten die Decken zurecht, das geht nämlich sehr gut so. Das ging auch sehr gut alles und auch die Marion war ganz zufrieden und fing dann auch noch an mich mit Kissen zu werfen, und ich hab zurückgeworfen und so, bis ich dann meinte, sie sollte jetzt doch noch bißchen schlafen, weil sie dann ja ziemlich früh wieder raus mußte zum Zug. Das waren sowieso nur noch zwei Stunden. Wir sind dann auch eingeschlafen, aber auf einmal wach ich auf (da wurde es schon hell) und denke: Was ist denn das – weint die Marion? Es war, wie wenn sie weint und will es nicht hören lassen. Ich sag: Mensch Marion – fehlt dir was. Keine Antwort. Ich geh hin zu ihr. Mensch Marion was hast du. Sie liegt auf dem Rücken und die Tränen laufen ihr übers Gesicht. Bist du krank, Marion. Tut dir was weh. Nein, nichts. Ja was sollt ich da machen. Ich hab bißchen Frühstück gemacht und hab ihr gesagt, daß sie so langsam aufstehen muß. Na ja, wir haben dann noch gegessen, und dann hab ich die Marion zur Bahn gebracht mit dem Koffer, und ab und zu hat sie wieder angefangen zu weinen, aber was sie hatte, sagte sie mir nicht. Dann fuhr sie weg.
Das nächste halbe Jahr wars wie verhext. Ich hab Marion natürlich gleich geschrieben – aber eine Woche keine Antwort, die nächste Woche auch nicht, da hab ich dann geschrieben daß ich nach Beul komm und sie besuch. Ich klingel, keiner da. Paarmal hab ich auch angerufen, aber ob die Nummer sich geändert hatte oder was weiß ich, ich hab weder die Marion noch ihre Mutter erreicht. Mal dacht ich schon, daß sie da gar nicht mehr wohnen. Aber der Name stand da ja immer noch an der Tür, und ich hab ja auch dies und das gehört von der Marion: daß sie mit dem Rabetke geht und das war nicht der einzige mit dem sie geht. Ich dachte daß ich wenn schon nicht die Marion doch wenigstens ihre Mutter besuchen konnte, aber es hat eben nicht geklappt – als ob es nicht mit rechten Dingen zugeht. Wie wenn ich Luft wäre für sie oder sie lösen sich in Luft auf je näher ich komme; sie sind da, aber nicht für mich, ich kann sie nicht greifen. Inzwischen hab ich mir manchmal gedacht, daß es dafür doch eine Erklärung gibt. Ob sie stimmt, weiß ich nicht.
– Und du hast die Marion nie wiedergesehen?
– Doch.
Das war ein Jahr – mehr wie eineinhalb Jahre später, das muß November 56 gewesen sein, da treff ich sie plötzlich auf der Straße. Das heißt plötzlich hör ich „Tach Walter“ und wie ich hinseh, seh ich, daß es die Marion ist. Ach Marion, du bists. Ich hätte dich bald nicht erkannt. Wohnst du denn jetzt hier. – Ich war mißtrauisch, denn ich wußte ja nun gar nicht mehr wie sie zu mir steht, und das war auch alles lange vorbei, ich hatte dann auch gar nicht mehr an sie gedacht. Du bist ja nicht sehr galant, Walter. Wo gehst du denn hin. Und du. Ich merkte daß sie was mit mir sprechen will und sag, wir könn ja ins Corso gehn, aber sie sagt, ach laß uns doch lieber weiter so bißchen rumlaufen, obwohl es ziemlich regnete, und dann wurde es auch immer später, und da hat sie mir viel erzählt. Ich war immer noch mißtrauisch und dachte, sie erzählt es mir um mich zu quälen, weil sie denkt, daß ich sie immer noch liebe, oder so. Aber sie mußte es wahrscheinlich mal loswerden, und da hat sie angefangen, alles mir zu erzählen. Wie sie zu dem Rabetke gegangen ist und hat da noch geklingelt, und dann war er nicht da, und sie hat sich auf die Treppe gesetzt und auf ihn gewartet, bis er kam. Und noch andre Geschichten, mit einem von der Manufaktur, den ich auch kannte, und noch einem. Und wie sie dann in Leipzig, wo sie überhaupt keinen kannte, auf die Straße gegangen ist. Dann hat sie sich geschämt was sie tut, und gerade weil sie sich geschämt hat hat sies eben immer wieder gemacht. Aber erklären konnte sie mir das auch nicht; wie sollst du das verstehn Walter: hinterher versteh ich es ja selber nicht. Und dann auf einmal sagt sie: Walter, kann ich heute mitkommen zu dir. Ich sagte: Marion – das geht nicht – grad heute geht das nicht. Grad heute, wo ich. Ja was denn Walter. Ach ich kann dir das nicht so sagen, und es ist auch was ganz Blödes. Du brauchst dich doch vor mir nicht zu schämen. Ja weil ich doch heut grad die langen Unterhosen. Ach das macht doch nichts. Da sind wir dann heim zu mir, und haben zusammen geschlafen. Ich hab mich damals noch sehr geschämt wegen meinem Körper, weil sie schon im Bad und so immer gelacht hatten. Aber es war dann, wie es eigentlich sonst selten ist, wie ich es auch noch nie erlebt hatte, und für Marion auch. Marion, sag ich, es war das erstemal daß es schön war und ich mich nicht geekelt habe. Und ich weiß daß es dir auch so geht. Nicht wahr Marion. Und du dich nicht geekelt hast dabei. Ja, das stimmt. Es war aber eben doch zu spät, das hab ich ja nachher gemerkt, und die Marion konnte vielleicht wirklich nicht mehr anders.
– Aber was hat das alles mit dieser Frau zu tun, mit der du mich so gespannt gemacht hast?
– So? ist dir das nicht klargeworden? Nein, wahrscheinlich nicht. Es ist mir ja selber erst lange hinterher klargeworden – das heißt, ich kam hinterher auf folgendes:
Sollte die Frau noch viel klüger gewesen sein, als ich ahnte?
Hatte sie mir nicht gesagt: Ich soll Marion mitnehmen und wissen, sie billigt alles, was wir in Leipzig zusammen treiben, und ich soll mich nicht genieren, es zu tun, sondern wissen, es findet ihre Billigung? So hat sie es natürlich nicht gesagt, weil sie es so deutlich natürlich nicht sagen konnte, und vielleicht hätte ich es auch so gesagt immer noch nicht kapiert, obwohl ich doch, während des Gesprächs mit ihr damals, grade darum manchmal so alarmiert war, weil ich herauszuhören meinte, sie meine das, aber da unmöglich meinen Ohren trauen konnte, und also wie über ein Seil ging, bis das Wort Vertrauen fiel und ehrlicher Charakter. Und dabei ist vielleicht genau das der Schlüssel für das, was sie meinte. Denn es ist mir manchmal wenn ich drüber nachdachte alles ganz lückenlos vorgekommen und der forschende Blick im Korridor dann ganz logisch: sie fragte sich plötzlich: hat ers nicht kapiert? oder hat ers nur allzugut kapiert – denn beides mußte sie ja unbedingt vermeiden. Das war das Gefährliche. Wie dem sei. Du kannst dir wohl denken, daß ich die Frau bloß noch mehr verehre, wenn ich denke, sie hat das alles so genau übersehen mit der Marion und diesem Rabetke und allem was vielleicht auf die Marion zukommt und ja auch wirklich gekommen ist, und mit mir, und daß sie sich gesagt hat: wenn der Feiz anständig ist, so hat er vielleicht doch den Fehler, zu anständig zu sein, und darum muß ich unbedingt noch vorher mit ihm sprechen. Und das war eben, weil ich es war, das Falsche, obwohl es ein anderer eben gar nicht sein konnte. Warum. Das ist eben die Sache mit dem Mißverständnis der Klassen. Einer von ihrer Klasse hätte es natürlich gleich kapiert, was sie ihm sagt – aber dem konnte sie es nicht sagen. Mir konnte sie es sagen, aber ich konnte es nicht begreifen. Wäre sie eine Arbeiterfrau gewesen, dann hätte sie sich natürlich mir verständlicher ausgedrückt, bloß, in diesem Fall hätte sie die Situation mit Marion nicht übersehen. Und wenn sie sie wenigstens geahnt hätte, dann wäre höchstens vom Heiraten die Rede gewesen und sie hätte gesagt: Mach ihr bloß kein Kind, und das hab ich dann eben wieder bei Marions Mutter herausgehört. Aber der Marion ihre Mutter hatte eben nicht vom Heiraten gesprochen, was ich allenfalls noch kapiert hätte, denn daß ich die Marion heirate, das konnte sie ja schon wegen dem Klassenunterschied nicht wollen, aber ich war doch wegen meinem ehrlichen Charakter und so dazu sehr geeignet, der Marion eine etwas bessere erste Erfahrung zu vermitteln als der Rabetke – wo die Marion ja nun sowieso gefährdet war und es einer eben in der allernächsten Zeit tun würde. Und da hat sich Marions Mutter eben gesagt: es ist wichtig, mit wem. Und hier spielt eben wieder das eine Rolle, was ich dir vorhin gesagt habe: du denkst, sie nehmen dich für gleichberechtigt, und noch im Augenblick der Verschwörung bist du für sie der Kutscher, dem sie Befehle gibt, und wenn ich das geahnt hätte, hätte ich den Befehl ja auch herausgehört, nämlich daß ich die Marion in Leipzig entjungfern soll, eh es ein anderer tut, der sie nur verdirbt. Einem Kutscher hätte sie das natürlich auch wieder klarer sagen können als man es sagen kann, wenn die Arbeiterklasse emanzipiert ist, aber einem Kutscher hätte sie es auch wohl überhaupt nicht gesagt, denn die Sache konnte nur funktionieren unter dem Anschein der Gleichberechtigung, aber funktionieren konnte sie, wie gesagt, gerade dabei erst recht nicht. Und alles, was ich mir träumte und was die Marion hoffte und was die Mutter von Marion wünschte und so, das hat sie verhindert, indem sie ein bißchen nachgeholfen hat, und nun konnte das Trauerspiel losgehen und ging eben, wie gesagt, schon los, als ich die Marion vom Zug abholte.
E.-J. Dreyer bei Stroemfeld
Ernst-Jürgen Dreyer