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Friederike von Koenigswald
Erster Mai
Der Sommer ist plötzlich da. Er ist wieder da. Wie er neben mir sitzt, auf der Steinkante über dem Kanal. Die nackten Füße dem Wasser entgegengestreckt, die Hand in die Taille gestützt. Ich weiß, wie er sich anfühlt, da, wo jetzt seine Hand liegt. Später. Wir kommen erst an. Wir sitzen unter den Weiden, still.

Gegenüber auf der Grasböschung wird der Sonnenstreifen schon schmaler, nach und nach packen die Leute Decken und Zeitungen ein, gehen weg von hier. Der Kanal ist breit wie ein Fluss, etwas weiter liegen Ausflugsboote und ein Restaurantschiff fest am Ufer. Die Schwäne paddeln träge hin und her, bleiben als Gruppe zusammen. Manchmal schmiegen zwei ihre Hälse aneinander, und ein Dritter reckt sich, schlägt mit den Flügeln, bis der Zweite davonschwimmt. Wir wundern uns, wie viele Schwäne es sind.

Auf der Brücke stehen Polizeiautos, große Einsatzwagen mit vergitterten Fenstern. Mehr als 6000 Polizisten sind in der Stadt. Es ist der 1. Mai. Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen. Wir küssten uns zur Begrüßung nur flüchtig. Wir wollten gleich raus. Wir sind in Kreuzberg. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die Krawalle losgehen, in der Oranienstraße. Das ist nicht weit von hier.

Mack und seine Jungs vor ihrem Lagerhaus warten, dass es dunkel wird, trinken aus dem Kanister gemixten Alkohol. Einer von ihnen sammelt in der Kneipe gelegentlich die Reste aus stehen gelassenen Gläsern. Die Jungs sind talentiert und intelligent, aber sie arbeiten nicht. Sie sagen, sie wollen in das, was sie tun, ihre gesamte Kraft und Leidenschaft setzen. Aber das können sie nicht, wenn es immer das Gleiche ist. Sie leben in der Straße der Ölsardinen, im Buch von John Steinbeck. Ich las es gestern nacht zu Ende. Ich werde ihm davon erzählen, später, beim Essen vielleicht.

Neben mir lehnt er sich zurück, setzt die Ellenbogen auf. Seine Bewegungen haben immer einen klaren Anfang und ein Ziel, ohne Korrektur. Das T-Shirt ist hochgerutscht, ich sehe seinen glatten Bauch. Seine Haut ist wie meine. Später. Er könnte sich zu mir drehen und mich ansehen. Noch nicht.

Einer Ente fliegt ein Enterich nach. Sie landet auf dem Kanal, er knapp hinter ihr. Sie fliegt wieder los, er auch. Fünfzig Meter weiter stürzt sie ins Wasser, er stürzt sich auf sie. Sie macht sich frei, fliegt, er hinterher. In einem großen Kreis über dem Kanal flattert er an ihr vorbei, bemerkt es nicht. Sie dreht schnell ab, in die andere Richtung.

Am Kottbusser Tor, rechts und links der Straße, Polizisten, grün, in Kampfuniformen, und Touristen, halbnackt der plötzlichen Hitze wegen. In der Mitte die Demonstranten, schwarz, mit Kapuzenjacken und mit roten Transparenten. Ihr Aufruf im Stakkato – „Hoch die internationale Solidarität“ – klang dünn, als ich dort am späten Nachmittag vorbeiging, auf dem Weg zu ihm. Alle sahen abwartend aus.

Ein flacher Ausflugsdampfer zieht gemächlich vorüber. Hinter den Panoramafenstern ist die Bar beleuchtet, der Kellner sitzt allein und raucht. Die Touristen winken vom Deck. Wir winken nicht zurück. Es ist das letzte Boot, das heute den Kanal passiert.

„Wie warm es noch ist“, sage ich. Er nickt.

Der Himmel ist türkisblau wie das Meer. Wir können nicht sehen, wo die Sonne untergeht, sehen nur ihr Rosarot als Muster auf dem Wasser, runde Lichtflecken in kleinen Wellen. „Und wenn man abends schwimmt“, sagt er, „erreicht man diese Stelle nie. Schade eigentlich.“ Er gibt mir noch ein Bier, nimmt es zurück, öffnet die Flasche für mich. Wir prosten uns nicht zu – „To life“, „To love“. Später.

Er ist oft weg, wochenlang unterwegs. Wir sind daran gewöhnt. Wenn er zurückkommt, brauchen wir Zeit, bis wir uns finden. Er braucht länger als ich. Ich bin schneller bei ihm. Wie wir uns erzählen, was war: von den Freunden, seiner Arbeit im Filmteam, meiner am Zeichentisch. Er erzählt ordentlich, einen Tag nach dem anderen. Das amüsiert mich jedes Mal. Später. Er streicht sich die Haare aus der Stirn. Unsere Haare haben eine ähnliche Farbe. Manchmal lösen wir uns ineinander auf.

Alles wird blau, das Wasser, die Bäume, der Himmel.

Ein Martinshorn heult auf, nicht weit entfernt. Wir sehen zur Brücke. Die Polizisten schlendern an ihren Einsatzwagen entlang, einer verteilt Erfrischungsgetränke.

Am Kottbusser Damm zugenagelte Schaufenster mit passgenauen Sperrholzmodulen. Ich sah sie auf dem Weg zu ihm. An manchen Holzverkleidungen klebten fünf Jahre alte Plakate. Er hat weit entfernt geparkt. Letztes Jahr sprangen sie auf die Autos, auch in seiner Straße, traten Windschutzscheiben ein. Nicht die Punks, sondern kleine Jungs.

„Hat es jemals Tote gegeben in all den Jahren Krawalltradition?“, frage ich. „Nein, ich glaube nicht“, sagt er. Wir waren auch machmal da, früher. Man geht eben hin, wenn man hier wohnt. Aber nach Einbruch der Dunkelheit verlässt man die Oranienstraße, überlässt sie den Autonomen und Polizisten, sieht sich die Schlacht im Fernsehen an.

Gegenüber verschmelzen die Bäume mit ihren Schatten, verändern die Form. Die Schwäne ziehen vorbei, schlürfen die Wasseroberfläche ab. „Ich wusste nicht, dass sie so schmatzen“, sage ich. Er lacht. Das Restaurantschiff am Ufer gegenüber leuchtet jetzt. Auf dem Wasser spiegeln sich die bunten Lichterketten als lange Streifen.

Wir beide auf einem anderen Schiff, saßen an der Reling und warteten auf das Essen. Wir waren so hungrig, dass wir anfangs nur vom Hunger sprachen. Aber das Essen kam nicht, und wir erzählten uns von unserem Anfang, erzählten, was wir damals voneinander dachten. Wir machten freche Komplimente, wurden gierig aufeinander. Wir legten für das Bier ein paar Münzen auf den Tisch und liefen über den Steg an Land, zu ihm, kichernd auf dem Weg. Ob er sich daran erinnert, frage ich mich.

Auf der Brücke setzen sich die Polizeiautos in Bewegung, Kolonne mit Blaulicht. „Es geht los“, sage ich. Er nickt. „Ich dachte gerade an unseren Abend auf dem Boot.“ Ich könnte die Hand nach ihm ausstrecken. Jetzt vielleicht. Er dreht sich zu mir, sieht mich kurz an, mit diesem Grinsen. Sein Grinsen. Später. Wir sehen wieder zu dem beleuchteten Schiff, das viel größer und bunter ist als das andere damals.

Hinter uns ruft eine Frau ihre Kinder. Die Kinder protestieren, wollen nicht nach Hause. Wir hören die Sätze, verstehen nur einzelne Vokabeln. „Spanisch“, sagt er. „Oder Portugiesisch“, sage ich.

Gegenüber auf der Grasböschung versammelt sich eine kleine Gruppe. Einer spielt Gitarre, manche singen. Männerstimmen, süßlich hoch. „Ist das Türkisch?“, fragt er. „Vielleicht Arabisch“, sage ich. „Wir leben hier“, sagt er. „Wir kennen uns nicht aus“, sage ich.

Die Polizeikolonne kommt zurück, postiert sich wieder auf der Brücke. Die Polizisten steigen aus, lehnen sich ans Geländer, sehen ins Wasser, wie wir. „Die Revolution ist ausgefallen“, sagt er. „Die Punks sind alt und faul geworden“, sage ich. „Es wurde auch Zeit“, sagt er.

Der Himmel ist immer noch blau, wie Tinte, das Wasser längst schwarz, die Schwäne jetzt grau. Sie biegen ihre Hälse nach hinten, stecken den Schnabel unter die Federn. „Treiben sie nicht mit der Strömung ab, wenn sie schlafen?“, frage ich.

„Vielleicht halten sie ein Auge offen.“

Er ist nur noch eine dunkle Silhouette neben mir. Ich schiebe meine Hand dicht hinter ihn, berühre ihn nicht. Noch nicht. Er dreht sich zu mir. „Ich sehe dich fast nicht mehr“, sagt er. Er legt den Arm um mich, vergräbt die Hand in meinem Haar. Ich lehne mich an ihn, spüre, wie warm er ist. „Weißt du noch, wie wir eine Abkürzung nehmen wollten und uns im Wald verirrt haben?“, fragt er. „Stockfinster“, sage ich.

„Du hast aus Angst ganz laut geredet.“

„Und du hast dich an mich geklammert, wie Hänsel an Gretel.“ Wir lachen. Er zieht mich enger an sich, streicht mir wärmend über die nackten Arme. „Ich bin wieder da“, sagt er, „lass uns nach Hause gehen.“

Friederike von Koenigswald    23.11.2006

Friederike von Koenigswald
Prosa