Friederike von Koenigswald
Wiedersehen
Vier Hände auf dem Tisch. Der Mann trifft die Frau. Die Frau trifft den Mann.
Alles fing an, hörte auf im Morgengrauen vor zwei Jahren, im Nebel. Die Frau stand neben den Gleisen und schrie. Der Mann, ein Fremder, war plötzlich bei ihr. Er legte seine Hand über ihre Augen, hielt sie im Arm. Synchron zu ihrem Schrei seine Worte: „Es wird alles wieder gut.“ Wie lange die Frau und der Mann so standen, wissen sie nicht.
Später kamen Notärzte und Sanitäter. „Sie hat einen Schock, aber verletzt ist sie nicht“, sagte der Mann. Er begleitete die Frau bis zum Krankenwagen. Dann ging er weg.
Jetzt sitzen sie da. Der Mann und die Frau. Am kleinen Tisch in einer Bar. „Seit Jahren wissen wir voneinander und kennen uns gar nicht. Absurd“, sagt sie.
„Ich habe nachgerechnet. Es zwei Jahre, drei Monate und zwölf Tage“, sagt er, „und nun stellt sich heraus, daß wir in der selben Stadt leben. Das kann doch kein Zufall sein!“
Sie lächelt, „Prost. Aufs Leben!“
„Auf dich! Ich sage einfach ‚du'.“
Sie sehen sich an, weichen sich aus. Er schiebt Gläser und Oliven auf den Karos der Tischdecke zurecht, Salz und Pfeffer. Er zündet die Kerze an. „Ich hätte dir für diesen Anfang Blumen schicken können. Blumen mit einer kleinen Karte darin. Aber ich wollte nicht warten. Es gefällt mir viel besser, daß ich dich nach so langer Zeit anrufe und wir treffen uns eine Stunde später.“
Blumen, denkt sie, ein Hügel aus Blumen mit schwarzen Bändern dran.
Der Mann mustert die Frau. Ihr Gesicht ist weich und hell, die leicht zerzausten Haare hinters Ohr geklemmt. „An deine Bernsteinkette erinnere ich mich. Trägst du sie immer?“ fragt er.
Sie faßt an ihren Hals, hält sich an den kleinen Perlen, immer noch, denkt sie. Ein Seufzer statt ihrer Antwort.
„Bist du verheiratet?“ fragt sie und trinkt einen Schluck Rotwein. „Entschuldige, es geht mich nichts an.“
„Doch, doch, frag nur“, sagt er. „Aber heiraten hat sich für mich noch nicht ergeben.“
Ergeben? Das Leben sich nicht ergeben? denkt sie. Einmal zwei Züge, Nachtzüge, rasen aus entgegen gesetzten Richtungen auf einer Linie, mit gleicher Geschwindigkeit, Schlangen, gefüllt mit Schlafenden schnellen durch den Nebel aufeinander zu, krachen ineinander, verkeilen sich, stürzen.
Der Mann schiebt Salz und Pfeffer nebeneinander, drei Karos weiter nach vorn. Seine Hände sind schmal und sehnig, die breiten Fingernägel sehr kurz geschnitten.
Sie sagt: „Erzähl mir was von dir.“
Er überlegt kurz und grinst dann. „Als ich zum Beispiel an meinem 10. Geburtstag ein neues Fahrrad bekam und Klassenbester wurde, habe ich heimlich einen eine halbe Flasche Schnaps getrunken. Ich fühlte mich großartig, aber keiner hat es bemerkt.“
Sie lacht kurz auf, „Und heute? Bist du zufrieden?“
„Ja, es geht mir gut. Es ging mir immer gut.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust, das Hemd hat Bügelfalten wie Berggrate an seinen Oberarmen. „Und du? Wie lebst du?“
„Unregelmäßig. Manchmal lebe ich viel, sehr viel, und manchmal etwas weniger.“
„Das klingt, als würde es nicht langweilig mir dir.“
Die Frau hätte nie nach dem Mann gesucht. Sie hätte nicht gewußt, wann damit anfangen und warum. Sie hätte ihn vielleicht zufällig gefunden. „Warum hast du mich denn gesucht?“
Mit dem Zeigefinger schiebt er den Pfeffer in die Mitte vom Tisch, sieht sie dann direkt an. „Ich habe oft an dich gedacht. An diese Frau in meinem Arm, die so schreit, daß es einem das Herz zerreißt. Ich habe mich oft gefragt, wer du bist.“ Er stellt das Salz neben den Pfeffer, näher als es die Karos der Tischdecke erlauben, „Ich hoffe, du hast dich von dem Schock schnell erholt. Sie haben dir sicher etwas zur Beruhigung gegeben.“
Als man sie aus dem Krankenhaus entließ, war sie noch einmal dort. Sie stand wieder neben den Gleisen, stumm. In der Wintersonne leuchtete der Schnee, darin die Waggons wie Särge, mühsam aufgerichtet, zur Seite geräumt, damit es weiter geht, wo alles ein Ende hatte. Sie bückte sich und nahm den Schnee, der nicht schmolz in ihrer kalten Hand.
Jetzt hält die Frau die Hand über die Kerze, das Blut schimmert durch die Haut. Sie sieht zu dem Mann ihr gegenüber auf, „Hast du an die anderen gedacht, an die anderen in den Zügen?“
„Wir haben wohl alle einen ziemlichen Schreck bekommen, dieses Chaos, dieser eiskalte Nebel und keiner wußte, was man in so einer Situation tut.“ Er lächelt sie an, als sei es dennoch eine schöne Erinnerung.
Sie wendet den Blick ab, „Und was hast du danach gemacht?“
„Wir mußten sehr lange auf Busse warten, die uns von dort weg brachten. Als ich endlich in Katowice ankam, empfingen mich meine Kollegen rührend besorgt. Und dann erledigte ich meinen Auftrag, was sonst? Ich bin Bergbauingenieur und betreue viele Projekte in Ost-Europa. Die Polen arbeiten hart, um die neuen Sicherheitsstandards zu erreichen.“
Standards. Für ihn war das Unglück nur Zeitverzögerung einer Reise, nichts weiter, was sonst?
Der Mann sieht ihrem Schweigen zu, Schatten auf ihren Augenlidern. „Die meisten haben überlebt. Sie konnten fast alle retten.“
„Nein, alle sind tot. Alle“, sagt sie.
„Das stimmt nicht. Und du weißt, daß es nicht stimmt. Von 1358 Personen in beiden Zügen sind nur 7 tödlich verunglückt. Und bei der Geschwindigkeit ist das fast ein Wunder.“
„Ja, ja, schon gut!“
Ihre heftige Stimme erschreckt ihn. Er sagt sanft: „Du solltest vergessen.“
Sie hat vergessen, alles was davor war vergessen, Karol vergessen. Sie erinnert sich nur an den Schmerz, sonst nichts. Karols Abwesenheit ist, als wäre er nie da gewesen. Sie schämte sich dafür, fühlte sich schuldig, später, langsam, fand sie ein anderes Leben, ohne ihn, erfand ein neues Leben, dieses hier.
Der Mann streckt ihr die Hände entgegen, aber sie ignoriert die Geste. Er faßt statt dessen verlegen nach Salz und Pfeffer, stellt sie zurück an die Tischkante und erzählt: „Das einzig Bedauerliche an der Geschichte ist, daß ich dort meine Uhr verloren habe. Es war die Uhr meines Vaters. Er war ein bißchen verrückt. Er glaubte, er habe einen Doppelgänger. Ich kaufte mir eine neue Uhr, eine ähnliche, aber ich kann mich nicht an sie gewöhnen.“
Das einzig Bedauerliche? Am Krankenwagen hob der Sanitäter eine Uhr vom Boden auf und gab sie ihr. Sie steckte sie achtlos in die Tasche, behielt sie später als einziges Andenken an etwas Undenkbares. „Ich habe deine Uhr“, sagt sie. „Sie hat ein braunes Lederband und römische Zahlen. Ich werde sie dir wiedergeben, diese verrückte Uhr.“
Er sieht sie staunend an, „Ich habe eigentlich nie an Schicksal geglaubt, aber unsere Geschichte beweist doch etwas.“ Er hebt sein Glas, prostet ihr zu, „Was hattest du eigentlich damals in Polen zu tun?“
Er weiß nichts, denkt sie, er kann es nicht wissen. Sie reiste nicht allein. Karol zeigte ihr seine Heimat, die Orte seiner Kindheit. Karol kaufte ihr die Kette, jeder einzelne Tag mit ihr sei wie Honig, wie Bernsteinperlen. Und dann... Sie zerquetscht eine Olive. Es ist zu spät. Sie will den Satz nicht mehr sagen, der beginnt mit „Er ist bei einem Zugunglück...“
„Wir können vielleicht eine kleine Reise zusammen machen, um uns besser kennen zu lernen“, sagt der Mann.
„Niemand kennt mich besser als du“, sagt Karol und hält sie fest im Arm. „Und niemand läßt mich mehr ich sein als du.“ Er lacht. „Dabei bist du der einzige Mensch, für den ich mich völlig verwandeln würde.“ Sie schmiegt ihr Gesicht an seinen Hals, riecht ihn, beißt ihn leicht. „Du übertreibst.“ Er hebt sie hoch, trägt sie auf den Balkon. Sie sehen zusammen hinunter in die Straßen von Krakau. Er seufzt ironisch, „Wenn ich doch nur ein Hund wäre, dann könnte ich den ganzen Tag schamlos hinter dir herlaufen und mit dem Schwanz wedeln.“ Sie schließt die Augen. Sie lächelt. Sie kann ihn erinnern, ohne Schmerz, nur ihn. Sie hat Karol geliebt.
Jetzt lächelt auch der Mann. „Ja? Das wird wunderbar, wir haben uns so viel zu erzählen.“
Verwirrt sieht sie auf.
„Willst du wissen, wie ich dich gefunden habe?“ fragt der Mann.
Nein, denkt sie.
„Wenn man das so sagen kann...“, er räuspert sich, „es hat sich angefühlt, als sei dein Schrei in meine Haut geritzt. Ich bin ihn nicht mehr losgeworden. Vor zwei Wochen war ich wieder in Polen. Diesmal konnte ich es nicht lassen und fuhr zum Krankenhaus, in das sie dich damals gebracht haben. Ich wußte ja nur deinen Vornamen, aber mit dem Datum fanden sie dich im Register. Sie gaben mir den Brief. Sie hatten ihn in deiner Akte aufbewahrt. Deine krakelige Schrift! Erst war ich ein bißchen erschrocken, dein Brief klang, als glaubtest du, ich sei tot. Aber dann... Du hattest uns wohl sofort begriffen, uns erkannt, und Angst, daß wir uns nicht wiedersehen. Wenn ich gewußt hätte, wie sehr du mich brauchst, wäre ich nicht einfach weggegangen. Du hast ja fast nichts gesagt damals und ich habe erst viel später verstanden. Ich habe den Brief hundertmal gelesen. Ich fing an ...“
Der Brief! denkt sie, dieses kleine, blaue Papier, Zeile und Zeile zärtlich geschrieben, als könnten die Buchstaben noch einmal über Karols Haut streichen. Sie wollte ihr gemeinsames Leben dort lassen, bei ihm in seinem Land. Sie legte den Brief aufs Bett als sie ging. Daß die Schwestern den Brief so lange behielten, sie mußten doch wissen, daß er nie, nie wieder kommen würde.
„... hat viel verändert“, sagt der Mann. „Plötzlich ergibt alles einen Sinn! Und wenn du willst, werden wir zusammen sein.“ Er greift nach ihren Händen, beugt sich zu ihr über den Tisch. Sie duckt sich. „Zwei Züge“, beginnt sie langsam, „zwei Züge rasen ineinander. Alle sind tot. Wir sind die einzigen Überlebenden. Ein Mann und eine Frau. Aber nichts, nichts weiter verbindet uns.“
„Und der Brief?“
„.. war nicht für dich.“
Die Frau und der Mann, stumm in einer dämmrigen Bar, halten die Luft an, sie seine, er ihre. Das ist alles, was sie füreinander tun können.
Friederike von Koenigswald 06.12.2006
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Prosa
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