Gerald Stern
Rukeyser
Ein Besuch bei Muriel in ihrer New Yorker Wohnung,
ich brachte sie in ihre Küche, kochte ihr Tee,
wollte ihr Erklärungen ersparen, aber dann
kannte sie ihre Worte auswendig und hörte gar nicht zu,
wobei sich ein Riss durch den zweiten Satz zog.
Wir hatten eine Stunde für uns, bis ihre Pflegerin zurückkam
und sie schalt, weil sie aufgestanden war
und nur ein locker gewebtes Tuch um
ihre Schultern trug, einen dünnen Fetzen aus
echter oder falscher Seide; und als die Sprache
auf Mord und Lügen kam, huschte Resignation
über ihr Gesicht, wie damals, als sie im
schlauchähnlichen Theater an der Walnut Street
in Philadelphia ihre Gedichte fallen ließ,
und ich trank meinen Tee nicht aus und konnte fliehen,
ehe die Pflegerin auf mich zu sprechen kam, und nur
fürs Protokoll: ich ging auf der Lexington Richtung Westen,
glaube ich, die Sonne im Gesicht, denn es war bereits März.
Aus: Gerald Stern: Alles brennt. Matthes & Seitz 2010
Gerald Stern 11.03.2010
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Lyrik
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