Janna Steenfatt
Blaue Stunde
Drei Frauen auf einem Felsvorsprung am Meer, dahinter ein Licht, ein kleines Feuer, von dem dünner Rauch aufsteigt, der Himmel weit und blaugrau verhangen. Lena steht vor dem Bild, nicht direkt davor, sie wahrt einen Abstand von mehreren Metern, sie steht in der Mitte des Raumes, Christus im Olymp hinter sich, oder das, was davon übrig ist. Lena steht regungslos da, versunken, wie jeden Sonntag, seit vier Wochen erst. Eigentlich hasst Lena den Sonntag, es ist kein guter Tag, um ins Museum zu gehen, sonntags gehen alle ins Museum, die jungen Paare, die ihre Kinder in Tüchern vor dem Bauch tragen, kunstverständnisvoll vor den Bildern stehen bleiben und die Sicht versperren, abwesend nach der Hand des Anderen greifen und sich nach jedem dritten Bild küssen. Die Reisebusrentner, die aus den umliegenden Orten kommen, nur für ein paar Stunden, wie Getier durch die Glastüren geschwemmt werden und verwirrt durch die Räume hasten, auf der Suche nach der Cafeteria. Lena hasst diese Sonntage, aber sonntags ist der Eintritt frei.
In der Halle lehnen gelangweilte Kinder an den Waschbetonwänden, ein Mann fotografiert eine Frau vor der überdimensionalen Leuchtreklamenglühbirne, der Regen zieht diagonale Fäden über die große Glasscheibe. Auf einem der gegenüberliegenden Dächer steht ein windschiefes Häuschen, ein morscher Schuppen, es kann dort nicht hingehören, es passt nicht, das Dach ist nicht einmal flach, auf dem dieses Häuschen steht, es müsste jeden Moment in sich zusammen fallen, aber es steht dort und Lena muss daran denken, dass vielleicht nur sie dieses Häuschen sehen kann, dass es nur sonntags dort steht, am Nachmittag, wenn es dämmert und Regen über die Fenster wandert, wenn sie wieder einmal aus Versehen in die öffentliche Führung geraten ist und den Raum verlässt, um nicht hören zu müssen, was der Museumsführer in die drei Frauen und ihre Nacktheit hinein interpretiert.
Irgendwann steht jemand neben Lena, der einen blauen Overall trägt, dunkle Stiefel und eine braune Wollmütze. Er geht in die Hocke, stützt die Hände auf den Boden, ein wenig linkisch, wie ein Kind sieht er aus, denkt Lena. Er sieht das Bild an. Lena bleibt vor der Kreuzigung Christi stehen. Der Mann erhebt sich, legt den Kopf auf die Schulter, streicht sich abwechselnd mit den Handflächen von hinten nach vorn über die Mütze, geht ein paar Schritte zur Seite und wieder zurück. Lena merkt, dass sie ihn anstarrt und wendet sich wieder der Kreuzigung zu, sie geht nah heran, als würde sie sich für irgendein winziges Detail interessieren, sie hört seine Schritte und wie er etwas sagt: der Horizont stimmt nicht, und Lena weiß nicht, ob er das zu ihr gesagt hat, oder einfach so in den Raum hinein, zu sich selbst, ein Gedanke, versehentlich laut geäußert, vielleicht sogar, ohne es zu merken.
In der Cafeteria bestellt er Pfefferminztee, er hält den Faden zwischen zwei Fingern und zieht den Beutel auf und ab, er heißt Kolja, obwohl er kein Russe ist, seine Eltern kommen aus dem Westen, wo es wärmer ist, hier ist es immer kalt, in Russland ist er nie gewesen, er würde die Kälte nicht ertragen, er erträgt es schon hier kaum. Lena streut Zucker auf den Milchschaum und sieht zu, wie der Zucker dunkler wird und schwer und unter den Schaum sinkt, sie lässt den Löffel innen um den Tassenrand kreisen, sie sagt, dass sie nicht von hier ist, dass sie neu in der Stadt ist, dass ihr die Kälte nichts ausmacht.
Kolja zieht eine Schachtel F6 aus der Tasche, schnippt mit dem Finger von unten da gegen, zieht die oberste Zigarette heraus und hält sie Lena hin, Lena sagt, danke, ich rauche nicht, Kolja zündet sich lachend die Zigarette an und Lena fragt, was ist so lustig daran?
Es ist so kalt, dass man den Atem sehen kann. Kolja schiebt die Hände unter die Achseln und knallt die Fersen zusammen, als sie nebeneinander an der Haltestelle stehen und die Tram nicht kommt, obwohl die Anzeige sagt, dass sie schon da gewesen ist. Lena zieht die Schultern hoch und den Schal über die Nase. Sie mag das Gefühl, in einer fremden Stadt zu sein, in der alles neu ist und alles möglich, weil einem noch nichts gehört, keine einzige Straße, keine einzige Erinnerung. Sie setzt sich in der Tram hinter ihn, weil keine zwei Plätze nebeneinander frei sind und legt das Gesicht dicht an die Scheibe, draußen ist es inzwischen dunkel, man kann nur Straßenlaternen erkennen und die roten und weißen Scheinwerfer der vorbei fahrenden Autos, fließende Lichter, die Brücke mit den beiden Türmen, die nachts beleuchtet sind, Raureif auf den Wiesen im Park, ein schwaches Leuchten.
Sie laufen schweigend nebeneinander. Beim Spätkauf an der Ecke kauft Kolja zwei Schachteln Zigaretten und eine Flasche Wein, den billigsten, Lena wartet draußen, malt mit dem Finger kleine Kreuze in den Raureif auf der Kühlerhaube eines roten Autos und fragt sich, was es bedeutet, in dieser Stadt zu sein, in der es nach Kohleofen riecht, in der die Füße immer kalt sind, diese kleine Großstadt voller mobiler Bratwurstverkäufer. Sie fragt sich, was es bedeutet, den ganzen Tag durch die Straßen zu laufen, niemanden zu treffen und sich Dinge zu merken, Häuser, Ruinen, Graffitis, aufgebrochenen Asphalt, sich Wege einzuprägen, durch den Park, über den Fluss, an der Rennbahn entlang, was es bedeutet, nicht gekannt zu werden und allein in das kleine Kino zu gehen, so oft es geht, und es geht oft, weil es sonst nichts zu tun gibt, auf harten Stühlen zu sitzen, mit sieben oder acht Anderen, die man nicht kennt, sieben oder acht, mehr als zehn sind es selten, mehr als zwanzig nie, und Filme zu sehen, argentinische, koreanische, uruguayische, kleine Geschichten vom Fremdsein. Kolja kommt aus dem Laden und Lena hört, wie er dem Verkäufer einen schönen Abend wünscht. Er schiebt die Weinflasche unter den Mantel, kramt mit einer Hand die Zigarettenschachtel aus der Tasche, zündet sich im Gehen eine Zigarette an, zerknüllt die leere Schachtel und wirft sie in hohem Bogen über ein parkendes Auto, Lena sieht der Schachtel hinterher und fragt sich, was es bedeutet, sie und Kolja, jetzt, in diesem Moment, in dieser Stadt, ob es überhaupt etwas bedeuten muss.
Koljas Haut ist hell, fast weiß. An den Unterarmen kann man die Adern sehen, wie Flüsse auf einer Landkarte, Lena fährt mit dem Finger darüber. Sie wundert sich ein bisschen, dass er ihr nichts ausmacht, dieser fremde Geruch, dass es sie fast nicht stört, dass hier ein unbekannter, warmer Körper neben ihrem liegt, in ihrem Bett und zum ersten Mal, in dieser Stadt, blass, behaart und so dünn, dass man das Herz schlagen sieht. Lena fragt sich, was es bedeutet, dass es sich nicht seltsam angefühlt hat, als Kolja im Treppenhaus seine Arme von hinten um ihre Hüfte legte, in ihren Nacken atmete und sie die Tür aufschloss und ihn in die Wohnung ließ, ihre Wohnung, in der es immer klamm ist und ein wenig nach Gas riecht. Dass es sich nicht seltsam angefühlt hat, als Kolja im Flur die Stiefel auszog, Lena in die Küche folgte, den Mantel über die Stuhllehne legte und sich an den Küchentisch setzte, die Mütze abnahm, sich durch die Haare fuhr, den Kopf in die Hand stützte und Lena dabei zusah, wie sie die Flasche öffnete, die Gasflamme entzündete, den Wein in einen Topf goss, einen Beutel Glühweingewürz hinein gab. Dass es sich beinahe nach nichts angefühlt hat, auch später nicht, als man keine Tram mehr am Haus vorbei fahren hörte, als der Topf längst leer war und Koljas Zunge rau und pelzig vom Wein.
Am Morgen wacht Lena sehr früh auf. Im Badezimmer ist es kalt, das Fenster ist vollständig beschlagen, Lena wischt mit der Hand darüber und dreht die Heizung auf. Draußen ist es noch dunkel, nur der Schnee, der in der Nacht gefallen ist, leuchtet matt von den Dächern. Im Hinterhaus geht ein Licht an, jemand beginnt seinen Tag und Lena muss daran denken, wie viele Welten es gibt, die parallel zu ihrer eigenen existieren, zu denen sie keinen Zutritt hat. Lena friert und drückt die Knie gegen die Heizung, die noch nicht warm ist. Als sie aufsteht und die Spülung drückt, hört sie die Wohnungstür ins Schloss fallen. Lena geht ins Schlafzimmer und betrachtet das Bett, die zurück geschlagene Decke, das zerwühlte Laken. Sie hebt ihr T-Shirt vom Boden auf, die Socken, den Slip, den sie nicht gleich findet, sie zieht die Sachen an und geht in die Küche. Auf dem Küchentisch hat er die Zigaretten liegen lassen. Lena bleibt vor dem Tisch stehen und betrachtet den Marmeladenglasdeckel, die ausgedrückten Kippen darin, die beiden weißen Porzellanbecher mit angetrocknetem Glühweinrest. Lena nimmt eine Zigarette aus der Schachtel und zündet sie an, langsam, fast vorsichtig, sie kippt das Fenster einen Spalt breit auf und bläst den Rauch in den Tag, in ein Blau, das sich schleichend über den Himmel ausbreitet, sie denkt an dieses Bild, die drei Frauen auf dem Felsvorsprung am Meer, dieses Licht, der Titel des Bildes fällt ihr ein: Blaue Stunde.
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Lena ist fast gerannt, die fünfhundert Stufen, immer zwei auf einmal, mit der Hand am Stein entlang, auf der Hälfte ist sie stehen geblieben, um Luft zu holen, über und unter ihr Stimmen, sie hat die Wand betrachtet, Jenny plus Sven, mit rotem Filzstift, Andi was here mit blauem Kugelschreiber und punks not dead. Jetzt steht Lena auf der Aussichtsplattform und lehnt sich über die Mauer, sie steht das erste Mal hier und sieht hinunter, einundneunzig Meter in die Tiefe, das ist viel, das reicht. Auf dem kleinen Teich lässt jemand ein Modellboot segeln. Eine Reisegruppe in bunten Trainingsanzügen schiebt sich an Lena vorbei. Lena geht einmal um die Plattform herum, sieht auf den Park, das Krematorium, die Plattenbausiedlungen im Hintergrund. Auf der Vorderseite ein Zaun aus Metallmaschen, wie ein Fußballtor, nur vorn, denkt Lena, hinten ist es ihnen egal, und sie fragt sich, wie lange es diesen Zaun schon gibt.
Es hat in der Zeitung gestanden. Lena hat Brötchen gekauft beim Bäcker um die Ecke, an diesem Tag auch eine Zeitung, sie kauft die Zeitung nicht täglich, aber an diesem Tag hat sie eine gekauft, weil sie schon im Laden das Foto gesehen und sein Gesicht erkannt hat, obwohl es ein älteres Bild gewesen sein muss, die Haare kürzer, der Blick ernst, das Bild gefiel ihr. Lena ging sehr langsam in die Wohnung zurück, legte die Zeitung auf den Tisch, nahm Filter und Pulver vom Regal und fing mechanisch an, Kaffee zu kochen, öffnete das Fenster, schloss es wieder, füllte Milch in einen Topf, zündete die Gasflamme an, füllte den Kaffee in eine Schale, schöpfte mit einem Teelöffel die Haut von der warmen Milch, trank einen Schluck, nahm die Zeitung und las. Sie dachte, dass ihr eigentlich schlecht werden müsse, dass sie sich auf der Stelle übergeben würde, aber ihr wurde nicht schlecht. Sie las den Artikel wieder und wieder und das Wort Freitod hallte in ihrem Kopf seltsam nach.
Kolja ist gesprungen, ein paar Monate nach diesem Abend, dieser Nacht, in der Lena das Rauchen anfing und der erste Schnee fiel, er hat sich vom Völkerschlachtdenkmal gestürzt, als Lena schon aufgehört hatte, an ihn zu denken, das ist alles, das ist die ganze Geschichte. Er ist nicht der erste gewesen, schon vor ein paar Jahren hatte es Menschen gegeben, die sich auf diese Art umbrachten, die ausgerechnet das Völkerschlachtdenkmal wählten, das hat Lena in der Zeitung gelesen und diese Inszenierung eines Abgangs kam ihr maßlos und unwirklich vor. Lena hat das Bild ausgeschnitten und in die Zigarettenschachtel gelegt, sie hat aufgehört, ins Museum zu gehen, sie hat nach nichts gesucht. Jetzt steht Lena auf der Aussichtsplattform und sieht auf die Stadt hinunter, sie steht lange so, ohne sich zu bewegen, dann legt sie die Zigarettenschachtel auf die Mauer und steigt in den Fahrstuhl.
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Janna Steenfatt
Prosa
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