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Janna Steenfatt
The place to be

Auf der Pla&ccdil;a Catalunya spielt ein alter Mann auf dem Akkordeon. Es wird jeden Tag noch etwas heißer.
Immer, wenn es so heiß ist, dass sich ein Schweißfilm auf der Haut bildet, der den ganzen Tag bleibt, vergesse ich, wie es ist, zu frieren. Ich stelle mir zur Abkühlung den Winter vor, schneebedeckte Wiesen und zugefrorene Seen. Und dieses Geräusch, das der Schnee macht, wenn man mit festem Schritt darüber läuft, ein Geräusch, für das es kein Wort gibt. Es hilft nicht wirklich.

Carl hatte von Barcelona geredet, seit wir uns kannten. Wir lernten uns auf der Party eines gemeinsamen Bekannten kennen. Ich lehnte stundenlang an der Wand neben dem Fenster und sah zu, wie Menschen, die ich nicht kannte, sich bemühten, irgendwie auszusehen, interessant, oder unnahbar, oder einfach nur gut, ich wollte nicht aussehen, ich trank mein Bier und sah auf die Uhr. Carl stellte sich neben mich und sagte irgendetwas, was man so sagt, ich habe es vergessen, es wird nicht sehr originell gewesen sein, aber was ist schon originell, wenn man es schreien muss, weil die Musik so laut ist und wenn man außerdem längst betrunken ist. Gegen vier Uhr ging das Bier aus, die Stimmung sank und Carl zog mich am Arm nach draußen. Wir suchten eine Bar, die noch geöffnet war und landeten in der Bar Celona. Carl bestellte Tequila und sagte, dass Barcelona die Stadt aller Städte sei, the place to be, er sagte es auch noch auf Spanisch, mit einem wichtigen Gesichtsausdruck und fuhr sich dabei mit der Hand durch das Haar, der Tequila brannte im Hals, mir war ein Bisschen schwindelig, Carl streckte die Arme über den Tisch, fasste mein Gesicht mit beiden Händen und küsste mich. Kurze Zeit später kniete ich auf dem Bürgersteig vor der Bar und kotzte in den Rinnstein zwischen zwei parkenden Autos. Carl sagte mir später, dass er sich genau in diesem Moment in mich verliebt hätte.

Der Vampir hat den leichtesten Job. Er liegt den ganzen Tag in seinem Sarg, der so aufgebaut ist, dass er im Schatten steht. Der Vampir erhebt sich nur, wenn jemand eine Münze in den Hut wirft, der vor dem Sarg steht, dann fletscht er die Zähne und bittet die Menschen zu sich heran, den Frauen ver­passt er Knutschflecken.
Erik ist mit dem Vampir befreundet, sie stehen in den Pausen zusammen vor der Boqueria und trinken Café con leche. Erik ist ein Bisschen neidisch, weil bei dem Vampir mehr Leute stehen bleiben, als bei irgendjemand anderem, viel mehr Leute, als bei Erik, das mit den Knutschflecken ist einfach die beste Geschäftsidee.
Der Sarg ist leer. Auch Erik ist nicht da, Erik ist nie da, wenn es wichtig ist. Ich laufe die Rambles herunter, vorbei an den Vogelhändlern, dem Indianer, dem Clownspaar, an dem Klavierspieler und der Stepptänzerin, zur Boque­ria.

Ich hatte mich nicht in Carl verliebt, jedenfalls nicht sofort. Ich mochte seine tiefe Stimme am Telefon, wenn er mich bat, noch vorbei zu kommen, ich mochte es, wie er erwartungsvoll in der Tür stand, wenn ich die Treppen hoch lief, ich mochte die Art, wie er sich mit der Hand durch die Haare fuhr, wahrscheinlich ließ er sie sich extra so schneiden, dass sie ihm ständig ins Gesicht rutschten, damit er einen Grund hatte, alle paar Sekunden diese unglaublich lässige Bewegung zu machen. Ich mochte Carls Wohnung, mit der Toilette auf halber Treppe und der Duschkabine in der Küche, wenn man es Küche nennen will, sein schlauchartiges Zimmer mit der großen Matratze und den Lammfellen auf dem Dielenboden, den undichten Fenstern, an denen innen das Wasser herunter lief, den Kakteen auf dem Fensterbrett, den Gitarrenverstärkern, die er als Tische benutzte und den Klamotten, die zum Trocknen von der Decke hingen.

Wir lernten Erik auf der Fahrt kennen, Carl hielt ihn für einen Spanier und redete auf Spanisch auf ihn ein. Damit es authentisch klang, hängte er an jeden zweiten Satz ein entiendes?, mir war es peinlich.
Erik stammt aus Prag. Er hatte lange in Deutschland gelebt, bevor er nach Barcelona zog um seinen Lebensunterhalt als terracottafarbener Cowboy auf den Rambles zu verdienen, was nicht ausreicht, so dass er außerdem als Reisebegleiter bei einem Billiganbieter von Busreisen arbeitet. Er ver­bringt viel Zeit in Reisebussen, was ihm nichts ausmacht, die meiste Zeit schläft er.
Als wir in Barcelona ankamen, nach mehr als vierundzwanzig Stunden in diesem Bus, mit Kopf-, Bein- und Rückenschmerzen, ließen wir die Suche nach einem Zimmer oder einer Jugendherberge sein und zogen zu Erik. Wir wollten nur eine Woche bleiben, dann weiter, die Costa Brava hoch, aber Erik sagte, die Costa Brava ist für dumme Touristenärsche, also blieben wir in der Stadt. Tagsüber stand Erik auf seinem Platz auf der Rambla und bewegte sich nur, wenn jemand ein Geldstück in seinen Hut warf und wenn wir vorbei kamen, zwinkerte er uns zu.
Wenn wir nichts anderes zu tun hatten, saßen wir am Fenstertisch im ersten Stock eines Fast Food Restaurants auf der anderen Straßenseite und beobachteten Erik, der aussah, wie eine Kupferstatue.

Der Vampir steht heute nicht vor der Boqueria, auch Erik ist nicht zu sehen. La Boqueria: der Schlund. Erik zeigte uns die Markthalle, Carl war begeistert, mir wurde übel von dem Fleischgeruch. Wir stritten uns, weil er unbedingt diesen Hasen kaufen musste, einen ganzen Hasen, tot zwar, aber an­sonsten unversehrt, mit einer Plastiktüte um den Kopf, in die das fast noch warme Blut tropfte. Carl handelte mit dem Verkäufer einen wirklich guten Preis aus, schwenkte das Tier an den Hinterläufen herum und erklärte mir wild gestikulierend, dass Hase im Tontopf eine katalanische Delikatesse sei, entiendes? Aber Carl kann keinen Hasen zubereiten, das hatte er sich nicht gründlich überlegt, Carl kann gar nichts außer Nudeln mit Tomatensoße oder Rührei, außerdem gab es in Eriks Appartement keinen Tontopf. Der Hase landete im Gefrierfach und Carl kochte zähneknirschend Spaghetti.

Ich hatte mich nicht sofort in Carl verliebt, damals. Und dann doch, irgendwann, weil er witzig war und intelligent und ein Bisschen peinlich, weil er mir spanische Lieder vor sang mit falschen Texten und glaubte, ich merkte es nicht. Weil er immer Dinge tat, die er eigentlich nicht konnte und aus denen dann nichts wurde, wie die Sache mit dem Hasen.

Die Portraitmaler kommen am Abend, sie breiten ihre Bilder auf dem Asphalt aus, Portraits von Musikern und Hollywoodschauspielern, die gut getroffen sind. Auf Carls Drängen hin hatte ich unten auf der Rambla Santa Mónica ein Porträt von mir zeichnen lassen, das mir nicht ähnlich sah, aber Carl gefiel es. Er heftete es am Abend an die Pinnwand in Eriks Küche und sagte, sieht sie nicht bezaubernd aus und Erik sagte ja, es hatte etwas seltsam bestimmtes, wie er es sagte und ich sah ihm zu, wie er die Wein­flasche öffnete, etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert, an diesem Abend. Carl stopfte sich seine Spaghetti rein und fragte, wisst ihr eigentlich, wie Gaudí gestorben ist und Erik und ich sahen uns an und mussten lachen und Carl erzählte es trotzdem noch einmal.
Ein paar Tage später nahm ich das Bild ab und legte es in eine Schublade, ich sagte, dass ich es nicht ertragen würde, immer ein Bild von mir vor Augen zu haben, das mir nicht ähnelt, weil es mir wie eine ständige Auffor­derung zur Veränderung vorkäme, ich war ein wenig betrunken, dabei und hinterher kam es mir albern vor, Carl lachte über mich, Erik lachte nicht.
Vielleicht sehe ich mir auch einfach nicht ähnlich, wenn ich auf einem unbequemen Hocker sitze, umringt von Touristen und gezeichnet werde, von einem alten Mann und Carl und Erik stehen hinter dem Zeichner, Carl legt Erik den Arm um die Schultern und feixt und Erik macht dieses Gesicht, das alles heißen kann oder gar nichts, vielleicht sehe ich mir nicht ähnlich, weil das alles so nicht stimmt, vielleicht ist es das, aber das sagte ich nicht.

Ein Mann geht auf den Händen direkt vor mir, er scheint darin sehr geübt zu sein, es sieht ganz leicht aus. Ich könnte es fotografieren, aber ich mache keine Fotos mehr, obwohl noch ein Film in der Kamera ist. Ich habe das Meer tausend Mal fotografiert und die alten Häuser in der Barceloneta, den Hafen, das fischförmige Einkaufszentrum, die Rambles mit ihren Menschen, den lebenden Statuen, alles arbeitslose Schauspieler, sagte Carl, das war das Einzige, was er dazu sagte. Die Vogelhändler zwischen ihren Käfigen, die traurig aussahen. Carl und ich hatten die Idee, ein paar Vögel zu kaufen und sie einfach frei zu lassen, aber wir taten es dann nicht. Ich habe Erik fotografiert, im Abendlicht, auf dem Dach seines Appartements, mit rötlichbraunen Farbresten an den Ohren und einer Weinflasche in der Hand, aber am meisten fotografierte ich Carl, warum weiß ich nicht, Carl vor der Sagrada Familia, Carl im Park Güell, mit der Stadt unter sich, einer Stadt, die aus vielen, winzigen Quadraten besteht, Carl im Picassomuseum, Carl im Mirómuseum, Carl vor der Kolumbussäule, Carl und das Meer, das Meer und Carl, vielleicht, damit es nicht auffällt.

Erik ist anders als Carl. Ruhiger, immer ein wenig müde, er spricht langsam, trinkt langsam, alles an ihm ist langsam. Vielleicht hat das mit seinem Job zu tun, mit diesem Statuendasein; er hat eine Präsenz, eine bestimmte Körperlichkeit, die mir anfangs fremd war, aber auf eine Art anziehend, so dass ich ihn immer ansehen musste. Es faszinierte mich, wie er Zigaretten drehte, wie er Weinflaschen öffnete, wie er mir einen Weg aufzeichnete, seine Präzision, seine Ruhe, wie er einfach da saß, gegen die Wand ge­lehnt, den Kopf zur Seite geneigt, sich mit der Hand das Gesicht
kratzte, das immer gerötet und rau war, von der täglichen Farbe; wie er an seiner Zigarette zog und den Rauch langsam durch die Zähne einsog, bei Erik stimmt alles.
Ich weiß nicht, ob Carl Erik wirklich bewunderte, oder ob er nur so tat, meinetwegen, oder aus Dankbarkeit, weil wir auf Luftmatratzen in Eriks Küche schlafen durften. Wenn Carl fragte, schläfst du schon, antwortete ich nicht und wenn er seine Hände auf meine Hüfte legte, hielt ich die Luft an und bewegte mich nicht, bis er mich seufzend los ließ, sich umdrehte und schnell einschlief. Ich legte meine Hand auf die kalten Fliesen neben der Matratze und lauschte, bis sich das monotone Surren des Kühlschranks mit Carls Schnarchen vermischte.
Einmal hielt ich es nicht aus und stand auf, ging ans Fenster und sah in den dunklen Hof. Schräg gegenüber konnte man in eine Küche sehen, eine dicke, müde aussehende Frau an einem Holztisch, das Gesicht in die massige Hand gestützt; nach einer Weile kam ein Mann, mit einem friedlichen, verlebten Gesicht, das karierte Hemd hing ihm aus der Hose, ich dachte, dass er früher einmal attraktiv gewesen sein musste. Die Frau sagte etwas, ohne den Kopf zu heben und er lachte, legte seine Hand auf ihren Arm, sie stand auf und folgte ihm dahin, wo ich sie nicht mehr sehen konnte, kurz darauf ging das Licht aus. Ich spürte einen Druck in mir, eine Sehnsucht, ohne zu wissen, wonach. Ich sah auf Carl, der mit offenem Mund auf seiner Luftmatratze lag und leise schnarchte, ein schwaches, bläuliches Licht fiel auf sein Gesicht. Ich stieg vorsichtig über ihn hinweg, öffnete die Küchentür, die leise quietschte und schlich über den Flur. Eriks Tür war nur angelehnt. Eine Weile blieb ich im Flur stehen und genoss die Möglichkeiten, die in diesem Moment lagen.
Ich dachte an die Frau und den Mann aus der Küche gegenüber und dann drückte ich vorsichtig die Tür auf.
Erik schlief nicht. Er saß aufrecht im Bett, gegen die Wand gelehnt, hob den Kopf ein wenig und sah mich an, nicht überrascht, sondern beinahe, als hätte er gewartet.

Die Palmen auf der Hafenpromenade bieten kaum Schatten. Die Menschen sehen beschäftigt aus, laufen hin und her, einige tragen, trotz der Hitze, Anzüge und Krawatten. Neben dem Stand eines Schmuckverkäufers streitet sich ein junges Paar, ein kleiner Junge zieht einen müden Hund hinter sich her, die Boote liegen schwerfällig wie große Tiere aneinander, das Einkaufs­zentrum reflektiert die milder werdende Sonne.

Ich weiß nicht, warum ich auf die Idee kam, in die Schublade zu sehen und ob es sich anders angefühlt hätte, wenn das Bild noch da gewesen wäre. Ich sah im Papierkorb nach, zwischen den Essensresten vom Vorabend, aber da war es nicht. Carl musste es mitgenommen haben, vielleicht trug er es sorgfältig gefaltet in der Hosentasche, vielleicht hatte er es längst zerknüllt und in den nächsten Mülleimer geworfen. Es war, außer dem Rucksack, den er immer bei sich trug, das einzige, was er mitgenommen hatte, seine Klamotten lagen unordentlich in der halbgeöffneten Reise­tasche, die im Flur stand. Das Bild war mir nicht wichtig, aber ich hatte das Gefühl, als sollte es etwas bedeuten, als würde mir Carl etwas sagen wollen, dadurch, dass er einfach verschwand und mein Bild mitnahm und es kam mir übertrieben und albern vor.
Erik tat, als wäre nichts. Er kam in die Küche, machte eine Bemerkung über die Hitze, schloss das Fenster, nahm die Mokkakanne vom Herd, goss den Kaffee in eine weiße Porzellantasse, dann trank er ihn in kleinen Schlucken, gegen die Spüle gelehnt, er sah mich an und ich sah ihn an und sagte nichts und wünschte mir, ich könnte einfach anfangen, zu weinen, jetzt in diesem Augenblick, zu weinen, wie Carl es konnte, damit Erik gezwungen wäre, mich in den Arm zu nehmen, oder irgendetwas anderes zu tun, aber Erik tat nichts. Er trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse in die Spüle und sagte: ich muss los. Im Vorbeigehen streifte er meinen Arm und ich hielt ihn nicht fest, ich ging zum Fenster und öffnete es wieder, wie aus Trotz, setzte mich auf die Fensterbank, ein Bein drinnen und eins draußen, Erik kam zurück, legte seine Hand auf meine Schulter, beugte sich herunter und küsste mein Haar, dann ging er. Ich blieb im Fenster sitzen und sah in den Hof, das Küchenfenster gegenüber stand offen, dahinter war niemand zu sehen. Ich war wütend auf Carl und auf Erik gleichermaßen und vielleicht war ich auch ein Bisschen wütend auf mich selbst. Ich legte den Kopf gegen den Fensterrahmen und zog die Knie an den Körper. Am Fenster gegenüber erschien die Frau vom vorigen Abend, sie beugte sich nach draußen und schrie einen Namen in den Hof, den ich nicht verstand, es war niemand zu sehen, dann zog sie den Kopf zurück, etwas langsam und umständlich, sah mich lachend an, nickte einmal kurz und ruckartig und machte ein Geräusch dabei, das Hola heißen konnte, aber sicher war ich mir nicht, dann verschwand sie in der Wohnung und ich fing plötzlich an zu weinen und ärgerte mich, dass Erik mich so nicht sehen konnte.
Irgendwann stand ich auf und ging durch die Wohnung, von der Küche durch den Flur in das Zimmer, wieder zurück, an der Küche vorbei ins Bad, die Wohnung war nicht sehr groß. Ich betrachtete die offenen Kartons voller ordentlich zusammen gelegter Hosen und T-Shirts, die Pflanze in der Zim­merecke, die große Matratze auf den breiten, dunklen Fliesen, den Bücher­stapel daneben mit Büchern in Deutsch und Spanisch, kein einziges tschechisches war dabei. Die Anlage und die vielen CDs, die entlang der Wand auf dem Boden standen, viel Klassik, Gitarrenpop und Elektro, an der Wand darüber drei Zeitungsausschnitte mit Bildern einer schönen, dun­kelhaarigen Frau, die ich nicht kannte, immer dieselbe Frau auf verschie­denen Schwarz-weiß – Bildern, im weißen Kleid auf einer Treppe sitzend, im dunklen Mantel an eine Backsteinmauer gelehnt, ein Portraitfoto, mit offenen Haaren, den Kopf in die Hand gestützt. Ich erinnerte mich, dass ich Erik schon am ersten Abend hatte fragen wollen, wer diese Frau mit den traurigen Augen sei und es dann nicht tat, weil ich den geeigneten Moment abwartete, der nicht kam und schließlich vergaß ich es für mehrere Tage, dann wollte ich es nicht mehr wissen, aber nun hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es wichtig sei, dass ich es dringend wissen müsse. Ich stellte mir vor, wer diese Frau sein könnte, warum ihr Bild in Zeitungen zu sehen war, vielleicht war sie Schauspielerin, Spanierin, Tschechin, eine Freundin, eine Geliebte, jemand von früher, oder eine Unbekannte, der Erik nie begegnet war, die er verehrte. Es kam mir unerhört vor, dass es eine Frau, diese Frau in Eriks Leben geben oder gegeben haben könnte, von der er nicht sprach, unter deren Bild er mich schließlich berührt hatte. Einen Moment lang dachte ich daran, dass es möglich sei, etwas ganz anderes zu tun und jemand ganz anderes zu sein, als ich war. Dass es möglich sei, hier zu bleiben, bei Erik, der keine Fragen stellte.

Ich verließ die Wohnung und setzte mich der Hitze aus, ich wusste nicht, wohin, ich wollte Erik nicht sehen, also lief ich nicht zur Rambla, sondern in die andere Richtung, ich lief immer geradeaus und wusste nach kurzer Zeit nicht mehr, wo ich war. Ich kaufte mir an einem Kiosk ein Wassereis und saß damit eine Weile auf den Stufen vor einem Hauseingang herum, betrachtete die Klingelschilder, an denen keine Namen standen, dann lief ich weiter, alles kam mir sinnlos vor, ich wäre gern einfach umgekehrt und irgendwohin zurück gegangen, aber ich wusste nicht, wohin, denn in Eriks Appartement wollte ich nicht und dann sah ich Carl. Ich wusste nicht, wie lange er mich schon von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtete, womöglich hatte er sogar vor Eriks Haus auf mich gewartet und war mir bis hierher gefolgt. Ich blieb stehen und sah zu Carl hinüber, der Rest meines Eis tropfte und bildete eine kleine Pfütze vor meinen Füßen, ich fühlte eine Wut in mir aufsteigen, eine Weile standen wir so und sahen uns durch die vorbeifahrenden Autos hindurch an, ohne uns zu bewegen, schließlich kam Carl herüber gelaufen. Wir standen uns gegenüber, immer noch schweigend, ich versuchte ein Lächeln, das Carl nicht erwiderte, er sah mich an, sehr ernst und sagte: hast du dich verliebt, es klang nicht mal wie eine Frage. Ich sah an Carl vorbei, auf der anderen Seite der Kreuzung war eine Stierkampfarena, ich versuchte, das Schild neben dem Eingang zu entziffern, Carl sagte es noch einmal, in genau dem gleichen Tonfall, ich zuckte die Schultern und sagte ich weiß es nicht und Carl ging wortlos an mir vorbei. Ich sah ihm nach und dachte, vergiss es, ich werde dir nicht hinterher rennen, und als er um die Ecke verschwand, rannte ich. Ich rannte und rief seinen Namen, er wurde immer schneller und rannte bald auch, die Ampel blinkte schon, bevor sie auf Rot sprang, ich blieb stehen, Carl lief weiter, über die Kreuzung, die Autos blieben stehen, das Motorrad nicht.

Man kann nicht Schluss machen, wenn jemand fast stirbt, sagte ich später zu Erik und Erik schwieg, zog den Zigarettenrauch durch die Zähne und kratzte sich das Gesicht und ich sah ihn an und dachte, dass ich nicht mehr wissen musste, wer diese Frau auf den Bildern war. Wir saßen im Wartesaal des Hospital del Mar, auf unbequemen Holzbänken, es war uner­träglich heiß und die Luft stank nach dem Schweiß der alten Menschen um uns, der Fernseher in der Ecke zeigte Stierkämpfe, ununterbrochen, tonlos, nichts und niemand schien sich zu bewegen, ab und zu kam jemand herein, aber niemand ging. Irgendwann sagte Erik etwas auf tschechisch, jedenfalls glaube ich, dass es tschechisch war, weil ich kein Wort verstand, er sagte es zu sich, leise, dann ging er hinaus und kam eine Weile nicht zurück. Ich dachte an Carl. Carl mit dem toten Hasen, Carl, wie er sich durch die Haare fuhr, Carl, weinend, Carl, schlafend. Carl, wie er das Gleichgewicht verlor, nach hinten fiel, mit den Armen ruderte und wirklich ein Stückchen durch die Luft flog, als das Motorrad ihn erwischte, wie in einem Film, Carl in einer roten Lache die sich gleichmäßig um seinen Kopf ausbreitete, das laute Geräusch, als das Motorrad über den Asphalt schlitterte und gegen einen Pfahl krachte, der Krankenwagen, der schöne Arzt, der mich auf englisch Dinge fragte, die ich nicht verstand, weil ich jede außer meiner Mutter­sprache für den Moment vergessen hatte. Das alles lief in meinem Kopf wie in Zeitlupe ab. Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht davon, die Polizisten diskutierten mit dem Motorradfahrer, der außer ein paar Schrammen nichts abbekommen hatte, ich saß auf der Rückbank des Polizeiautos und sah die Stierkampfarena, die Flecken auf der Straße, einer der Polizisten drückte mir Carls Rucksack in die Hand.

Man kann nicht Schluss machen, wenn jemand fast stirbt, sagte ich noch einmal, als ich Erik auf dem Flur neben dem Kaffeeautomaten fand, ver­stehst du das und Erik sagte Kaffee?, wartete keine Antwort ab, fischte ein paar Münzen aus der Hosentasche und steckte sie in den Automaten. Der Automat surrte und spuckte einen braunen Plastikbecher aus, in den eine dünne, hellbraune Flüssigkeit tropfte.
Etwas sagte mir, dass ich mich schuldig fühlen sollte, dass auch Erik sich vielleicht schuldig fühlen sollte, aber ich fühlte mich nicht schuldig, wie Erik sich fühlte, wusste ich nicht genau.
Ich ging zurück in den Wartesaal und setzte mich auf die Bank. Der Torero versetzte dem Stier den Todesstoß, der Stier sackte auf dem staubigen Boden der Arena in sich zusammen, die bunten Bänder an den Pfeilen in seinem Rücken wippten hin und her. Zwei alte Männer, die unter dem Fernseher saßen, diskutierten gestenreich über den Kampf. Mein Blick fiel auf Carls Rucksack, der neben mir lag und ich öffnete ihn. Mein Bild war darin, zusammen gerollt, ein Handtuch, ein Buch mit Gedichten von Neruda, das Carl in einem kleinen Antiquariat in Gracia gekauft hatte, Carls Geldbeutel, mit einem Passfoto von uns beiden, das wir in einem Automaten am Hauptbahnhof hatten machen lassen, kurz nach dem wir uns kennen gelernt hatten, kurz nach dieser Nacht, in der ich vor der Bar Celona in den Rinnstein gekotzt und Carl sich in mich verliebt hatte.
Als ich den Kopf hob, stand Erik in der Tür und sah mich an, mit diesem Blick, der alles oder nichts heißen konnte, bleib, oder geh, oder irgendetwas ganz anderes.

Vielleicht fühlte Erik sich doch schuldig, auf eine Art, jedenfalls überließ er mir seine Wohnung und zog zu dem Vampir, obwohl das nicht nötig ge­wesen wäre, aber Erik bestand darauf. Ich schlief in Eriks Bett, hörte seine Musik, las seine Bücher, aß an seinem Tisch, Salat und Früchte aus der Boqueria und irgendwann entrollte ich mein Bild und hängte es wieder an die Pinnwand, als hätte es immer dort gehangen. Nachmittags lief ich zum Hospital del Mar und besuchte Carl, der jedes Mal schweigend meine Hand nahm. Ab und zu kam Erik vorbei, um ein Paar Klamotten zu holen, dann tranken wir Kaffee in der Küche, wir saßen uns am Tisch gegenüber, Erik betrachtete das Bild und sagte nichts, ich fragte möchtest du gar nicht wissen, wie es Carl geht? und Erik drehte konzentriert seine Tasse in der Hand, schwang den letzten Schluck Kaffee darin herum und sagte wie geht es Carl und ich erzählte, dass es besser ginge, dass wir bald nachhause fahren könnten, in einer Woche, vielleicht zwei und Erik schwieg und sah weit weg aus.

Am Abend saß ich allein im Küchenfenster, sah in den Hof, grüßte die Frau von gegenüber und dachte wieder, dass es möglich wäre, ein ganz anderes Leben zu führen, dass es möglich ist, wenn man es will, aber man muss ja nicht immer alles wollen, was möglich ist.

Ein Krankenwagen fährt an mir vorbei und hält in der Einfahrt. Die Glastüren schwenken zur Seite und eine alte Frau, die von einer jüngeren Frau gestützt wird, verlässt das Gebäude.
Carl lächelt und sagt nichts, ich sitze am Fußende seines Krankenbettes und sehe der Schwester zu, die herein kommt und mit dem Mann im Bett gegenüber spricht, Carl sieht aus dem Fenster und pfeift leise eine falsche Melodie. Ich möchte, dass er etwas wichtiges sagt, etwas wie bleib bei mir, ich habe das Gefühl, dass er sich sicher ist und das macht mich ein Bisschen wütend. Ich will, dass er mich nach Erik fragt, dass er mir einen Vorwurf macht, irgendetwas, das meiner Wut eine Berechtigung verleiht. Ich würde mich gern mit Carl streiten, hier in diesem schlecht klimatisierten Krankenzimmer mit Meerblick, vor der Schwester und dem Spanier mit der Sportverletzung, die kein Wort verstünden, ich will eine Szene und Carl zum Weinen bringen, vielleicht will ich auch nur diesen Moment festhalten, dieses Gefühl, dass nichts entschieden ist, dass es möglich ist, irgendwo mit Irgendwem Irgendwer zu sein, der ich eigentlich nicht bin.

2005

Zuerst veröffentlicht in: Kaffee.Satz.Lesen 13 – 31, Mairisch Verlag

Janna Steenfatt    07.05.2010   
Janna Steenfatt
Prosa