Tagebücher eines Prometheus
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© Michael Blümel |
‚Das Leben stinkt nach Tod’ schrieb Goran als ersten Satz in sein Tagebuch. VERITAS - Wahrheit taufte er das Diarium mit großen gotischen Lettern. Mit den Fingerkuppen strich er über das Blatt und legte den Füll federhalter, auf dem die Initialen GT seines Vaters in goldener Schrift eingraviert waren, auf den knorrigen Tisch. Er griff zu einer gläsernen Sanduhr und drehte sie auf den Kopf. 15 Minuten blieben ihm, bis die Sonne aufging.
Er nahm einen Schluck Slibowitz, würgte zwei giftgrüne Ecstasypillen hinunter, auf denen das Gesicht von Micky Maus lachte, und schrieb weiter: In der Nacht erlagen fünf Kameraden ihren Verletzungen. Ich hatte ab vier Uhr Früh Sanitätsdienst und musste die Toten in olivgrüne, süßlich stinkende Leichensäcke packen. Sie starben einen dreckigen Tod, in einem dreckigen Bett, in einem dreckigen Krieg, für dreckige Saubermänner. Keiner der Soldaten war älter als 24 Jahre. Der Jüngste war vor einem Monat 19 geworden und hieß Nikola. Er hatte ein kindliches, mit Pickeln übersätes Gesicht, abstehende Ohren und dunkle, unruhige, wandernde Augen. Als ich seinen Leichnam in den Sack legte, sah er aus wie ein glücklicher Junge. Er war ein Fan von Hajduk Split gewesen, und wir hatten uns ständig wegen unserer Teams aufgezogen. Er hatte mich oft mit seinem Lieblingsspruch geneckt: Ihr seid zwar die Hauptstädter, aber in eurem Inneren bleibt ihr Schweinehirten. Und genauso rustikal spielt euer Team Fußball. Ich schob einen Wimpel von Hajduk in seine Brusttasche und legte zwei silberne römische Münzen mit dem Konterfei von Julius Cäsar, die ich beim Ausheben von Schützengräben gefunden hatte, auf seine Augen. Der Fährmann Charon sollte ihn sicher über den Styx befördern.
Mittags verteilte ich Essen und Getränke im Flüchtlingslager. Bis dahin kam ich ohne Pillen durch den Tag. Die fragenden, hoffenden, flehenden Blicke der Kinder trieben mich nachmittags in die Arme der Feuerengel.
Am Abend nur Routinearbeiten. Leichensäcke säubern, Waffen reinigen, vor dem Geschrei der Verwundeten fliehen. Der Tag hinter mir voller Grauen, die Nacht vor mir die Hölle.
Goran schloss die ‚Wahrheit’, nahm einen Zug aus der Schnapsflasche, starrte auf sein verzerrtes Spiegelbild in dem grünen Glas und flüsterte: „Wenn ich rede, sterbe ich. Wenn ich schweige, sterbe ich. Also rede ich und sterbe.“
Er schlug SPES - die Hoffnung auf. Sein zweites Tagebuch. Sein Schrei gegen die Wahrheit. Sein Kampf gegen die Pillen. Seine Flucht vor der roten Sonne. Sein Licht am Ende des Tunnels, das nur ein Widerschein der Hölle war.
‚Das Leben riecht nach Meer’ lauteten die ersten Worte. Er zog ein vergilbtes Foto aus der Jackentasche, auf dem am Horizont ein Segelschiff auf glitzernden Wellen tanzte. Im Vordergrund stand eine Frau vor einer Aphroditestatue. Sie lachte, winkte mit der rechten Hand. Ihr Haar: eine ungezähmte, schwarze Mähne. Ihre Augen: dunkel, voller Träume. Ihr Körper: schlank, mit geraden Schultern, schmalen Hüften und einem vollen Busen. So erhob sie sich aus dem Schaum des Meeres. Seine Anna.
Mein Dorf in den Hügeln über dem Meer, schrieb Goran weiter. Mein Haus, meine Erde, mein Land, mein Leben, meine Liebe. Die versteckte Bucht und der einsame Mandelbaum, unter dem ich Anna küsste. Mandeln auf ihrem Mund, ihren Brüsten, ihrer Scham. Annas Geruch betörend in der Luft. Annas Geschmack berauschend auf meiner Zunge. Wilde Küsse, zärtliche Berührungen, Liebesschwüre, Explosionen, zuckende Körper. Meine ungeborenen Kinder in Annas ewigen Augen. In diesen Momenten küsste der Himmel meine Erde, küsste sie im Schatten des Mandelbaums. In diesen Momenten flüsterte das Meer zu mir, versprach eine Woge zur Insel des Lichts.
Goran unterstrich Annas Namen, legte die Nase auf das Papier und atmete tief ein. Atmete das Meer seines Dorfes, atmete das Meer zwischen Annas Schenkeln.
Ein gieriger, wütender Wind mit Böen wie Prankenhiebe eines Bären kam auf und schlug wild gegen das Fenster und schleuderte Goran in die Wahrheit zurück. Die letzten Sandkörner rieselten und schlugen wie Felsbrocken gegen das Vergessen. Eine weitere giftgrüne Pille schoss ihn durch einen Tunnel der Zeit. Seine Hand machte sich selbständig und gehorchte dem Befehl der roten Sonne. ‚PROMETHEUS’ schrieb sie in zeigefingergroßen Druckbuchstaben. ‚PROMETHEUS’ wiederholte sie, schreit vor unsäglichen Schmerzen. Ein majestätischer, braungefiederter Adler gräbt die Krallen in sein Fleisch, stößt den Schnabel in Prometheus rechte Seite, stößt immer wieder zu und hackt ein Stück nach dem anderen aus seiner Leber. Prometheus steht nackt, in Ketten gelegt auf dem kargen Felsen. Blut fließt seinen Bauch hinab, vermischt sich mit zähflüssiger Galle und tropft klatschend auf das Gestein. Prometheus’ Beine knicken ein, er taumelt und stürzt und eine schwarze Binde legt sich um seine Gedanken.
‚Ich bin Prometheus’ schrieb Goran auf eine neue Seite. Mein Adler die rote Sonne, meine Leber das Leben, meine Ketten die Erinnerung. Ich bin ein Gespenst, das dem Geist von Millionen entsprungen ist. Sie drückten mir ein geweihtes Gewehr in die Hand, der Priester sprach Gottes Worte, und ich schoss wie keiner vor oder nach mir. Ich traf jedes Ziel, aus jeder Entfernung, aus jeder Lage. Ich folgte den blinden Parolen, bejubelte die Fahnenweihen des Teufels, träumte von den Feldern der Ehre. Wenn eine Lüge oft genug wiederholt wird, wird sie der Wahrheit zum Verwechseln ähnlich. Und Jugend giert nach Wahrheit. Und ich war jung und gierig.
Für jeden Mann kommt der Tag, an dem nichts mehr so ist, wie es einmal war. Für mich war es der 23. Dezember 1991. Nebelschwaden, Tautropfen, der saure Geruch von Schweiß und Angst. Um 4.35 Uhr kam ich an die Front. Heldengalerien marschierten auf. Patroklos zu meiner linken, Paris zur Rechten, Hector in meinem Rücken und Achilles schritt voran. In alten FIAT-Lastwagen, von denen der blaue Lack abbröckelte, fuhren wir ins Hinterland. Jeweils 25 Mann in einem Laster. Eine Horde abgemagerter Hunde lief uns bellend hinterher, als könnten sie den Tod wittern. Wir warfen ihnen faulige Speckstücke zu. Sie fielen gierig darüber her und blieben zurück.
Einige Soldaten spielten Poker um Opatija-Zigaretten und die Slibowitzration der Männer, die nicht von den Feldern zurückkehren sollten. Neben mir saß Vlado. Er war seit den ersten Gefechten an der Front. Sein Gesicht durchzogen dicke, tiefe, furchige Falten. Seine blauen Augen waren leblos, matt und ausgewaschen.
„Heute ist ein Tag für Helden“, sprach ich ihn an.
„Mist“, antwortete er, ohne mich anzusehen.
„Heute stellen wir uns dem Schicksal“, fuhr ich fort.
„Junge, das Leben ist beschissen. Und irgendwann ist man tot“, erwiderte er und sah mich mitleidig an.
„Aber die Felder der Ehre, das Vaterland ...“
„Junge, die Hölle ist ein Ort hinter diesem Wasser“, unterbrach er mich und zeigte auf einen schlammigen Fluss, der sich in Schlangenlinien durch das Tal wand und in einem dichten Fichtenwald verschwand.
Ich schwieg.
Der schwere Helm drückte hart gegen meine pochenden Schläfen, die Erde unter mir war schwarz und nass und weich und tief. Die Luft war erfüllt vom Pfeifen der Sprenggranaten, vom Peitschen der Kugeln, vom Dröhnen der Raketenwerfer. Mein Finger zitterte am glühenden Abzug. Mein Auge folgte einem Schatten, sein Kopf im Fadenkreuz meines Zielfernrohrs.
„Felder der Ehre, Vaterland, Felder der Ehre, Vaterland“, zischte ich und grub meinen Mund in den Schlamm und schluckte Brocken von dem Erdreich. Ich schwitzte. Eine eiserne Kette legte sich um meinen Hals, zog sich zusammen und schnitt mir die Luft ab. Mir schwindelte. Ich ließ das Gewehr fallen, wälzte mich im Morast, kauerte mich wie ein verwundetes Tier auf dem Boden und hielt Anna in den Armen.
„Junge, Gott hat uns beschissen“, riss eine Stimme mich von Annas Wärme. Vlado kniete neben mir und reichte mir die Hand. „Das Leben hat uns den Krieg erklärt, und wir müssen uns wehren“, fuhr er fort und hob mich vom Boden. Seine blauen Augen waren warm und weich.
Ein neuer Tag brach an, mein Finger glühte am kalten Abzug. Ein neuer Schatten tauchte hinter den Bäumen auf, robbte durch den Schlamm, versteckte sich hinter dem Hügel und lief zum Fluss. Ich entzündete meinen Scheiterhaufen. Der Schatten taumelte, torkelte, griff sich an die Brust, eine rote Sonne wuchs auf seiner Jacke, er stürzte, zuckte und blieb regungslos liegen. Ein höhnisches, verächtliches Lachen schallte über die Felder. Ich stopfte Schlamm in die Ohren, drückte sie mit den Händen zu und stammelte: „Tod, du Verführer, dein Hochmut gebührt dir nicht“.
Es folgten neue Tage, neue Schatten. Unsere Blicke trafen sich, ich sah sie am saphirblauen Fluss, ihre Anna in den Armen, lachend, scherzend, stöhnend, mit ihren ungeborenen Kindern in den Augen.
Ich bin ein Schattenmensch. Ich tötete, ich mischte Blut in Ströme von Tränen.
Ein Friedhof der Namenlosen legte sich über die Felder der Ehre. Und über ihnen wanderte die rote Sonne und grub ihre Strahlen in meinen Hochmut.
Goran schlug die ‚Wahrheit’ zu und schleuderte sie gegen die Wand. Er nahm die Slibowitzflache und zerschlug sie an der Tischkante. Den Flaschenhals rammte er in die rechte Hand und Blut schoss dick und zäh heraus. Er ging zum Fenster und drückte die Hand gegen die Scheibe und hinterließ einen dunklen, feuchten Abdruck auf dem Glas. Blitze zuckten am Himmel und rissen die Nacht in Stücke. Er verlor die Welt und seine Lügen widerten ihn an.
Mit der ‚Hoffnung’ in den Händen kauerte er in einer Ecke auf dem Fußboden, Blut lief den Füller entlang, tropfte auf das Papier und vermischte sich mit der Tinte. Er floh, er litt, er schrie, er schrieb:
Ich war so schwer an Leib und Seele verletzt, dass ich unverwundbar wurde. Annas Küsse unter dem Mandelbaum waren wie Wasserfälle und löschten jede Nacht den Scheiterhaufen. Mein ganzes Leben war ich einsam, außer in Annas Armen. Und sie stieß mich in den Tartaros. Vor sieben Tagen, vier Stunden und 27 Minuten brannte der Brief in meinen Fingern, in meinen Augen. Ein einfacher, weißer Umschlag, einfache, blaue Tinte, zwei einfache, kurze Sätze. Annas Lachen erloschen, die rote Sonne auf ihrer Brust. Annas Küsse brennend auf meinen Lippen, Annas Augen verglüht, die Erde getränkt mit Annas Leben. Der Mandelbaum nur noch ein verkohlter Stamm. Ein Holzkreuz schreit meine Wut in die Welt. Meine Seele leidet. Nicht mal mehr mit Hoffnung kann ich sie bestechen.
Goran legte das Tagebuch auf den Fenstersims, schritt zum Schreibtisch, öffnete die Schublade und nahm eine Pistole heraus. Er schaute in die Mündung und suchte eine Antwort. Er hasste das Leben. Das Leben hasste ihn. Er sehnte sich nach dem Tod. Der Tod hasste ihn. Aus der Hosentasche zog er eine Streichholzschachtel. Auf ihr prangte ein Marienbild. In der Schachtel bewahrte er die Pillen auf. Ecstasy, LSD, Schlaftabletten. Er steckte Maria in den Mund, kaute langsam und schluckte den zähen Brei hinunter. Er sah einen Schatten am Ufer des Styx. Einen Schatten, den Charon mit Blicken durchbohrte. Einen Schatten, über dem die rote Sonne aufging.
‚Das Leben schmeckt nach Tod’ schrieb Goran mit blutigem Zeigefinger auf die Tischplatte, packte die Sanduhr und drehte sie mit zitternder Hand auf den Kopf. 15 Minuten.
Mario Tomasegovic