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Mitgift

Mitgift Vor der Revolution, die Brotpreise stiegen täglich, im Volk wuchs Armut, dem Herrscher wurde vorgeworfen, er nutze sein hohes Amt lediglich zur Mehrung des eigenen Reichtums, nehme jedoch nicht die Verantwortung der Regierung wahr, um die Ursachen der Not auszuräumen, zu eben jener Zeit verehelichte die Engelmacherin Catherine ihre Tochter Adeline an den Wirt eines Gasthauses, erhob sich während der Hochzeitsfeierlichkeiten von ihrem Stuhl und umfasste Adelines Handgelenk, um die Tochter in einen kleinen, stillen Nebenraum zu führen, in dem sie aus einer Ecke hinter dem Weinregal eine Holzkiste hervorholte mit den Worten, dies sei die ihrer Tochter zugedachte Mitgift, sofern sie nicht gedenke, ihren Gatten zu ehren und zu lieben, denn in solchem Falle sei das Geschenk wertlos und erfülle nicht seinen Zweck, eine Befürchtung, die, wenn auch von Anbeginn nicht sehr groß, durch den verächtlichen Laut widerlegt wurde, den Adeline bei dieser Frage ausstieß, denn "fleischig" und "klumpig" hatte sie einst ihren jetzigen Gemahl umschrieben, erinnerte aber nicht daran, dass sie nicht aus freier Wahl heute Hochzeit feierte, obwohl Catherine in der Tat unerbittlich den Bräutigam ihrer Tochter bestimmt und Alphonse, dem Schankwirt, eine Aussteuer von zehn Federbetten, fünf Betttüchern, einem leidlichen Bündel Geld sowie eine gewisse Menge Zahngold, herausgebrochen aus den Mündern derer, die gesegneten Leibes unter den Händen der Engelmacherin verschieden waren, versprochen hatte, worauf dieser verlocken ließ, das bleiche, dürre Mädchen zu ehelichen, obgleich er größere Brüste bevorzugte, mit seinem Hemdsärmel die Weinflecken von einem der Schanktische gewischt und der zukünftigen Schwiegermutter dort einen Sitzplatz angeboten hatte, während Adeline mit hochgezogenen Schultern im Raum stand, sich auf die Finger biss und stumm die Eheverhandlung verfolgte, wobei sie starren Blicks auf das wulstige Fettgewebe schaute, das unter dem Kinn ihres künftigen Gatten beim Sprechen erzitterte, auch die Schweißtropfen beobachtete, die ihm seitlich am Gesicht herunterrannen, dabei mit stillem Ekel sich ausmalte, wie die Drüsenflüssigkeit auf der Zunge schmecken müsse, und auch nicht übersah, als Alphonse sich zu einem Handschlag über den Tisch beugte, dass sein Hemd ihm nass am Rücken klebte, weshalb Adeline, spät am Abend, als sich die letzte, zusammengekrümmt davonschleichende Frau aus der Engelskammer entfernt hatte, wie Catherine die hintere Stube ihrer Behausung nannte, in der sie ihrem Beruf nachging, sich der Mutter in den Weg stellte und Einspruch erhob gegen diese Verheiratung, obgleich dies zwecklos war, denn Catherine verhöhnte das Wort Liebe, das Adeline vorgebracht hatte, und bat die Tochter um Auskunft, wen sie denn wohl liebe, das möge sie doch bitte sagen, eine Frage, auf die Adeline keine Antwort fand, nur den Kopf senkte, woraufhin Catherine, nun zärtlicher gestimmt, die Hand ihrer Tochter ergriff, das Mädchen auf ein Sofa zog und erläuterte, sie, Adeline, ähnele nicht der Engelmacherin, die es stolz zu ihrem Beruf gemacht habe, das Lästige aus dem Wege zu räumen, vielmehr sei die Tochter zu heimlich und zu schüchtern in allem, träume von edlen Helden, tiefem Glück, warte und hoffe auf die Geschicke, aber übersehe die Notwendigkeit, durch eigenes Handeln die gewünschten Ziele zu befördern, da das Schicksal nun einmal nichts tauge, weshalb sie eine Herausforderung benötige, um sich hierin zu erproben, der Mutter nur vertrauen solle, die wisse, in welchem Sinne sie zum Besten ihrer Tochter entscheide, und zog dann, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, dem Mädchen die Finger vom Mund, die Adeline während des Gesprächs wund gebissen hatte, und in eben diesen Händen, deren Haut neben den Fingernägeln noch die Reste von blutigen Krusten zeigten, hielt Adeline nun das Holzkistchen, während die Mutter vorsichtig die Tür von innen verriegelte, damit weder Gäste noch Bräutigam unvermittelt in den Raum treten konnten, denn Catherine beabsichtigte, ihrer Tochter ungestört den Inhalt des Kastens zu erklären, den Adeline, nachdem die Mutter ihr den passenden Schlüssel dazu überreicht hatte, staunend betrachtete, da es sich um eine Vielzahl kleiner Flaschen aus dunklem Glas handelte, sorgfältig verkorkt oder mit Wachs versiegelt, deren jede einzelne die Engelmacherin aus den Verstrebungen zog, durch welche die zerbrechlichen Gefäße sicheren Halt in der Kiste fanden, und der Tochter darlegte, welche Nützlichkeit die darin verwahrten Ingredienzien für den ehelichen Umgang zu bieten hätten, denn Übelkeit, Durchfall, Herzrasen, geistige Verwirrung und Tod ließen sich mit den herrlichen Stoffen erzeugen, auch körperliche Lust und Rausch versprach der Inhalt einiger der dunklen Flaschen, besonders wertvoll seien vor allem die Gefäße mit den Schlangengiften, sie vermochten die Nerven des Mannes zu lähmen und Adeline hätte die Wahl, ob sie eine Lähmung der Glieder bevorzuge, der Gesichtmuskeln, der Lunge oder des Herzens, und die Engelmacherin wandte nach diesen Auskünften ihren Kopf und blickte die Tochter an, deren Augen sich verengt hatten, eine Mimik, die Catherine hoffnungsvoll lächeln ließ, auch wenn, wie sich in den kommenden Tagen und Wochen herausstellte, Adeline zunächst keinen Gebrauch von ihrer Mitgift machte, obwohl sich ansonsten in der Stadt ein gewisser Furor verbreitete, Unmut sich laut zu äußern begann, feste Mauern erstürmt, Gefangene befreit, nach "Freiheit, Freiheit" gerufen wurde, während Adeline mit gepressten Lippen duldete, unter dem schwerleibigen Körper ihres Gatten sich Darm und Rippen zusammenpressen zu lassen und unter einer leidlichen Atemnot nur ablenkungsweise zu bemerken, wie tief sich sein Gemächt in ihren Unterleib bohrte, wobei sie auf eine schnelle Verrichtung der Ehepflicht hoffte, die Lider dabei geschlossen hielt, damit kein Schweiß - wie beim ersten Male - von seinem Schädel in ihre Augen tropfen konnte, und sich angewöhnte, ein Tuch neben das Bett zu legen, womit sie sich nach erledigter Begattung die Nassheit des Gatten von Bauch und Brüsten wischte und sich dann eilig zur Seite rollte, ohne über ihr Eheleben ein Wort zu verlieren, was Catherine einen ersten Zweifel über diese Verheiratung weckte, weil sie statt dessen einen Ausdruck des Abscheus erhofft hatte, der Adeline jenen zu ihrer weiteren Entwicklung dienlichen Anstoß hätte bieten sollen, doch dieser Umstand schien nicht einzutreten, selbst dann nicht, als der Herrscher aus der Hauptstadt floh, aber bald erkannt und in einem Gasthaus festgesetzt wurde, zuletzt, von den Aufständigen eskortiert, heimzureisen gezwungen war, eine Nachricht, die Aufruhr erregte und Volk, viel Volk, zusammenströmen ließ, so dass Catherine eilig in die Schankstube zu Adeline lief und sie aufforderte mitzukommen, wenn das Lästige, immer wieder das Lästige ergriffen, der Machtlosigkeit zugeführt und zuletzt aus dem Wege geräumt würde, denn es sei eine gute Zeit, weil es nicht mehr nur der Einzelne jetzt lerne, sondern alle gemeinsam Veränderungen herbeiführten, eine Tatsache, in die sie die Hoffnung legte, dass Adeline sich von ihr mitreißen lassen möge, was jedoch nicht geschah, da im Gegenteil die Tochter sich nicht nur sträubte, sondern dem Willen der Mutter sogar Widerstand entgegenstellte und, den Blick zur Decke gerichtet, abwartete, bis Catherine fortgegangen war, um dann allerdings die Holzkiste hervorzuholen und erstmals ihrem Gatten ein Pulver in das Getränk zu mischen, der kurz darauf große Übelkeit verspürte, so dass Adeline in den folgenden Tagen wagemutiger wurde und den gesundheitlichen Zustand des Schankwirts erheblichen Schwankungen aussetzte, wobei sich die Symptome jedoch uneinheitlich äußerten und die Diagnose einer bestimmten Erkrankung erschwerten, weshalb Adeline, als sich Alphonse zum ersten Male einer ärztlichen Untersuchung unterzog, von der Ratlosigkeit des Doktors beruhigt wurde und nach geraumer Zeit eine immer größere Sicherheit im Umgang mit ihrer Mitgift entwickelte, sich mit wachsender Genugtuung an den Unpässlichkeiten weidete, die sie ihrem Gemahl in verschwiegener Form auferlegte, dabei das neue Empfinden heimlicher Machtausübung genoss und nach und nach den Gedanken entwickelte, sich von diesem Mann gänzlich zu befreien um die gesamte Schankstube in ihren alleinigen Besitz zu bringen, denn es wuchs in ihr nun doch eine Empfänglichkeit für die neuen Zeichen der Zeit, auch sie begann nach Umbruch, Schaffung persönlichen Mehrwerts und privater Altersvorsorge zu streben, so dass, als plötzlich das Blut des Herrschers an der Hinrichtungsmaschine klebte, am gleichen Tag ein Gift die Atemwege des dicken Wirtes lähmte, woraufhin sich Adeline an einen der Schanktische setzte und lächelte, während sie noch die letzten Krämpfe in den Fingern ihres am Boden liegenden Gatten betrachtete, sich sodann zurücklehnte, die Blicke durch den Raum schweifen ließ, den sie nun als den ihrigen begriff, und eine Flasche Cognac öffnete, mit der sie die Engelmacherin bewirtete, die kam, um sie zu beglückwünschen, im Stillen hingegen eine Furcht verspürte, die Tochter habe sich zu früh des Gatten entledigt, weil sie wohl im Umgang mit der Mitgift geschickt geworden sei, aber verpasst habe, zuvor an dem nun Toten einen herrischen und bestimmten, ja, keinen Widerspruch duldenden Ton zu üben und auf diese Weise die Heimlichkeit zu verlassen, aus der allein sie bislang ihre Macht bezogen hatte, anstatt die befreiende Wirkung der hinausgerufenen Worte "ich bin und will!" zu erproben, so dass sich Catherine die Frage stellte, ob aus dieser Wendung wohl das erwachsen würde, was sie sich vorgestellt hatte, und dieser Zweifel war nicht unbegründet, denn wenngleich Adeline eine Weile mit einem bislang selten vorhandenen Frohsinn die Schankstube reinigte und sich daran machte, den Raum nach eigenen Ansprüchen umzubauen, so ließ sich doch nicht übersehen, dass nach dem Tod des Herrschers ein alle vereinender Feind vernichtet worden war und nun jeder sich gegen jeden wandte, die Brotpreise keineswegs sanken, sondern das Lebensnotwendige gehortet und zu überteuerten Summen verkauft wurde, niemandem mehr zu trauen war, Nachbarschaft in Feindschaft umschlug, sich Koalitionen bildeten im Namen der Macht, neue Gesetze kamen und gingen, täglich neu sich einer zum Wortführer erhob, um alle Probleme zu lösen, im darauf folgenden Augenblick schon den Kopf verlor und ein neuer Redner und Lenker an seine Stelle sprang, derweil zunehmend und bald täglich geplündert und zerstört wurde, bis auch in Adelines Schankstube eine Gruppe von nach Unbestimmtem gierigen Männern eindrang, sie den Keller durchwühlten, Nahrung und Getränke rafften, Adeline zu Boden warfen, abwechselnd ihre Körperöffnungen ruckzuck verwerteten, danach im Gebäude verweilten, so lange es ihnen beliebte, und Adeline, noch während ihr die Samen die Beine entlangflossen, die Tische für sie sauber wischte, während schon kein Brot mehr zu verteilen war, Kopfgelder versprochen wurden und Adeline in all dem Aufruhr ihr Holzkästchen hervorholte, zu den Opiaten griff und den Aphrodisiaka, sich betäubte und lüstern machte, es mit allen trieb, die kamen, gingen und in Besitz nahmen, und zwischendrin, waren nun Tage, Wochen oder Monate vergangen, die Engelskammer betrat, wo sich in jeder Ecke, auf jedem Tisch und Regalbrett die Zeitungen, Broschüren, Flugblätter stapelten, aus denen Catherine die aktuellsten Ereignisse verfolgte, denn alles war unübersichtlich geworden, zu viele Informationen, zu viele Einflüsse und Ziele, Glaubensvorstellungen und Regierungen bestimmten die Zeit, immerhin hatte man doch die Republik, Revolution, Autonomie ausgerufen und Industrie geschaffen, Schützengräben gebaut und sich zwanzigmillionenmal totgeschossen, in kurzer Pause in grellen Kleidern zur Erfrischung der Laune getanzt, bevor erneut gemordet und sechzigmillionenmal vernichtet wurde, doch weil die eine mühevoll gesäuberte Partei sauber bleiben wollte, errichtete man eine Mauer quer durch die Hauptstadt und das ganze Land, daran rannten sich viele die Köpfe ein, bevor sie wieder niedergemeißelt wurde, alle sich in den Armen lagen, und da hätte es so schön können, denn nun konnte sich jeder ein Fernsehgerät kaufen und Leuchtreklamen erschienen in den Straßen, alles wurde bunt, bunt, bunt und laut, laut, laut, glänzend lackierte Autos strömten freiheitsversprechend durch die Gassen, aus den Fabriken quollen Schokoriegel, Gummibärchen und Mobiltelefone, der Meeresspiegel stieg um acht Zentimeter, in den Hinterhöfen standen Schafe, die machten schmerzlich Mäh, weil sie vom Klonen Arthrose bekommen hatten, in den Teichen schwammen transgene Fische und fraßen Sojaprodukte, als sich eine ganze Provinz aus ethnischen Gründen erhob und erneut Autonomie forderte, so dass aus der Hauptstadt die Panzer heranrollten, während die Provinzler Attentäter schickten, die sich unter Touristen mengten und dort zersprengten, so dass Digitalkameras und hunderte Kadaver in Fetzen durch die Straßen spritzten und Catherine mit einem feinen Haushaltstuch, das streifenfrei sauber putzt, kleine, weiche Gehirnreste von ihren Fensterscheiben wischte, bevor sie zu Adeline trat, die kichernd und mit scheelen Augen erwartete, dass ihr das siebente Kind in den Himmel hineingeboren werde, nicht jedoch von Catherine, die aufgrund der medizinischen Neuerungen nun arbeitslos war und auf eine Fortbildungsmaßnahme wartete, die ihr die Agentur für Arbeit vermitteln sollte, wobei sich die Engelmacherin wortlos, aber immerzu fragte, was sie auf die unverständigen Augen der Tochter erwidern könne, denn es geschah ja ein Übermaß an täglich Wechselndem, in einem einzigen Satz schon müsste sie mehr erzählen und erklären, als sie selbst noch begreifen konnte, und daher blieb sie schweigsam, verlor alle Übersicht, denn schon in dieser Minute ereignet sich mehr, mehr, mehr, als berichtet werden kann.

Michaela Schröder         2005/2006

 
Michaela Schröder
Prosa