|
Johannes Groschupf
Zu weit draußen
Roman
Eichborn 2005
|
Diese Redewendung verneint den passiven Blick, mit dem man sich „außen vor“ lässt. Sie drückt die innere Bereitschaft aus, der Realität – in welchem Sinne auch immer – begegnen und sie aushalten zu wollen. Es gibt Lebensläufe, darin schreiben sich die Ereignisse, denen „ins Gesicht“ geblickt werden muss, in den Körper selbst ein: Unfälle, schwere Krankheiten, Gewalttaten. Durch Amputationen oder Entstellungen büßt der Mensch die Grenzen seiner Intimität ein, sein Schicksal wird „ansichtig“. Er trägt die Male jener Verletzungen mit sich, ist den Blicken anderer Menschen ausgesetzt, muss die Aufgabe der Begegnung im doppelten Wortsinne bewältigen. Dies aushalten zu lernen, meint zuletzt: sich selbst aushalten können. Der autobiografische Roman
Zu weit draußen von Johannes Groschupf erzählt von dem Weg, diese Anforderung zu meistern.
29-jährig überlebt der Reisejournalist Jan Grahn einen Hubschrauberabsturz in der Sahara. 80% seiner Haut sind verbrannt, erst nach einjährigem Krankenhausaufenthalt und ungezählten Gewebetransplantationen kann Grahn nach Berlin zurückkehren, wo seine Kinder mit ihrer Mutter leben. Der vernarbte Körper erzeugt Schamgefühle. Den früheren Beruf kann Grahn nicht mehr ausüben, materielle Absicherungen fehlen, auch die Rückkehr in das frühere soziale Umfeld misslingt. Anknüpfungspunkte an das Leben vor dem Unfall gibt es kaum.
Unprätentios und unsentimental erzählt Johannes Groschupf die Geschichte eines Mannes, der sich auch lange nach der körperlichen Genesung vom Tod begleiten lässt, als wäre er jene schwarze Allegorie des Mittelalters, die ihrem Opfer heimlich hinterhertanzt. Obgleich Grahns Überleben aufgrund des Ausmaßes seiner Verbrennungen ein medizinisches Wunder darstellt, gelingt es dem Journalisten zunächst nicht, diesen Umstand optimistisch zu bejahen. Grahn lässt sich „außen vor“, streift als passiver Beobachter durch das eigene Leben, streift in eben diesem Sinne im Schutz der Dunkelheit durch die Stadt, lässt mit sich geschehen.
Es sind jene tieferen Schuldgefühle des Überlebenden einer Katastrophe, bei der alle anderen Begleiter sterben mussten. Zugleich hat die Schüchternheit, mit der Grahn sich in sich selbst zurückzieht, ihre Ursachen in bestimmten biografischen Voraussetzungen. Nicht zufällig beginnt der Roman mit einer Kindheitserinnerung, die eine tiefe Angst vor dem Verletztwerden spiegelt. Regelmäßig fürchtet der Junge Jan, beim Milchholen auf dem nachbarlichen Landwirtschaftsbetrieb könne sich der angekettete Wachhund losreißen und ihm Gesicht und Körperteile zerfleischen. Hinter dieser Angst steckt eine Erziehung, die wenig Ich-Stärke vermittelt, symbolisiert in der vom Vater anerzogenen Begrüßungsgeste zur tiefen Verbeugung.
Das Leben in der elterlichen Familie wird als umfassende Beziehungslosigkeit geschildert, aufrecht Erhalten von ritualisierten Handlungsmustern. Der Vater nimmt den Sohn zu Spaziergängen auf dem Friedhof mit, die Mutter bezahlt dem Jungen das Totschlagen von Fliegen mit Geld. Unwilllkürliche emotionale Äußerungen oder kindliche Unbeschwertheit fehlen. Einprägsam zeichnet Groschupf in knappen Darstellungen eine seltsam „tote“ Familienatmosphäre, eine ihr innewohnende bedrückende Erstarrung. Analog dazu ist es Jan Grahn nicht gelungen, selbst ein funktionierendes Familienleben aufrecht zu erhalten. Die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin ist zerbrochen, die gemeinsamen Kinder leben bei ihrer Mutter. Der durch die Welt reisende Journalist war auch vor dem Unfall nicht stabil in seiner eigenen Existenz beheimatet.
Die Aufgabe, sich dem Leben neu zu stellen, erhält hierdurch eine Vieldimensionalität, die über die Bewältigung schwerer Unfallerfahrung mit ihren körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen hinausgeht. Beruflich, sozial, in Fragen der Mann-
Frau-Beziehung, als Vater und in der Selbstbeziehung sucht hier ein Mann einen neuen Standort. Sein äußerer Weg führt von der Sozialhilfe, Arbeitseinsätzen zum Laubkehren im Stadtpark, Pflichtstunden in einem Nachbarschaftsladen sowie der Anstellung als Leichenwäscher und Sargträger in einem Bestattungsinstitut zum Schluss zurück in die Sahara. Lakonisch berichtet Groschupf von den Absurditäten und Finten des Alltags, die – in Hinsicht auf die Ereignisse rund um das Bestattungsunternehmen – teilweise grotesken Humor annehmen.
Über all diesen Lebensstationen steht jedoch ein Motiv, das den eigentlichen Kern der Erzählung bildet: Es ist die Liebe eines Vaters zu seinen Kindern. Der tiefe Einschnitt in Grahns Leben und seine lange Abwesenheit haben eine ungewollte, wechselseitige Entfremdung herbeigeführt. Wie der Vater und seine Kinder sich wieder annähern, unbeholfen und mit versteckter Zärtlichkeit ihre Beziehung erneuern, das ist nicht nur anrührend, sondern auch untrennbar mit Grahns Fähigkeit verknüpft, Ja zum Leben und zu sich selbst zu sagen. Erst als ihm das gelingt, vermag der Journalist zurückzukehren in die Saharawüste, an den Ort des Unglücks und den Ursprung der Handlung. Nun kann der Protagonist den Tatsachen ins Gesicht sehen: „All dies ist wirklich, dachte ich, der Mond und die Sterne sind wahrhaftig, hinter ihnen Planeten und andere Monde, diese Erde ist wirklich.“
So ist Zu weit draußen von Johannes Groschupf ein nicht einmal 200 Seiten langer Roman, der durch einen knappen und pointierten Erzählstil die unterschiedlichen Facetten eines Lebensweges komprimiert: große Einschnitte, kleine Wunderbarkeiten, Grotesken des Alltags, die Liebe zwischen einem Vater und seinen Kindern – und zum Leben selbst.