POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
Roman Graf

Herr Blanc

DRITTES KAPITEL
Zwei, die verzweifeln

Als junger Mann verlässt Herr Blanc am Ende des Studiums in Cambridge seine Freundin Heike, die, ohne dass er sich dessen bewusst wäre, seine große Liebe ist, mit der er glücklich werden könnte. Nach vielen einsamen Jahren in der Schweiz heiratet er Vreni, eine Vernunftehe. Als Herr Blanc kurz vor seiner Pensionierung steht, führt ihn das Schicksal nach Polen und zu Heike, die dort begraben liegt.


Das Thermometer zeigte zweiunddreißig Grad, am Himmel war weder ein Wölkchen noch eine Schliere zu sehen, und obwohl der Wind schon seit Stunden weit stärker wehte als üblich, war nicht zu erwarten, dass er eine Regenwolke bringen würde. Seit Wochen war es so heiß und so schön, kein Tropfen Regen war gefallen, und das sollte laut Wetterbericht auch die nächsten Wochen so bleiben.
Von den Anstrengungen erschöpft, die das Lesen und Umblättern bei dieser Hitze bereiteten, faltete Herr Blanc die Zeitung zusammen, in der er von den Beitrittsverhandlungen Rumäniens zur Europäischen Union gelesen hatte, nahm die Beine vom Lederhocker herunter und rief, die Zeitung auf die Knie gelegt und mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn streichend, in die Küche:
»Vreni, der Tee!«
Er war verärgert. Vor einer Viertelstunde hatte er in die Küche gehen und sich ein Glas Eistee holen wollen, doch in dem Moment, als er im Begriff gewesen war, sich zu erheben, war Vreni zu ihm in die Stube getreten und hatte ihn gefragt, ob er etwas trinken wolle. Er dachte, dass sie so oder so in die Küche gehen müsse und sich danach zu ihm in die Stube setzen würde, und so antwortete er, dass er gerne einen Eistee hätte. Doch Vreni brachte den Eistee nicht. Nach fünf Minuten des Wartens hatte er in die Küche gerufen, ob er sich den Tee selber holen solle, und Vreni hatte unverzüglich und mit klarer Stimme geantwortet, sie werde ihn gleich bringen. Er war sehr durstig. Nun war bereits eine Viertelstunde vergangen, und er rief noch einmal nach dem Tee.
Aus der Küche war wieder die gleiche wohlklingende Stimme zu hören: »Ich bringe ihn gleich.«
»Verdammt noch mal«, murmelte er vor sich hin. Er brauchte dringend etwas zu trinken. Seit seiner frühesten Kindheit hatte er Heuschnupfen, und an Tagen mit hohen Temperaturen und starkem Wind musste er sich nicht nur ständig die Augen reiben, sondern auch viel trinken. Da er den Cortison-Nasen­spray nicht mehr benützte, mit dem er jahrelang gute Erfah­rungen gemacht hatte, aber den Vreni als zu ungesund erachtete, bekam er wegen des starken Heu­schnupfens auch leichtes Asthma, er hatte dann das Gefühl, etwas stecke in seinem Hals, ein Härchen, eine Faser oder, vom Wind in seinen Mund geweht, ein Körnchen oder gar Blütenstaub. In diesen Momenten setzte ein starker Drang zu schlucken ein, der ein­herging mit einem Unwohlsein, das meistens einen leicht bedrohlichen Charakter annahm und das, wenn er nicht etwas trinken konnte, ähnlich wie bei einem Herzinfarkt zu Todes­ängsten würde führen können, dessen war sich Herr Blanc sicher.
Notdürftig impro­visierend, sammelte er Speichel in seinem Mund und schluckte ihn hinunter, er hustete und räusperte sich, doch das, was in seinem Hals steckte, ließ sich weder hin­unter­schlucken noch hinaus­husten. Als Zeichen, wie dringend er den Eistee brauchte, fing er an, so laut zu husten und sich so laut zu räuspern, dass ihn Vreni in der Küche unmöglich überhören konnte. Wollte sie später kein schlechtes Gewissen haben, würde sie ihm den Eistee bestimmt gleich bringen.
Vreni war bekannt, dass er manchmal das unheimliche Gefühl bekam, sein Hals sei inwendig fast zugeschwollen oder drohe sogar ganz zuzuschwellen, sodass er keine Luft mehr bekäme. In solchen Situationen war es am besten, wenn er möglichst schnell etwas Kaltes trinken konnte. Ganz egal, was es war, es musste nur kalt sein. Er hatte einmal gelesen, dass man bei allen Schwellungen, einerlei, ob von einer Prellung oder von einem Insektenstich, kühlen musste. Und so trank er am liebsten etwas Kaltes, wenn sein Hals inwendig geschwollen war, oder aber, was nur selten der Fall war, er aß zwei oder drei Kugeln Eis, die er in seinen Mund löffelte und von dort langsam den Hals hinunterlaufen ließ.
Vreni wusste ganz genau, warum er einen Eistee wollte, ja sogar notfallmäßig brauchte! Warum konnte sie ihm den Tee nicht etwas schneller bringen? Bestimmt trieb sie wieder eines ihrer kindischen Spielchen: vielleicht wartete sie in der Küche, weil sie wollte, dass er zu ihr kam. Manchmal fühlte sie sich nämlich aus unerklärlichen Gründen einsam, und in diesen Momenten tat sie alles, damit er zu ihr kam, ihr also hinterherlief. Sie konnte nicht zu ihm gehen und ihm sagen, sie fühle sich einsam. Nein, sie wollte, dass er zu ihr in den Garten, zu ihr in die Stube oder zu ihr ins Schlafzimmer trat. Jetzt hoffte sie, dass er sich von seinem Sessel erhebe und zu ihr in die Küche komme.
Das war das eine Spielchen, das sie häufig spielte, das andere Spielchen war, dass sie trauerte. Wenn sie trauerte, sprach sie nicht und brauchte für alles fünfmal länger als sonst. Er hatte sie schon mehrmals beobachtet und dabei auf die Uhr geschaut: im Mittel brauchte sie in solchen Phasen der Trauer, um einen Tee zuzubereiten, fünfundzwanzig Minuten, um die Post vom Briefkasten zu holen, zehn Minuten, und um das Geschirr abzuwaschen, beinahe eine Stunde – fünfmal länger als üblich! Besonders ärgerte ihn daran, dass sie um Norbert trauerte, ihren verstorbenen ersten Mann. Norbert war an Darmkrebs gestorben. Nächstes Jahr würde es zehn Jahre her sein, und vielleicht würde ihn Vreni dann endlich vergessen können!
Doch Herr Blanc war sich nicht sicher, ob sie wirklich Norbert hinterhertrauerte. Was ursprünglich eine Trauer um Norbert gewesen war, hatte sich vielleicht im Laufe der Jahre in eine Trauer um sich selbst verwandelt. Herr Blanc vermutete, seine Frau bemitleide sich selbst. Er vermutete, sie brauche fünfmal länger, um Zeit zu schinden. Vreni wollte nicht vorwärtskommen, sie wollte nicht, dass sie beide den Tagesablauf einhalten konnten: Vreni wollte nicht, dass sie endlich essen, endlich in die Stube gehen und sich im Fernsehen die Nachrichten und die Abendserien anschauen konnten. Er wusste, dass Vreni fünfmal länger brauchte, um fünfmal länger allein sein zu können. Sie hatte ganz einfach keine Lust, ihn zu sehen.
Er dachte sogleich an Heike. Das Zusammensein mit ihr war immer – ihm fiel tatsächlich kein einziger Tag ein, an dem es nicht so gewesen wäre – wie ein Zauber gewesen. Alles war von Bedeutung, die Tonlage, wenn sie seinen Namen sagte, der Druck, mit dem sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Vreni war ganz anders, sie war eine graue Maus und schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Heike hingegen war charmant gewesen, und sie hatte einen verwirrenden zweideutigen Blick gehabt. Wegen dieses Blicks erhielten die alltäglichsten Sätze etwas Kompli­zen­haftes. Heike sagte: »Gehen wir noch ins Café?«, und ihr Blick sagte, dass er ihr besonders wichtig war, dass er ein Auserwählter sei und dass im Café etwas Außergewöhnliches, für sie beide unerhört Schönes passieren würde, was dann auch geschah: sie lehnten beide über das kleine, runde Tischchen und küssten sich gierig – minutenlang! Wenn er kaum einen Arm weit von sich entfernt Heikes schmales Kinn mit dem gefühlvollen Grübchen sah, den Mund, dessen trockene Lippen zu einem angedeuteten Luftkuss geformt noch üppiger waren und an deren Querfältchen kleinste weiße abgestorbene Häutchen hingen, die beim Küssen seine Lippen kratzten, konnte er nicht anders als sich erneut über den Tisch zu lehnen und diesen Mund zu küssen. Wenn er sich näherte, gingen Heikes Augen in derselben Geschwindigkeit zu, die Augen, die, schlau und wählerisch, sehr wählerisch, ihn gerade eben noch in einer langen Auf­forderung angestrahlt und Heike verraten hatten: er war der Mann, er war ihr Ge­liebter, und sie war stolz darauf!, und just, als sein Mund ihre Lippen berührte, waren die Augen zu und gaben für niemanden mehr Zeichen frei.
Manchmal, wenn Herr Blanc im Sessel saß und scheinbar in der Zeitung las, als hätte er gerne seine Ruhe und wolle von Vreni nicht gestört werden, hatte er in Gedanken Sex mit Heike. Meistens jedoch erinnerte er ihr gemeinsames Leben in Cambridge, alltägliche Situationen, die er nicht vergessen hatte. Natürlich verglich er Vreni mit Heike, aber diese Vergleiche frustrierten ihn, sodass er jedes Mal eine schlechte Laune bekam. In Heike war er verliebt gewesen, und gleichzeitig hatte er sie geliebt; es war so, wie es sein musste, wenn man sich Liebe, das größtmögliche Glück vorstellte. In Vreni war er nie verliebt gewesen. Heute liebte er sie, aber ganz anders, als er Heike geliebt hatte; auch heute noch war er jedoch nicht in Vreni verliebt. War es eine Frage des Alters? Eine Zeit lang hatte er sich Mühe gegeben, sich in Vreni zu verlieben. Doch er konnte sie nicht bewundern wie er Heike bewundert hatte, schon eher bedauerte er sie. Er konnte sie nicht dafür bewundern, dass sie an manchen Tagen darauf wartete, dass er zu ihr kam, und ihn an anderen Tagen nicht sehen wollte.
Als Herr Blanc in seinem Sessel saß und auf den Tee wartete, fragte er sich, welches der beiden Spielchen Vreni in diesem Moment spielte. Wollte sie allein sein, oder fühlte sie sich einsam? Brachte sie ihm den Tee nicht, weil sie ihn nicht sehen wollte, oder wartete sie in der Küche, bis er kommen und sich den Tee selber holen würde?
Er nahm den Teller mit den Trauben, der auf dem Salontischchen stand, lehnte sich im Sessel zurück, legte die Beine auf den Lederhocker und begann zu essen. Wenn er eine Traube mit seinen Eckzähnen zerstochen hatte, saugte er die Flüssigkeit aus ihr heraus und schluckte sie hinunter. Obwohl er mindestens ein ganzes Glas Eistee in einem Zug hätte trinken müssen, taten die Trauben seinem Hals gut. Wenn ihm Vreni den Eistee nicht bald brachte, würde er alle Trauben aufessen. Selbst wenn er nachher ersticken sollte, würde er es sich vorher noch einmal gut gehen lassen. Er würde in seinem Sessel sitzen und Trauben essen, und danach würde er einfach warten, bis Vreni kam. Irgendwann musste sie kommen.

© 2009 Limmat Verlag, Roman Graf: Herr Blanc

Roman Graf   19.08.2009     Druckansicht   Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen
Roman Graf
Prosa
Lyrik