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Simone Trieder

Im Karree



Hier wär es so schön still, sagst du.
Bleib einen Moment stehen, lass den Straßenlärm hinter dir, das Seufzen und Zischen der Laster, das Geschwätz der her­beieilenden Autos, die dann wie Katapulte bei Rot gespannt warten, derweil die Autoradios mit Techno und Herbert Grönemeyers „Irgendwann find und lieb ich dich“ den Count­down zählen, bis sie bei Grün alle losschnipsen – einen kurzen Hopser nur, denn gleich wird sie das nächste Rot aufhalten.
Tritt ein in das vermeintlich stille Karree, mein Karree. Hier stoßen res­tau­rierte Gründerzeit­häuser auf einen unsanierten Sozialbau. Ange­sehene Bürger der Stadt mussten es sich zu Beginn der 30er Jahre gefallen lassen, dass an ihre reichverzierte Häuserzeile dieser schlichte Sozialbau im rechten Winkel angedockt wurde. Aber niedriger musste er bleiben. Und die Bürger wendeten den kleinen Ange­stellten unter ihnen ihren Wirt­schafts­trakt zu, Toiletten, Bad, Küche. Der Sozial­bau trotzte mit intelli­gent gestalteter Schlicht­heit: Die Treppen­häuser springen vor­witzig vor, ein Torbogen verbindet elegant die beiden Blöcke, jede Wohnung hat ein bis zum Boden gehendes Fenster, das italienisches Flair verbreitet und das den Bewohnern des Sozialbaus einen fast bürger­lichen Blick auf die gemeinsame Wäsche­wiese ermöglicht. Die Bewohner der Gründerzeitzeile allerdings verstecken die Wäsche in ihren Höfen, die sie von den Nachbarn trennen. Aber aus den Fenstern ihrer Wohnungen müssen sie den Anblick karierter Hemden, Arbeits­kombinationen, Schürzchen und Schlüpferchen ertragen.
Eine Gnade, dass wenigstens die Ostseite des Karrees offen geblieben war, durch die der für­sorgliche Ostwind frische Luft bringen konnte.
Damit war in den 60er Jahren Schluss. Da schloss das System die offene Seite auf bewährte Weise mit einer Serie von Arbeiter­schließfächern. Die Neu­bau­wohnungen waren begehrt, nach damaligem Standart modern ausgestattet und – jede Wohnung hatte einen Balkon. Ihre Bewohner fühlten sich als wahre Herren des Karrees. Der Straßenseite zeigten sie vermittels Fähnchen Dankbarkeit an das System, das ihnen diese Wohnung beschert hatte und in den Nischen ihrer Balkons dachten sie sich ihrs. Indes die Gründerzeithäuser vor sich hinbröckelten, Studenten in ihnen hausten und Schüsseln auf dem Dachboden verteilten, damit es ihnen nicht zu sehr auf ihre Semesterarbeit regne. Als dann alles anders kam, zogen die Studenten in den Sozialbau gegenüber ein und beteten, dass ihr kommunaler Vermieter nicht saniere. Die Gründerzeithäuser fanden ihre Besitzer wieder und ihren alten Glanz, man konnte jetzt die Wohnung kaufen als Sicherheit in unsicheren Zeiten. Nur die Bewohner in den Neubauten sind die Gleichen geblieben.
Hier siehst du nun in der Mitte, in der Pufferzone zwischen den Seiten des Karrees in dem grünen Niemandsland der Wäschewiese. Hier gerinnt mein Ich an der Außenwelt. Nichts regt sich im Moment, man möchte fast flüstern, keine Gardine regt sich, kein Petersilienstengel in den Kästen vor den Fenstern. Auch der mächtige geringelte Leib des mittagsträgen Katers nicht. Er behält die Übersicht, derweil er sich mit provozierendem Genuss dem Nichtstun hingibt. Mit einer winzigen Wendung des Ohrs registriert er das Geschrei einer Hundertschaft Spatzen, das eben das Himmelsblau durchkratzt.
Aus den vier Seiten des Karrees kraucht ununterbrochen ein Dunst auf die grüne Wiese in seiner Mitte mit ihren kokett nickenden Grashalmen und geschäftigen Regen­würmern. Er entströmt den eben entstiegenen Betten, den Küchen, den benutzten Pfannen, geöffneten Kühl­schranktüren, den getrennten Müllsäcken, den Bade­wannen­ausgüssen, den Zahnbürsten, den schlaffen Hand­tüchern, den Hosen­taschen und zerknüllten Taschen­tüchern, den zeris­senen Briefen, den Familien­alben und Tage­büchern. Gestank scheint still zu sein, still ruht er in dieser vier­seitigen Abwehr­stellung. Es ist eine Stille wie kurz vor der Schlacht. Die Schlachten, die hier geschlagen werden, gelten Parkpätzen, Wäsche­leinen, Haus­ordnun­gen, Unkraut.
Manchem ist die Stille wie Leere und an dem Inhalt der bunten Mülltonnen kannst du ablesen, wie jeder seinen persönlichen Kampf mit der Leere austrägt. Populäre Bierbüchsen schmiegen sich dort an zerknickte intellektuelle Tabletten­hülsen, ihr Platz in der Tonne, der gelben, ist ihnen sicher.
Auch ich versinke gern ins Bewusstlose und brüte vor mich hin. Niemals ist dabei etwas herausgekommen. Nur manchmal setz ich mich auf und biege mir einen kleinen Angelhaken zurecht. Im Laufe der Zeit ist schon eine Sammlung zustande gekommen. Ganz selten packt mich der Übermut und ich werfe einen für gelungen befundenen aus. Zitternd vor Erregung warte ich.
Ich wollte dir das Karree zeigen. Sozialer Wohnungsbau, du verstehst, hier ist man nicht allein. Auch wenn man sie nicht sieht. Ob sie Karten oder ihre Schnitzel klopfen, ob sie „gleich das böse Wesen“ kriegen, wie man gelegentlich hören kann oder drohen „willst du das wirklich hören“. Ja, ich bin pervers, ich will das wirklich hören, warum sie das böse Wesen kriegen. Doch erst das, was nicht bis zu mir herüberklingt, das ist das wirklich Interessante. Die stillen Geschäfte der Nacht, von denen morgens die Scherben künden. Die Angst, die sie albträumen lässt, wie den jungen Arzt, der am nächsten Morgen ein junges Kind zu punktieren hat. Das, was das Leben ihnen nicht mehr gönnt, wie der Verwelkten, in deren Träumen der rothaarige Eisverkäufer den Ruf eines guten Liebhabers hat.
Ich bin unzufrieden.
Ich sehe ein Sandkorn, aber nicht das Muster im Sand.
Ich sehe eine unförmige Frau mit einem Pullover. Über den Äquator ihres Körpers geht ein breiter gelber Warnstreifen. Sie betrachtet sich wohlwollend in dem schmalen Spiegelglas eines Backwaren-Geschäftes, streicht über den Warnstreifen, dreht sich zur Seite, schlitzt die Augen, um sich schärfer oder schmaler zu sehen. Sie sieht durchaus zufrieden aus.
Ich sehe den Mann im grauschlappernden Jogginganzug am Feier­tag­vor­mittag aus der den Mittel­punkt einer Kreuzung markie­renden beton­eingefassten Blumenrabatte einige Rosen ausgraben und in eine Alditüte stopfen. Mit eingezogenen Kopf rennt er von der Kreuzung, von einem Ehepaar empört beobachtet. Nach einigen Schritten strafft sich sein Körper, er steckt lässig, trotzig, die freie Hand in die grauschlappernde Jogginghose, die andere schlenkert in sanfter Ampli­tude die eroberten Rosen seinem Garten entgegen.
Ich sehe den wiegenden Gang der Frau mit dem zu kurzen Bein. Auf und ab, auf und ab. Durch die wechselnde Perspektive sieht sie mehr als wir, die wir uns bemühen in einer Höhe makellos daherzuschreiten. Es kostet sie sicher mehr Energie, aber wer sagt, dass ihr Gang kein schöner sei?
Diese Menschenbilder Medaillons trag ich in mein Karree. Wo es keine ganzen Menschen gibt. Sphinxe sind es, deren Oberkörper, Köpfe oder einzelne Arme mit dem Staubwedel aus dem Fenster ragen, der Rest ist Haus. Draufsichten noch auf die Müllentsorger und Autobesitzer. Oder Verwechslungen. Den Briefträger mit unsern gelben Rosen, oder mit der gelben Tonne.
Auch wenn man sie nicht sieht, bekommt man Einblicke in die Welten der Mit­bewohner: Der über mir liebt eine Musik, die ich gerade noch so akzeptieren kann. Der unten rechts schläft lange, jedenfalls behauptet das ein Aufkleber an seiner Tür. Die unter mir sind mit ihren Kleinen Phillip und Luisa nicht immer zufrieden. Und wenn der im angrenzenden Haus zur Gitarre mit fordernder Stimme um Liebe ringt, öffnen sich neugierig Fenster, andere werden energisch geschlossen.
Die neben mir gehört zu jenen Frauen, die Bohr- und Schleif­maschinen emanzipiert handhaben. Ich verdächtigte sie, einen Schutz gegen mich und die Geräusche, die mein Leben macht, zu bauen. Ich habe sie gefragt: Was tun Sie da? Verschämt grinsend sah sie mit ihren ungerichteten Augen um mich herum und sagte: ich liebe das, das rohe Holz.
Ich wünschte mir, ich hätte auch so ein Laster. Tatsächlich sehe ich von meinem Fenster aus auf einen Hollunderbusch, der eben seine Soufflételler gutmütig serviert und warte auf einen Vogelruf, der wie eine Billardkugel von innen an das Gehäuse meines Körpers schlägt, auf der Naht zwischen Tag und Nacht. Manchmal hängt dann das Karree am Haken des Mondes – wie eine Blumenampel schaukelt es sanft hin und her. Ich hatte immer gedacht, dass ich in solchen Nächten allein bin. Doch einer, von dem ich nicht wusste, dass er zum Karree gehört, vielleicht, weil er in der Gründer­zeitzeile wohnt, sagte mir, als ich ihn in der Stadt traf, heut früh um fünf war Licht in deinen Fenstern. Das beun­ruhigte mich, weil ich seine Fenster, die er mir beschrieb, in der Fassade gegenüber nicht finden konnte. Ich wünschte, ich könnte mir zuschauen. Was ich früh um fünf mache. Ich weiß es nämlich nicht so richtig. Vermutlich lausche ich dem Lallen meines Blutes nach und horte für mein Hirn die ent­sprechende Menge Papier.
Am Morgen sind Schiefer­gebirge von Schorf abzutragen. Da kommt mir die Lottofee am Telefon, die sich die Frau Unger nennt, montagfrüh gerade recht mit ihrer Frage, ob ich gut geschlafen hätte. Sie kriegt einen Teil meines Schorfes in ihr zum Flöten geschürztes Telefon­maul.
Wohin geht meine Energie. In die Pflanzen nicht, die ich einst hoffnungs­voll ausgesät hatte. Deren Werden ich verzagt verfolgte. Sie verdorrten unter meiner Obhut, trotzdem ich sie regelmäßig goss. Ich kann mich nicht entschließen, sie ganz zu entfernen, fasziniert betrachte ich das Fort­schreiten meines Versagens. Die vertrockneten Blätter verwahre ich, vielleicht kann mein Haustier Phantasie irgendwann etwas damit anfangen, bei seinem wechselnden Appetit.
Du siehst, ich bin ein Teil des Karrees. Es ist der Humus, auf dem ich mit meinen Geschichten wachse. Und so werden sie auch: manchmal sehr stattlich, hochgebaut und reich verziert, andere intelligent geplant, mit vorwitzigen Vorsprüngen und spannungs­vollen Bögen, aber unter dem abgeplatzen Putz ist ihre Schönheit nur schwer zu erkennen. In manchen ist der Schwamm drin und einfach nicht raus­zukriegen, da kann ich nur alles bis aufs Skelett abkopfen, neu überlegen und die Arbeit von vorn beginnen, das schmerzt natürlich. Es ist mühsam, ist es aber geschafft, stellt sich auch Stolz ein.

 

Simone Trieder  10.06.2009   
Simone Trieder
Prosa
Reportage