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Nacht, Tag
Der, dessen Geschichte hinter diesem Fenster im Dunkeln lag, soll ein hagerer Graukopf gewesen sein, nicht so alt, wie man etwa annehmen möchte; seinerzeit, als er noch Platanenstraße 18 wohnte, vielleicht um die Vierzig.
Dass er anders war als andere, wusste meine Großmutter von der Krenkeln, die ihr gegenüber im zweiten Stock wohnte. Ansonsten ein stiller, unauffälliger Typ, den man selten zu sehen bekam. Dass man ihn im März 43 geholt hatte, war den meisten im Haus noch nicht einmal aufgefallen. Mehr wusste meine Großmutter auch nicht. Nur, dass er mit „itzky“ am Ende oder so ähnlich geheißen habe. Wer das Fenster vernagelt hatte, und warum – das wusste niemand. Geschichte ist zuweilen vergesslich.
In der Kastanie gegenüber herrscht reges Treiben; zwei Vögel streiten sich, vielleicht um einen Leckerbissen. Und oben, viel weiter oben, weit über dem ausladenden Wipfel der stolzen Kastanie – sitzt vielleicht jemand und schaut amüsiert auf sie herab. Vielleicht. Sehen kann ich ihn freilich nicht.
Was mag das für einer gewesen sein, an dessen Namen sich keiner erinnert? Man wird ihn wohl kaum „Itzky“ gerufen haben. Ein Mensch braucht einen richtigen Namen. Ich denke mir welche aus. Jakob vielleicht? Oder anders? Jeder, denke ich, könnte so geheißen haben. So oder anders.
Ich überlege, wie es wohl wäre, wenn es wem gefiele, dem Itzky, jenem Dunkel hinter dem vernagelten Fenster eines nicht einmal mehr existierenden Hauses, wenigstens seinen Namen zurückzugeben. Er müsste gar nicht viel tun, er müsste dazu lediglich ... die Geschichte umkehren.
Bis zu dem Punkt, da der Itzky ... seinen Namen verlor.
Ein Gerechter müsste das sein, denk ich, und das, was er da tut, wenn er der Nacht den Tag folgen lässt, dem Dunkel das Licht (und nicht umgekehrt) – gerecht wär's allemal. Wer eine Seele rettet ...
Ich stehe auf dem Balkon, schaue über den Platz, der Schopf der Kastanie wiegt sich leise im Wind; ich weiß nicht, wie lange ich schon hier oben stehe, die Sonne, hoch am Zenit, macht mich blinzeln, und mein Augenlicht mag mich trügen, mir vielleicht einen Streich spielen, aber ... Ich sehe, was ich sehe, und jeder, der daran zweifelt, dem werde ich sagen, so und nicht anders, genauso ist's gewesen:
Zuerst wird es dunkel. Dann wieder hell. Steine fügen sich zusammen, ein Stein zum anderen, sie ergeben ein Haus. Ein Abrisshaus freilich, das vor ein paar Jahren noch dürftig, mehr schlecht als recht, saniert wurde. Aber ein Haus. Platanenstraße 18.
Es ist ein sehr schöner Morgen. Die Kastanien, ich zähle insgesamt vier, beginnen zu knospen. Kein Wölkchen ist am Himmel zu sehen. Langsam nähert sich eine schwarze Limousine. Hält. Vor Haus Nr. 18. Drei Männer steigen nacheinander aus. Zuerst der, der neben dem Fahrer saß, ein Untersetzter; beim Aussteigen rutscht ihm der Hut ins Gesicht, den richtet er jetzt gerade, bevor er die hintere Tür öffnet. Ein kleiner drahtiger mit Brille, ebenso gekleidet wie der erste – steifer Hut, Ledermantel – steigt hervor. Dann ein Dritter. Das alles geschieht zügig und wie auf ein stilles Kommando, so als habe man den Ablauf vorher schon mehrmals geprobt.
Die drei laufen gen Hauseingang. Links der Feiste, der sich vorher mit einem Tuch die Stirn wischt, wahrscheinlich war die Fahrt lang und beschwerlich, rechts der Brillenträger, beide in Hut und Mantel; den anderen, der nur leicht bekleidet ist, haben sie in die Mitte genommen.
Unversehens schaut der, über seine Schulter hinweg, nach oben. Wer soll das schon sein, denk ich, zudem kann ich sein Gesicht nicht erkennen; er schaut mich an, aber ich – kann keinerlei Gesichtszüge ausmachen. Nein, denke ich, so einen kenne ich nicht. Einen ohne Gesicht.
Jetzt, da die Tür zum Haus sich hinter ihm schließt – er ging als letzter hinein, die beiden anderen ihm voran –, jetzt weiß ich es. Es ist Jakob. Jakob Itzky.
Ich stelle mir das so vor: Jakob Itzky kommt von einer Reise zurück. Woher er kommt, weiß ich nicht. Es gibt viele Orte, nach denen man sich auf den Weg machen, nach denen man eine Reise antreten kann; jetzt jedenfalls: kommt er zurück.
Die beiden anderen haben ihn begleitet. Damit er unterwegs nicht verloren geht. Auf seiner ... Reise? Auf seiner Reise.
In Nummer 18 ist an diesem Morgen fast keiner zu Hause, bis auf ein paar: die Krenkeln, die nur halbtags arbeitet, und eine Frau im Parterre, die jetzt durch den Türspion schaut.
Wie durch ein Fischauge sieht sie drei Männer die Treppen hinaufsteigen, der eine bleich wie der Tod, die anderen beiden mit todernster Miene. Als einer der Herren im Ledermantel, ich glaub, es ist der mit der Brille, sich nach der Tür umdreht, schreckt sie zurück; durch das Fischauge wirkt sein Blick wie der eines Insekts; die Frau schiebt das Metallplättchen über die kreisrunde Öffnung des Türspions zurück, macht eine bedeutsame Geste hin zu ihrem Mann, der achselzuckend hinter ihr steht, und lauscht den Schritten im Hausflur, die nach oben hin verhallen.
Im Treppenhaus hört man die Krenkeln aus halbgeöffneter Tür zu irgendwem sagen, sie habe es schon immer gewusst: was das für einer war. Aber „war“ stimmt nicht – er ist. In Sandalen und Morgenmantel kommt Jakob Itzky gerade die Treppen herauf, in Begleitung zweier Herren. Stufe um Stufe kommt man heraufgestiegen, die Köpfe sind schon zu sehen; der Feiste wirft einen Blick übers Treppengeländer, im zweiten Stock schließt sich die Tür. Jakobs Gesicht ist kreidebleich, als wäre ihm ein Schreck in die Glieder gefahren; doch er gibt sich gefasst, und er hätte vielmehr sogar Grund dazu, fröhlich zu sein, denn: Es geht ja nach oben.
Er nestelt nach seinem Schlüssel, die beiden Herren wirken ungeduldig, weil er ihn nicht gleich findet; ebenso mühsam ist es, das Schlüsselloch zu finden, dem Itzky zittern die Hände. Der Feiste kratzt sich den Kopf.
An der Tür steht natürlich nicht „Itzky“, sondern sein vollständiger Name. Ich recke den Hals, um einen Blick auf das Türschild zu erhaschen. Den Namen, denke ich, den Namen; den meine Großmutter vergessen hatte; und jetzt, wo er wieder da ist, der Jakob, da soll er den doch, und möglichst unbeschadet und vollständig, zurück haben. Er lässt sich nicht einfach aussprechen, freilich, es braucht etwas Übung darin, und beim Schreiben, da sollte man aufpassen; aber das ist noch kein Grund – ihn zu vergessen: Jakob Czernitzky.
Die beiden Herren, der Stiernacken und der mit der Brille, beide in Hut und Mantel, verabschieden sich; laufen polternd die Treppe hinab. Den Jakob, der etwas verwirrt dreinschaut, lassen sie stehen, wo er steht. Er steht in der halbgeöffneten Tür, unschlüssig, ob er hineingehen soll oder nicht, kratzt sich jetzt ebenfalls den Kopf und stößt einen tiefen Seufzer aus.
Und plötzlich – bin ich mitten in Jakobs Stube. Sie ist spartanisch eingerichtet: ein Wandschrank, auf dem ein paar Bücher stehen; eine Kommode, sie mag aus den 20er Jahren stammen, vielleicht ein Erbstück; an der Wand ein einsames Bild, eine Birkenlandschaft. In der Mitte ein Tisch. Daran setzt sich der Jakob.
Er stützt den Kopf in die Hände und denkt nach. An das, was er am liebsten vergessen möcht, denkt er. Er steht auf. Geht in der Stube auf und ab. Er versucht, an anderes zu denken, sich abzulenken, womit, weiß ich nicht. Er weiß es auch nicht. Es fällt schwer, nicht daran zu denken.
Jakob geht zum Fenster, schiebt die Gardine ein wenig zur Seite und schaut zur Straße hinab. Dort ist alles ruhig. Die beiden Herren längst weg. Denk nicht mehr dran, spricht er zu sich, was geschehen ist, ist geschehen.
Sein Gesicht kann ich nicht richtig erkennen, es ist zu dunkel im Raum; ich könnte also, wollte ich sein Gesicht näher beschreiben, nicht viel dazu sagen.
An vieles denkt er. Was war. Was ist. Was kommen mag.
Die Bilder sind unscharf, als wäre da bisweilen sogar ein Loch. Vielleicht hat er auch manches vergessen. Es geht auf Mitternacht zu.

Er gäbe viel darum, sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, ihn möglichenfalls durch einen anderen zu ersetzen; allein, es gelingt ihm nicht; er muss immer wieder daran denken. Daran, was Paul Grünwald ihm neulich erzählt hat.
Es gibt zwar noch immer welche, die's noch nicht recht glauben, aber Paul hat es gesehen, mit eigenen Augen. Er hätte es auch anderswo sehen können, andernorts, in einer anderen Straße einer anderen Stadt, was manche noch immer für Unmöglich halten; aber möglich ist alles, und was er gesehen hat, hat er gesehen. Genau daran muss Jakob denken, der Gedanke lässt sich so leicht nicht verdrängen.
Eine tiefe Stirnfalte ist unter flackerndem Licht auszumachen. Jakob stützt den Kopf in die Hände; nur seine Hände sind jetzt zu sehen. Und die senkrechte Stirnfalte.
Eines Tages werden sie es: Vor seiner Tür stehen. Er weiß das von Paul Grünwald. Mögen sie sein wie sie wollen, sagt Paul, aber eines sind sie: gründlich. Die Uhr zeigt viertel vor zwölf.

Jakob steht auf. Er langt sich ein Buch von dem Wandschrank, blättert darin, stellt es zurück. Dann ein anderes. Er wiegt es, erst in der einen, dann in der anderen Hand; schließlich geht er damit zum Tisch, setzt sich. Ab und an, wenn er zur nächsten Seite blättert, tut er einen tiefen Seufzer; das geht vielleicht eine halbe Stunde so, vielleicht länger, ich weiß es nicht. Dann legt er das Buch beiseite und starrt vor sich hin.
Woran mag er jetzt wohl denken? Ob er vielleicht daran denkt ...? Vielleicht auch nicht; aber eine Überlegung wär's schon wert. Denke ich. Er denkt also daran, ob er ihm zur Seite stehen wird, wenn... Daran denkt er jetzt.
Ich stelle mir das so vor: Es klopft an der Tür; zuerst hat er es gar nicht gehört, weil er in seine Lektüre vertieft war, also klopft es ein zweites Mal, jetzt schon energischer. Es klopft; wer draußen steht, wir wissen es; Jakob geht zur Tür, öffnet den beiden Herren, die er namentlich nicht kennt, aber sie ihn; der eine stellt seinen Fuß in die Tür, der andere sagt: Mitkommen. Mehr sagt er nicht; nur, mitkommen. Jakob sagt nichts.
Und in diesem Moment spürt er, wie einer ihm auf die Schulter klopft. Nein, es ist keiner der beiden Herren, die er doch gar nicht kennt. Es ist der, den er in unzähligen seiner Gebete angerufen hat, der ist es. Der klopft ihm also auf die Schulter und sagt: Hab keine Angst.
Vielleicht sagt er auch: Der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, ist bei dir.
Nein, das sagt er nicht. Und auf die Schulter klopft er ihm auch nicht. Denn er – hat weder Hände, noch ein Gesicht, keinen Mund, der Worte formt, so wie diese. Jakobs Glauben verbietet es ihm, in Gott ein menschliches Antlitz zu sehen, verbietet es, sich ein Bild des Menschen als Abbild Gottes zu machen. Macht das ihn so anders? Ihn, Jakob?
Es klopft. Jakob steht auf, geht zur Tür. Seine Knie zittern. Jedes Mal, wenn es an der Tür klopft, fährt ihm der Schreck in die Glieder. Vielleicht ist es ja nur der Nachbar, denkt Jakob, der sich ein paar Stücken Würfelzucker ausleihen will. Um diese Uhrzeit?
Er öffnet die Tür, sieht hinaus; aber da ist keiner. Der Schrecken in Jakobs Gesicht weicht. Er schüttelt den Kopf, geht zum Tisch, setzt sich.

Die Morgensonne schaut durch den schmalen Schlitz zwischen Vorhang und Fensterkreuz zum Fenster herein, wirft einen Streifen auf Jakobs Hände, die vor ihm auf dem Tisch liegen, darunter das Buch, da hat er sie draufgelegt, als ob er's behüten wollte, wovor auch immer.
Ganz ruhig sitzt er auf seinem Stuhl, Jakob Czernitzky, ein Mensch, wie jeder andere auch; ich ihm direkt gegenüber. Und jetzt, wo er einen Namen hat, hat er auch ein Gesicht. Augen, Nase, Stirn. Was zu so einem Gesicht eben dazugehört. Und Hände hat er, die er manchmal – auch zum Reden benutzt. Auch wenn er, seit er wieder zu Hause ist, noch kein einziges Wort gesprochen hat, weder als er die Treppen heraufkam, in Begleitung zweier Herren – das alles geschah wortlos-, noch, seit er da sitzt, wo er sitzt, mir direkt gegenüber; man muss eben, was man nicht sehen kann, noch hören, sich wenigstens vorstellen können. Ansonsten müsste man sich den Vorwurf gefallen lassen, man sei blind und taub. Warum soll er also, auch wenn er bisher kein Wort gesprochen hat, deswegen gleich stumm geboren sein?
Ganz still ist's im Raum, Jakob sitzt da und schweigt, und wie er da so sitzt, und ich ihm direkt gegenüber, da denk ich: Jeder könnte so ein Gesicht haben. Augen, Nase, Stirn. Eine Stirn, hinter der Gedanken kreisen. Wenn er denkt, zieht er die Stirn kraus, seine Augenbrauen bewegen sich dann etwas nach oben, die eine etwas mehr als die andere. Jakob sitzt da, die Hände verschränkt, ein leises Lächeln spielt um seinen Mund. Viel ist es nicht; aber ein Lächeln.
Was geschieht ist vorzeiten geschehen und was geschehen wird, ist auch vorzeiten geschehen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. So steht es beim Prediger Salomo geschrieben. Vorher, nachher, denkt Jakob. Hinterher ist man immer schlauer. Jakob schüttelt den Kopf.
Du musst nach vorn denken, spricht Jakob zu sich. Egal, was nachher noch kommt. Nach vorn.

Tom Schilling   31.10.2006

Tom Schilling
Prosa