Metro Manila
Durch deine Stadt kann man nicht gehen.
Man durchfährt sie: langsam, stockend, chaotisch.
Mit dem Trycicle, dem Jeepney oder dem klimatisierten Auto, dessen Scheiben abgedunkelt
sind und dessen Türen sich automatisch verriegeln, wenn man den Motor startet.
Es ist nicht meine Stadt, einfach nur eine.
Eine, in der ich zufällig wohne.
--- ja, es ist meine stadt und ich durchfahre sie täglich, wenn ich zu dir
komme. mit dem jeepney, dessen fenster keine scheiben hat und in dem es heiß ist
wie in einer blechbüchse. mein taschentuch halte ich mir vor die nase, um die abgase
wenigstens ein bißchen zu filtern. für den heimweg gibst du mir manchmal extra
geld, damit ich mit dem taxi fahren kann. vor deiner tür steige ich in dieses auto,
das mir zu teuer ist, denn ich will dich nicht kränken. an der ecke steige ich aus
und suche die nächste bushaltestelle. von dem taxigeld kann ich einen ganzen sack
reis kaufen, soll ich das einfach verfahren? ---
Dieser Moloch ist groß, schmutzig und laut. Unermesslich reich und zugleich
unendlich arm. In dieser grellgrauhellen Stadt sieht man fast nie die Sonne, man erahnt
sie nur über der Kuppel aus Smog. Die Menschen vermummen ihre Gesichter und
öffnen Schirme, weil unsichtbare Sonnenstrahlen gnadenlos die Haut verbrennen.
--- wie farbenfroh diese schirme sind. manche sind knallrot, an manche wurden
kleine spitzengardinen gehäkelt und einige sind bunter und prächtiger als das
schönste korallenriff unter wasser. sieh nur, wie zierlich und elegant die frauen
unter diesen schirmen trippeln: kleine schritte, fuß vor fuß. und schau, der
verkäufer dort an der straßenecke, direkt unter dem mangobaum mit den prallen,
gelben früchten: wie er seine machete schwingt, um die grüne kokosnuß zu
zerteilen. ich muß lachen, wenn ich sein vermummtes gesicht sehe und dann mein
blick hinabwandert zu seinem nackten, braunen bauch, freigelegt von dem bis unter die
arme hochgeschobenen shirt. ---
Deine Stadt ist keine. Sie ist eine Ansammlung von Dörfern, durch die man nur
fahren darf, wenn man dort wohnt oder dafür bezahlt hat. Sticker an der Autoscheibe
sind die Eintrittskarte. Wer kein Geld hat, muss außen herum. Unter Umständen
muß er um viele Dörfer außen herum und erreicht vielleicht erst abends
das Ziel, zu dem er morgens aufbrach.
--- du hast es immer eilig. an orten, an denen die sonne brennt und die luft dir
mit ihrer feuchtigkeit den atem nimmt, muss man langsam sein. in allem. wie oft habe ich
dich bei ausflügen am arm gezogen und dein tempo reduziert? wie oft dich beruhigt,
wenn dich die langsamkeit der lieferanten, handwerker und dienstboten schimpfen
ließ? hitze und schnelligkeit - das geht nicht zusammen. ---
Turm steht neben Turm in dieser Stadt, hoch bis in den dreißigsten Stock.
Manchmal sogar höher - für einen Sprung von der ungesicherten Plattform reicht
es allemal. Unten drücken sich die Squatter auf den Boden und drängen
aneinander, teilen sich eine Wand.
Eine Stoffplastikholzkartonwand. Eine von drei Wänden unter einem
Wellblechdach.
--- ich habe sogar eine kleine wohnung. sie liegt direkt über einer
bäckerei und jeden morgen dringt der herrliche duft frisch gebackenen brotes in
meine nase. und ich habe einen ‚Landlord', der ständig die miete erhöht.
er scheint es zu riechen, wenn du mein gehalt aufstockst. vielleicht merkt er es auch
daran, dass mehr und mehr cousins vorbeischauen und um hilfe bitten. ich bin immer
pleite, teile alles, sobald es in meine hände gelangt. mehr hab' ich nicht!
---
'Intra muros' heißt der Kern dieser Stadt. Spiegelbild einer Geschichte, in der
lange Zeit nur Fremde den Ton angaben: Spanier, Japaner, Amerikaner - auch Deutsche,
Franzosen und Chinesen stimmten ein in diesen Kanon.
--- mein land ist nach einem europäischen könig benannt. es besteht aus
über siebentausend inseln und sie sagen, es leben einhundertundelf stämme hier.
was willst DU eigentlich? dass WIR etwas fordern? was denn zuerst? wir sind ein volk aus
vielen. eines, das sich kaum verständigen kann in der offiziellen landessprache und
ausweicht auf ein gemisch von tagalog und englisch: taglisch. wo soll es denn herkommen,
dieses WIR? wir waren ja nie unter uns. ---
Ich folge den letzten Schritten des Jose Rizal, den Fußspuren aus Messing, die
in den Boden eingelassen wurden. Sie führen vom Verlies bis zum
Hinrichtungsplatz.
--- 'nole me tangere! - rühr mich nicht an!' ---
...
--- meine familie ist das allerwichtigste. sie ist groß und ich trage
verantwortung für sie. ich gebe zu, je mehr ich erreiche, je mehr geld ich habe oder
einflussreiche Freunde, desto größer ist mein ansehen. das tut mir gut,
schmeichelt mir. aber es ist auch pflicht. ich muss schauen, dass meine eltern zu essen
haben und ich will, dass meine schwester zur schule geht. politik? siehst du denn nicht,
dass die politiker auch familie haben? ---
In dieser Stadt gibt es kaum Ausweise. Neugeborene werden nicht registriert und
Menschen sterben, ohne dass die Welt von ihnen erfuhr. Babies ertrinken in
Abflußrohren, weil die Eltern in Brückenpfeilern wohnen. Kinder und junge
Frauen werden von Touristenhänden zerdrückt. Menschen ohne Dach, die auf
Grasstreifen schlafen und in Kloaken baden.
Eine Decke, zwei Plastiktüten und acht Kinder. Ausgemergelte Kleinkinder schieben
sich zwischen den Autoschlangen hindurch und verkaufen Blumenketten, Tücher und
einzelne Zigaretten.
--- mein blick verfängt sich in den sqatterfenstern, in denen die bügel
mit der frisch gewaschenen wäsche hängen. ganz gerade gezogen und ohne falten
schwingt ein hemd neben dem einzig anderen, eine hose neben der geflickten nächsten.
sogar aus den bäumen um die leute, die nur ein grasstück am straßenrand
ihr zuhause nennen, grüßen mich diese farbtupfer.
hast du mich je verschwitzt erlebt? je gesehen, dass ich ungepflegt zur arbeit kam? sei
ehrlich, mein langnäschen ... wie oft gehst du eigentlich unter die dusche?
---
In dieser Stadt gibt es Leute, die fünf Autos brauchen und haben. Es gibt
Häuser, die gigantisch sein müssen, weil man Abstellplätze für die
fünf Autos braucht. Sie müssen so groß sein, weil man auch Platz braucht
für fünf Chauffeure. Und für den, der die Wagen bewacht. Für die
Maids, die nicht nur für die Wagenbesitzer sorgen, sondern auch den Chauffeuren in
der dirty kitchen den Curryreis zubereiten. Auf der Toilette hängt der Schinken in
Öl.
--- ja, diese leute mit den gigantischen häusern und palästen, den
haziendas, den feriendomizilen und den vielen autos gibt es. es gab sie schon immer. sie
stellen nichts in frage. warum sollten sie? luxus und macht - genießen und
missbrauchen. kann man das trennen? manche dieser leute hauen dir das bügeleisen ins
kreuz und manche sind richtig nett. freundlich und großzügig. was sagst du?
‚ungleichheit der verteilung'? ich muss lachen! ---
In deiner Stadt sind alle fromm.
Laß uns reden!, sagt Gott. Wohin gehst du?, fragt Gott.
Das steht auf den großen Reklametafeln, die die Schnellstraßen säumen.
Die Antwort gibt es in der Kirche von den Männern mit der reichbestickten Soutane,
die auf keinem Empfang fehlen und bei jeder karitativen Spende applaudieren. Okay, okay,
bleiben wir fair - es gibt auch die anderen.
Spenden aller Art - sollen wir es freundlicherweise so nennen? - sind in dieser Stadt
sowieso beliebt. Die Geschäftsleute spenden, die Beamten spenden, der Einzelne, die
Gruppe. Man spendet untereinander hin und her. Hin und her.
--- spenden? es sind geschenke. wer mir einen gefallen tut, bei dem bedanke ich
mich mit einem geschenk.
wenn ich von jemandem etwas erbitte, dann tauche ich doch nicht ohne eine tüte obst
bei ihm auf. ist das denn in deinem land anders? ---
Fast alle, die Schuhe haben und ein sauberes Hemd, gehen zur Messe. Sie kleben sich
das Heiligenbildchen in die hinterst geschützte Ecke des Loches, in dem sie hausen
oder über das Himmelbett, in dem sie schlafen. Jesus liebt euch! Die Kirche wird es
schon richten. Wer das nicht glaubt, wendet sich einer der vielen Sekten zu. Über
den Zehnten freuen die sich.
--- die religion ist unsere hoffnung und unser trost. ja. jesus liebt uns und
segnet jeden neuen tag - da kannst du lästern, so viel du willst. ich weiß,
dass mein sektenführer dein nachbar ist. sein haus ist sogar noch größer
als deines. er nimmt mich aus, sagst du? nein, er lindert meinen schmerz. wenn ich
samstags zu diesem riesenplatz pilgere, auf dem schon zehntausende meiner freunde
versammelt sind, wenn wir an einem der vielen stände ananassaft kaufen, gemeinsam
kerzen entzünden und seinen worten lauschen, dann erfüllt mich eine solche
freude, dass es mir völlig egal ist, in welchem haus der bruder wohnt. wir sind so
viele. kann es denn sein, dass wir alle nicht wissen, was wir tun? ---
Viele sagen, dass sie es schon richten werden. Man hat Pläne. Irgendwann. Bis
dahin richten sie erst einmal die eigenen Geschicke. Und die der Vettern und
Cousinen.
In dieser Stadt gibt es lauter Mauern. Es wird abgegrenzt und ausgesperrt. Oder
eingesperrt? Und es gibt Gewehre überall. Sicherheitskräfte, die alles
bewachen, was sich bewachen läßt. Leere Areale, bewohnte Grundstücke,
Schulen, Geschäfte und Banken. Und Menschen. Irgendwann, wenn alles gerichtet ist,
braucht man sie vielleicht nicht mehr, die Guards.
Vielleicht.
In der Mittagspause wird geschlafen. Siesta! Man trifft sich zur Marienda. Egal wie
wenig, aber gegessen wird fünfmal am Tag. Gekocht wird notfalls auf der
Straße. Ein Feuerchen mehr oder weniger fällt nicht auf.
--- marienda! gibt es etwas köstlicheres als in zucker gedrehte, frittierte
bananen? ---
In der Freizeit geht es in die riesigen Shopping-Malls, auch ohne Geld. Mallen - ein
Verb, das es nur hier gibt. In der Hand das Handy, das man blind bedienen kann.
Künstliches Licht, künstliche Luft und lautes Gedudel. Vor den
Karaoke-Maschinen ist kein Weiterkommen. Ich bleibe stehen und staune. Alle können
singen. Alle können tanzen. Warum eigentlich?
Wenn Sturm über die Stadt zieht,
weiß ich, dass er die Straßen überflutet und Barackenwände mit sich
reißt. Er wühlt im Meer und dreht die Boote um. Er ist laut und wild und
gefährlich.
+++ Wenn Sturm über die Stadt zieht, öffne ich die Türen zur
Straße und stelle mich in den prasselnden Vorhang, den er vor alles schiebt. Wie
mit spitzen Nadeln sticht er in die nackte Haut, dringt durch die Kleidung und in jede
Pore.
"Schrei doch!", ruft der Sturm, "es hört dich keiner."
Aber ich schreie nicht. Beide Arme hebe ich, strecke sie ihm entgegen. Ich lege den Kopf
in den Nacken und halte ihm mein nasses Gesicht hin. Der Regen gleitet über mich,
strömt an meinem Körper hinab bis er von meinen Füßen aufs Pflaster
rinnt. Ich höre das Donnern, Blitze dringen durch die geschlossenen Lider und meine
Zunge leckt über die Tropfen auf meinen Lippen. Ganz still stehe ich da, sauge all
diese Kraft in mich ein und bin inmitten des Tosens und Lärmens daheim. +++