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Wilhelm Bartsch

Die alte Marke „Wanderer“

Mein Großvater schnallte das Kissen auf den Gepäckträger
des „Wanderer“-Damenfahrrades, er sagte: Nun schwing dich
hinauf! Es war ein rußschwarzes Klettergerüst
hoch zum Fahrtwind, ein Eisenzeitmonster, ein Sicherheitsnetz
überspannte das Hinterrad noch und verkleidet waren
mit Blech die krachenden Ketten, der Lenker war mächtig
wie Auerochshörner, man radelte aufrecht den Wind an
auf den kleinen Weltreisen. Denn immer, wenn Großvaters Baß
sich lauthals erleichtert hatte im Chor der Altlutheraner
am Tage des Herrn – fuhr er mich stets durch Himmel und Hölle
der Welt. – Heut zeig ich dir Wasser, Wilfried! so sprach er
zum Beispiel, das fließt von unten nach oben! – Ich liebte
den Springquell voll märkischem Blutsand als Edelsteinwäsche
und nasses, stummes Feuerwerksspiel. Wir stiegen
oft ab, ich liebte die Bunker so bleich, die Knochen so grün
und Rost und geschwärzte Mauern in Kuckuckslichtnelken,
den Eisendrahtstumpf in den Kuscheln, den Großvaterfreund,
dem links in der Tasche sein eines Hosenbein und da drin,
unendlich gespiegelt in sich, die Henry-Milchbonbonschachtel
stets steckte. Vor mir steht oft wie ein Knacken des Rücktritts
die Kindheit, von Halt zu Halt mit dem „Wanderer“ urbi
et orbi. Und wie ein lebendiger Fels wogt noch vor mir
der gewaltige Großvaterhintern, ich hielt mich und strippte
die wogenden Stahlfederzitzen da unterm Sattel.
Und wie stahlblaue Milch scharf am Eimerrand klingelt,
so molk ich die Welt, von einem Ort zu dem andern,
und Großvater butterte zu mit kurbelnden Füßen.

 

Wilhelm Bartsch   03.07.2007

Wilhelm Bartsch
Texte | Gedichte