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Literatur und Lesen
Umfrage
»Was liest du gerade?«
Gespräch Literatur und Lesen |
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Der „poet“ stellte Autorinnen und Autoren zwei Fragen zum Thema Lesen.
Gespräch in poet nr. 18
1.
poet: Wie wird die nächste Generation lesen?
Josefine Rieks: Mit den Augen.
Ron Winkler: Es ist vorstellbar, dass Tiefenlektüren etwas Geheimbündnerisches haben werden. Leseclubs als säkulare Klöster der Wenigen: der Neugierige und Eskapisten, der Phantasten und Analysewilligen.
Wenn ich zwei Generationen weiterdenke: Vielleicht ist Lesen dann schon Teil eines Hypnose-Erlebnisses. Oder man kann mit dem Lesegerät über seine Erfahrungen diskutieren.
Marcus Roloff: Ich hoffe, sie tut es überhaupt. Ich sehe mich an und bemerke, dass die Wirklichkeit immer mehr verpixelt. Das ist erst mal nichts Schlimmes, sondern nur die Geschwindigkeit Erhöhendes. Das aber setzt bei mir die Konzentrationsfähigkeit herab, ich konnte mich schon als Kind nie lange auf eine Sache konzenytrieren. Die Nachricht, der Tweet, der Post treten an die Stelle der verewigenden Schau, der Kontemplation, des versunkenen Brütens über den Welträtseln. Mich legt diese sich furchtbar profanisierend in jeden Lebensbereich hineindrückende digitale Gleitcreme lahm. Überall auf Gorillaglas glotzende Leute, in jedem möglichen und unmöglichen Augenblick zieh ich selbst das Smartphone raus, um zu checken, was es Neues gibt. Diese völlig leerlaufende, sich selbst fütternde Gier nach Neuem.
Aber das Buch gibt mir Halt, wenn auch oft nur in Gedanken. Ein analoges Ding. Seine jahrhundertealte Ruhe. Bücher und Museen – die beruhigen mich. Und auch das Starren auf meine Bibliothek, meine ruhig dastehenden Buchrücken. Weil ich alle Töne meines Smartphones abgestellt habe, hilft es nichts, ich muss es wieder aus meiner rechten Hosentasche ziehen und mich in der Dunkelheit des Winterabends vom eiskalten Displaylicht beleuchten lassen.
Antje Heuer: Jetzt braucht man sogar schon zum Lesen eine Batterie, hat ein Freund bedauert. Doch in welchem Umfang auch immer die nächste Generation mit Akkus lesen wird, das Bedürfnis nach echten Büchern wird bleiben.
Margret Kreidl: Die nächste Generation gibt es nicht. Deutschland und Österreich gehören zu den europäischen Ländern, in denen Bildung und Leseverhalten am stärksten sozial vererbt werden. Kinder aus bildungsfernen (wie es heute so treffend heißt) Schichten lesen weniger und anders als Kinder aus bildungsbürgerlichen Schichten. Hartz-IV-Kinder, Kinder von MigrantInnen, von Alleinerzieherinnen usw. haben nur in Ausnahmefällen, durch Glück und Zufall, Zugang zu einer Welt vielfältiger Lektüren. Ich weiß, wovon ich spreche als Kind eines Hilfsarbeiters. In Zukunft wird sich diese Spaltung noch verschärfen: Die Kinder der Armen als Ramsch- und Schlagzeilenleser, für die Erben der Leistungsträger eine reiche Auswahl an bibliophil ausgestatteten Büchern: ein Kanon des Wahren und Schönen, mit dem man sich vom Plebs absetzen kann.
Markus Hallinger: Vor einigen Tagen erklärte in einer Kultursendung des Bayerischen Rundfunks (BR2) ein Romanautor, dessen Name mir entfallen ist, jedes Buch als nicht lesenswert, in dem auf den ersten Seiten nicht etwas ganz Besonderes geschehe. Er meinte Action und ging sogar so weit, Bücher, die sich in Orts- oder Personenbeschreibungen ergössen, sofort wieder aus der Hand zu legen. Der Moderator, ohne nachzuhaken, ergab sich in Zustimmung. Kultursendung wohlgemerkt und Autor. Ähnliches war vor Kurzem in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: Der deutsche Roman könne Story nicht, Langweile.
Sicher, diese Auffassungen sind nicht gerade neu, zeigen aber doch, wo der Hase mit der Literatur hinläuft, eigentlich längst hingelaufen ist: Lesen als Mittel zum Kick. Literatur als Teil der Erregungs- und Aufregungskultur, und damit in Konkurrenz mit Fernsehen und Internet. (Ein Wettbewerb, den sie nur verlieren kann). Jeder aber, der vor dem Internetzeitalter und dem Privatfernsehen mit Büchern aufgewachsen ist, weiß, dass Lesen etwas anderes ist. Echtes Lesen setzt voraus und lehrt, was heute gesellschaftlich als unerwünscht oder als Anachronismus angesehen wird: Langsamkeit – die Fähigkeit, sich mittreiben zu lassen und die Fragen und Schicksale, die in Büchern gezeigt werden, sich zu eigen zu machen. Gibt es die noch, frage ich mich, die nächtelangen Gespräche über Literatur und Leben, wie ich sie aus meiner Jugend kenne, über Albert Camus, Christa Wolf, Hermann Hesse? Ich zweifle. Literatur als Erkennungsmerkmal, gerade in der Jugend, die Frage unter Freunden »Was liest du gerade?« – wie oft gibt es das noch?
2.
poet: Wenn man bedenkt, dass Bücher oft wichtige Denkanstöße gaben – welche Auswirkungen hätte das Ende der Lesekultur auf die Gesellschaft?
Josefine Rieks: Wenig. Die Lesekultur spielt schon in der Gesellschaft, wie sie jetzt ist, keine Rolle mehr. Was auch daran liegt, dass das meiste, was es zu lesen gibt, keine Rolle spielt und eine Entspannungsvariante auch keine gesellschaftliche Rolle spielt, denn die ist durch ein Bad ersetzbar oder ein angeleitetes workout. Wer trotzdem liest und anders liest, wird das als derselbe Nerd, der er jetzt schon ist, auch weiterhin tun (außer es wird, per Überwachung kontrolliert, verboten). Und auch Ingeborg-Bachmann-Preise kann es weiterhin geben, wie es das Reichstagsgebäude weiterhin gibt. Lesen stand einmal, wie jede Kunstrezeption, außerhalb eines wirtschaftlichen oder selbstmodulierenden Zwecks, für einen Wert, der sich nicht in die Logik des Nutzens einordnen lässt und darum etwas mit Freiheit zu tun hat. Das ist längst nicht mehr so, und wird auch nie wieder so sein.
Marcus Roloff: Ein Ende der Lesekultur sehe ich nicht. Und wenn es die BILD-Zeitung im ePaper-Abo-Format ist, die überlebt, und wenn es die flackernden Werbeanzeigen sind, die wir lesen, um das nächste Schnäppchen nicht zu verpassen, die runzlig und rostig daystehenden verybeulten Straßenschilder und Digitalanzeigen der Uhrzeiten und Buslinien – gelesen wird das alles werden. Die Besserverdiener werden mit ihren Tablets hantieren, irgendwas Kanonisiertes beäugen, ansonsten nur Zahlenkolonnen konsumieren. Literatur wird so eine Art Schmuck werden, den man sich umhängt. Absolut ohne jeden Denkanstoß, vollkommen ohne Wirkung, nur als Geschwätzvorlage der Besserverdiener. Aber das ist ja schon jetzt so.
Sarah Jane Ablett: Ein Ende der Lesekultur sehe ich nicht. Es wird mehr gelesen. Werden Bücher gelesen? Ja, auch das. Den für Deutschland so typischen Kulturpessimismus halte ich für überzogen. In den USA und Großbritannien haben Autoren wie David Mitchell oder Greig Taylor längst das digitale Storytellingpotential in Form von twitter-fiction, micro-narratives etc. für sich entdecken können. Um allerdings auf einem solchen Niveau agieren zu können, müssen Menschen eine Ausbildung im Wahrnehmen, Lesen und Nachdenken erfahren haben, sie brauchen Räume dafür und vor allem Zeit. Ein reflektierendes Bewusstsein: Informationen ≠ Fakten, Informationen = Möglichkeiten.
Margret Kreidl: Wo ist von Literatur die Rede?
Geben Ratgeber wichtige Denkanstöße?
Wer lernt Gedichte auswendig?
Wer nimmt sich Zeit zum Träumen?
Welche Seiten werden aufgezogen?
Lesen Sie im Gehen?
Wie kommen Sie zu Ihrem Happy End?
So viele Bücher. So viele Fragen.
Antje Heuer: Auch elektronisches Lesen kann natürlich wichtige Denkanstöße geben, es bedingt nur einfach eine Lesekultur anderer Ausprägung, die gut neben der traditionellen existieren kann. Ich gehe davon aus, dass sich Ideen sowie Differenziertheit und Präzision des Denkens bei jeder Art des Lesens entwickeln lassen. Eigenständiges Denken wäre durch ein Ende des Lesens gefährdet, nicht aber durch die Änderung der Art des Lesens. Ein Ende des Lesens selbst sehe ich nicht. Das Wegbrechen traditioneller Lesekultur zieht wirtschaftliche Veränderungen nach sich und den Verlust bestimmter sinnlicher und praktischer Qualitäten, einen Verlust damit an Unmittelbarkeit. Das Über-den-(konkreten)Einband-Streichen, die handschriftliche Widmung auf Seite fünf, der optisch wahrnehmbare Lesestapel für die nächsten vier Wochen, die Möglichkeit des Weiterverschenkens. Das Gespräch mit dem kauzigen Buchhändler in einer fremden Stadt, dessen persönlicher Empfehlung man sich nicht entziehen kann und dessen Buch einen (auch gegenständlich) begleiten wird.
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