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Werden Gedichte wie Häuser gebaut?
Essay |
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»Ein Gebäude bedarf
keines Reiseführers.« |
Werden Gedichte wie Häuser gebaut?
in meinem kleinen Essay möchte ich große Fragen behandeln, die manch einer für unbeantwortbar hält. Es sind drei an der Zahl: Erstens, was ist ein Gedicht? Zweitens, wie wird ein Gedicht gemacht? Und drittens, was will ein Gedicht?
Natürlich ließe sich ausweichend – und einigermaßen wichtigtuerisch – antworten: Ein Gedicht ist ein Gedicht ist ein Gedicht. Jedes Gedicht wird anders gemacht. Und das, was ein Gedicht will, ändert sich von Gedicht zu Gedicht, insofern ein Gedicht überhaupt etwas will. Solche Relativierungen waren denn auch tatsächlich eine zeitlang in Mode. Ihr Nachteil ist freilich, daß sie die Parameter, mitunter die Grundlagen der Dichtkunst verwässern, wenn nicht gar negieren. Angesichts dieser möglichen hohen Verluste, habe ich keine Angst vor dem Vorwurf, eine normative Poetik entwickeln zu wollen. Geht es mir doch weniger darum, anderen etwas vorzuschreiben (wozu ich, nebenbei bemerkt, auch gar nicht die Macht besitze), als vielmehr darum, cum grano salis so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, um überhaupt über Lyrik sprechen zu können. Denn schließlich existiert Poesie ja nicht erst seit fünfzig Jahren, sondern darf auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken.
1. Was also ist ein Gedicht?
Jede Kunst hat ihr Ausgangsmaterial. Das Material der Poesie ist die Sprache. Ein problematisches Material. Denn einerseits ist der Personenkreis, der eine Sprache beherrscht, stark eingeschränkt, zumal einzelne Ausdrücke mit der Zeit semantisch mutieren. Andererseits wird die Sprache allgemein verwendet, und zwar nicht in poetischen Zusammenhängen. Ihre menschliche Nutzung ist wesentlich inflationärer als die von Stein, Holz, Farbe oder Klang. Es bedarf schon eines gewissen Muts, dieses millionenfach gebrauchte und mißbrauchte Material zur Basis einer Kunst zu erklären, das heißt, sie auch ein ganzes Stück weit von ihrem Alltagscharakter abzugrenzen.
Aus diesem Material fertigt der Dichter ein Objekt, auf eine ganz ähnliche Weise, wie der Bildhauer aus Ton eine Figur modelliert. Und dieses Objekthafte, Dinghafte der Dichtung ist bereits im Begriff »Poesie« angelegt, denn » poein« heißt »machen«, »herstellen«. Damit aber das entstandene Objekt hält und nicht gleich wieder verbröckelt, ist einerseits Kenntnis des Materials, andererseits Übung im Umgang mit ihm erforderlich. Oder anders gesagt, theoretisches Rüstzeug und praktische Erfahrung.
Zur Kenntnis des Materials gehört vor allen Dingen das Wissen um seine Eigenschaften und Wirkungen. Zum Beispiel weiß der Dichter, daß Sprache ein sehr sprödes Medium ist. Wörter lassen sich nun einmal nicht vollkommen losgelöst von ihrem »normalen«, herkömmlichen Gebrauch verwenden. Sie haben einen festen Bedeutungskern, der sich nicht willkürlich abwandeln läßt. Sie stehen in strengen syntaktischen Strukturen, folgen einer genau definierten Logik. Das ist das, was gegeben ist. Auf der anderen Seite kann Sprache sehr plastisch sein. Sie besitzt einen Klang, sie besitzt einen Rhythmus als ungeahnt starkes Potential. Sie ist in der Lage, zu Bildern zu gerinnen, die sich scheinbar von selbst im Bewußtsein entfalten und dem Gedächtnis einprägen. Während der Alltag, mündlich wie schriftlich, hauptsächlich auf Bedeutungen setzt, verlagern Poeten den Akzent hin zu den sinnlichen Schichten der Sprache, wie eben Klang, Rhythmus und Bild, und hebeln so mit geballter Konkretheit die gesellschaftlichen Abstraktionen aus.
Zum praktischen Umgang aber zählt die Beherrschung von oftmals tradierten Verfahren und Handgriffen, um dem sprachlichen Material die genannten Wirkungen überhaupt entlocken zu können, und zwar gemäß der künstlerischen Absicht.
Wird sprachliches Material mit Kenntnis seiner Eigenschaften und Wirkungen in einer künstlerischen Absicht gewissen Gestaltungsprozessen ausgesetzt und so zu einem Objekt verarbeitet, ist dieses Objekt dann ein Gedicht.
2. Wie wird ein Gedicht gemacht?
Zunächst einmal ist es wichtig festzustellen, daß es gemacht wird, nicht etwa geschrieben. Die Frage, wo genau der Unterschied zwischen einem Gedicht und einem anderen Text liegt, ist eigentlich falsch gestellt, denn Gedichte sind keine Texte. Der Text ist nicht mehr als eine Möglichkeit der Konservierung und entspricht dem, was in der Musik die Noten sind. Ähnlich sinnlos wäre die Frage, wo genau der Unterschied zwischen Musik und anderen Noten läge.
Ein Gedicht wird gemacht, ein Objekt aus Sprache. Aber wo befindet es sich, wenn nicht als Tinte auf dem Papier? Dort, wo die Sprache sich aus sonst befindet: Erstens, im Menschen und, zweitens, im Raum. An der Entstehung des Gedichts nimmt der gesamte Körper teil: Das entzündete Hirn, das pumpende Herz, die ein- und ausatmende Lunge, die Kehle, der Gaumen, die Zunge, die Zähne. Die bewegte Gesichtshaut. Die Arme, die Hände. Das Ergebnis wird ausgehaucht. Der Vers ist eine Atemeinheit. Mit Hilfe von Stimme, Mimik und Gestik wird das Gedicht im Raum errichtet.
Vergleichbar den mittelalterlichen Bauherren, die mit der sogenannten Ostung ein Koordinatenkreuz entwarfen, aus dem heraus die Kathedrale erwuchs, erschafft auch der Dichter jedes Gedicht um das Zentrum eines Koordinatensystems herum, gleichsam als eine Welt im Kleinen. Das Zentrum ist die Urzelle, der Klangkern, der Bildkern des Gedichts, das noch nicht ausgeleuchtete Dunkel der Substanz, der Unbewegte Beweger – in einem Wort das Lyrische Ich. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, das Lyrische Ich sei im Gedicht lediglich das Personalpronomen »Ich« (»mich«, »mir«, »meiner«). Es gibt kein Gedicht ohne das Lyrische Ich. Auch wenn sich dieses nicht beim Namen nennt, es ist ja doch jemand da, der die Verse spricht und im gleichen Atemzug hört, der sie sprechend aus dem Inneren ins Äußere verlagert und hörend zurück ins Innere zieht. Die Achsen des sprachlichen Gebäudes sind die permanent tönenden Vokale, von Konsonanten zeitlich begrenzt, in mundgerechte Segmente geschnitten, mit Qualitäten versehen – durch kräftige Mitlaute gehärtet, durch weiche gelöst und geschmeidig gemacht. Durch den Hammerschlag ständiger Wiederholung mit aller Gewalt zusammengehauen.
So entstehen aus Lauten, Silbe für Silbe, Verse – klingende Ziegelsteinreihen. Aus diesem pulsierenden schwingenden Ganzen treten einzelne Schlüsselwörter hervor, die mit anderen korrespondieren, Muster und Figuren ergeben. Spätestens jetzt kommt die Semantik ins Spiel. Da aber die durch Klang und Rhythmus aufgeladenen Wörter eine andere Intensität, eine andere Temperatur erlangt haben, werden plötzlich auch ihre Bedeutungen subtiler, schillernder, fließender und vom Dichter in eine bestimmte Richtung gelenkt, bis alle getrennten Einzelteile überraschend und wie in einem Geistesblitz zusammenfallen – zu einem Bild. Mund, Ohr und Auge begegnen einander. Geruchssinn und Tastsinn ergänzen sich stillschweigend.
3. Was will ein Gedicht?
Was will ein Gebäude? Zunächst einmal will es einfach sein. In Raum und Zeit. Was wiederum heißt, einen Raum erfüllen, eine Zeit überdauern. Aber auch selbst einen Raum darstellen und eine Zeit in diesem ermöglichen. Teile des Baus können allmählich verwittern, trotzdem bleibt der Umriß erhalten. Ein Gedicht will nichts anderes: Es will sein, zum Klingen gebracht werden und klingen, bevor es ausklingt und verklingt. Der Bauplan, die Anweisung, wie es zu errichten sei, wird im Text aufbewahrt – in Zeichen, allgemein verständlich und doch immer wieder rätselhaft. Das Gedicht aus dem Text heraus zu erschaffen, gelingt einerseits nur dem Erfahrenen, andererseits kann sich jeder durch praktische Übung solch eine Erfahrung aneignen.
Ein Gedicht darf besichtigt werden. Wer hineingelangt, kann versuchen, dort jenes verborgene Zentrum zu finden, das mit dem Lyrischen Ich identisch ist. Von dem Punkt aus werden der Raum und die Zeit des Gedichts erlebbar. Hier wird der Eingetretene selbst zum Schöpfer: Er spricht das Gedicht, er hört das Gedicht, so daß Innen und Außen sich durchdringen. Er wird zum Schöpfer und auch zum Geschaffenen selbst. Er bewohnt es und wird von ihm bewohnt.
Ein Gedicht braucht nicht interpretiert zu werden. Ein Gebäude bedarf keines Reiseführers. Sein Sinn ist viel stärker über die Sinne erfahrbar als über das ablenkende Nachblättern. Sein Sinn entspricht viel mehr einem Zustand als einer in anderen Worten ausdrückbaren Botschaft. Sein Sinn ist ein Sinn, weil jede Ordnung inmitten des Chaos sinnvoll erscheint.
Und zuletzt noch ein kleines Geheimnis: Das Gedicht ist aus Sprache gemacht, die zahlreiche Kräfte in sich birgt. Das Aussprechen der Wörter entfesselt sie zwar, doch zur Wirkung kommen sie erst in den Pausen. Das Gedicht beginnt nicht mit dem ersten Wort, sondern mit dem ersten Luftholen. Es tönt hinter jeder neuen Zäsur und ist endlich ganz da nach dem letzten Aushauchen.
Was ist ein Gedicht? Wie wird ein Gedicht gemacht? Was will ein Gedicht? – In einer höheren Oktave muß die Antwort auf diese drei Fragen daher anders lauten: Diese Leerstellen sind das Gedicht. Gemacht durch zwischenzeitiges Schweigen. Und wollen nichts Anderes, als möglichst lange, möglichst lange ungestört bleiben.
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Alexander Nitzberg
Lyrik
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