„Vielleicht hilft es uns“, schreibt Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über
Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und werden nun in einer Korrespondenz für den
ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorbringen und weiter entwickeln. In der
Du hast, Alessandro, anlässlich einer Präsentation Deiner Arbeit in der Schweiz einen Begriff verwendet, der auf den bei uns leider noch nicht diskutierten französischen Dichter Jean-Marie Gleize verweist, nämlich
post-poésie. Vielleicht möchtest Du diesen Terminus erläutern und auch, was er Dir als Dichter bedeutet? Ich frage vor dem Hintergrund, dass ich nun zwar seit über dreißig Jahren Gedichte schreibe, aber stets auch ein Unbehagen habe, wenn ich Wörter höre wie „Gedicht“, „Lyrik“, „Poesie“. In der Kunst akzeptiert man mittlerweile doch sehr, dass man ganz unterschiedliche Materialien kombinieren, Fundstücke verwenden kann, Muster, heterogene Elemente ... Die Erwartungen hinsichtlich der Poesie kommen mir enger, biederer, konservativer vor. Man kann es sich doch vorstellen, „das Gedicht“, wenn man sich als Fehlsichtigen imaginiert, der die Brille abzieht: etwas verschwommen steht es nun vor einem. Ich finde „es“ recht pittoresk in seiner Kleinformatigkeit und Bedachtheit, und es interessiert mich nicht wirklich. In Deutschland hat die zeitgenössische Poesie derzeit einen erfreulich guten Ruf, insbesondere durch den Hype um die jungen Dichter, und weltweit boomen Poesiefestivals. Wir stehen also nicht mit dem Rücken zur Wand, und inmitten des
anything goes gibt es nicht nur Beifall für alle, sondern jeder wird ein, zwei oder gar drei dutzend Autoren nennen können, die gut oder vorzüglich sind. Aber wenn ich durch eine klug konzipierte zeitgenössische Ausstellung laufe, ließe ich meine Branche nur zu gerne hinter mir und würde lieber dort mit dabei sein wollen. Mit dem freilich, was ich „Gedicht“ zu nennen habe. Vielleicht hilft es uns, wenn wir uns über
post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen? Wenn ich es recht sehe, haben wir einige Gemeinsamkeiten. Ich jedenfalls möchte das Einzelgedicht keineswegs aufgeben, will es aber neu aufladen, indem ich es in einem Kontext vorkommen lasse, der es ergänzt, in Frage stellt, ausleuchtet, kontrastiert, in eine Spannung setzt, die wegfiele, wenn man es als Einzelwerk herauslöste. Ich gebe ein Beispiel: Ich veröffentliche das Gedicht
Der nackte Ginsberg auch solo, aber das Kraftfeld, das mich eigentlich interessiert, ist nur dann da, wenn man es mit den in
Buch Vier unmittelbar folgenden Gedichten wahrnimmt, die ebenfalls Ground Zero verhandeln und die stilistisch sehr unterschiedlich ausgerichtet sind. Diese Struktur finde ich eigentlich spannend, dass drei ästhetisch recht weit auseinander liegende Kerntexte nun einen Cluster bilden. Ein ähnlich aufgebautes steht auch in meinem Italien-Kapitel: ein
Feltrinelli-Trio, das mit einem narrativen Text beginnt, man könnte von einem magischen Realismus sprechen, und schon der
nächste ist fast entgegengesetzt konstruiert, enggeführt, während der dritte so weit geht, fast ausschließlich Material einer Fremdquelle zu verwenden. Bei Dir sind es andere Vorgehensweisen, aber wenn ich es recht sehe, doch dahingehend verwandt, dass Du Deine Einzelgedichte ebenfalls zusätzlich auflädst, indem Du sie miteinander verlinkst? Ich betone das so, weil es für mich auf eine Alternative zum Langgedicht hinausläuft, von dessen Möglichkeiten ich auch viel halte, oder eine Variante hierzu. Jedenfalls meine ich, dass das Gedicht, oder die
post-poésie, aus dem Kleinformatigen herauszukommen hat, dass sie über eine andere Distanz gehen muss um zur Blüte zu kommen.