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LYRIK-KONFERENZ   7

„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
Anja Utler, geboren 1973 in Schwandorf in der Oberpfalz, studierte in Regensburg, Norwich und St. Petersburg und promo­vierte zur Kate­gorie des Geschlechts in der russischen Lyrik. Sie lebt nunmehr in Wien und wurde 2003 mit dem Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darm­stadt aus­gezeichnet.

In der Edition Kor­res­pon­denzen erschienen die Gedicht­bände münden – entzüngeln (2004), brinnen (2006; CD: Aka­demie Schloss Soli­tude Stuttgart) und jana, vermacht (2009, mit CD).

 

Siebtes Statement | Anja Utler

Unter dem post-Deckchen
post-poesie: zuerst hat mir der Begriff gefallen. Vor allem weil mich das, was ich beim ersten Überfliegen der Korrespondenz gesehen habe – vom Einzeltext und der übergeordneten Struktur, Allesandro de Francescos Zielsetzungen „to try to write inside reality as I write inside language“ und „to make the language adhere to itself while expressing itself inside reality“ – interessiert hat. Aber dann ist auch mir – wie allen hier Beteiligten – aufgefallen, dass der Begriff ja nicht frei ist. Ganz im Gegenteil hat post- ja eine Zeitlang alles so überwuchert, dass drunter schon nichts mehr hervor geschaut hat. Und wo post- nicht war, war neo-. Und nicht selten lage/r/n die beiden über einander – vielleicht können die auch gar nicht ohne einander.

Überhaupt möchte ich Allesandro de Francesco zustimmen wenn er schreibt: “I would like to say that great poetry is always 'post-poetry', and, at the same time, it is still poetry, and that's all“ und “Post-modernism has been a useful description of what was happening some decades ago, but it's over now. “ Ja. Zum Glück. Allerdings ist mit post- schon ein recht klebriges Präfix gewählt worden. Denn selbst wenn mal wieder was nach kommt – das vielleicht (oder: hoffentlich!) sich weder auf Origina­lität noch Innovation glaubt verlassen zu müssen, sich aber auch nicht mit einem naiven, komatösen Gedicht-/Erzähl­begriff zufrieden gibt, sondern schlicht andere Frage­stel­lungen hat – ist es erstmal doch wieder nur post-. So der postmoderne Ewigkeits- und Absolut­heits­anspruch, fest gewebt aus der unsichtbaren Hand des anything goes. Wer sollte dem etwas entgegen setzen können oder wollen?

Ich meine: der Autor, die Autorin. Denn das Problem ist ja nicht, dass alles geht. Wirklich: es muss alles gehen. Was wäre hier die Alternative? Aber wenn alles geht ist ja auch jemand gefragt, der auswählt – für sich und mit Bedacht. Der/die sich sagt: jetzt das und nichts anderes – mit guten Gründen! Und die sprechen meines Erachtens nur sehr selten für diejenige Möglichkeit von Text, die, wie Dieter M. Gräf beobachtet, ein beifälliges Nicken produziert. Also für diejenige – die bei Wortreichtum und oberflächlicher Themenvielfalt – allseitige Zustimmung provoziert. Und damit belanglos sein muss. Und für die sich trotzdem dauernd entschieden wird – denn wenn es eh egal ist, welchen weiteren Text man einspeist in den großen Strom, was soll man anecken? Der Kultur­theoretiker Robert Pfaller nennt das in seinem Buch Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft (2008) die „beschei­denen Spiele der aktuellen Kunst“, in denen immer das „Wünschens­werte“ gespielt werde, um darin „Publikum samt Künstler oder Künstlerin in einer imaginären wohl­gesinnten Gemeinschaft zusammen“ zu schließen (S. 58). Für Pfaller ist das eine freiwillige Selbstbeschränkung, ja: Narzissmus und das Symptom der Postmoderne. Aber ist diese Form von Narzissmus mit der Postmoderne nun auch schon vorbei und dabei abzu­klingen? Ich glaube es gibt ein paar hoffnungs­volle Anzeichen. Mehr nicht.

Denn noch lässt sich auch nicht bestreiten, dass sich ‚das Gedicht' in diesem klebrigen Deckchen des post- durchaus verstrickt hat. Nicht allein, da sind auch noch andre, ganz dick ‚der Roman'. Und natürlich waren da nie alle Gedichte, ebenso wenig wie alle Romane. Aber zu viele, für mein Empfinden. Und vielleicht gibt es sogar Strukturmerkmale des Gedichts, die eine solche Verstrickung begünstigen: sein Ruf nach handwerklichem Ebenmaß (das geeignet ist, Zustimmung von vornherein zu erzwingen), seine Gravitation zu einer fein gestimmten inneren Balance (die ins kalendergleich ‚Schöne' und Harmonisierende sinken kann), seine Offenheit für ein Ich, das sich in sich selbst, seiner Welt, seinen Wörtern (ein)lullt (und damit verständliche Sehn­süchte billig bedient). Kann das eine der Antworten auf Alessandro de Francescos Frage sein: “why are we more and more interested in complex, non-linear, multilinear, macrotextual, semi-narrative ‚prosepoetry' devices“ (die sich auch mir stellt, selbst wenn ich sein Streben nach einer „semi-narrative prosepoetry“ überhaupt nicht teile). Dass es manchen zu warm wird im einem kleinen Gedicht und noch einem und noch einem und der freundlichen Einmütigkeit? Dass manche sich freistrampeln wollen? Mehr heraus fordern?

Alessandro de Francescos in einem seiner Briefe zitiertes Gedicht „when we forced the door to get in…“ schiene mir ein gelungener, aufbrechend ins Innere des Textes zielender Versuch – schriftlose Strecken, durch die spürbar aber nicht erkennbar sich Energien ziehen, und auf der anderen Seite trifft es einen: das Sprechen, die Perspektive hat umgeschlagen. Da dringt immer wieder leerer, fremder Raum, und in dem passiert was – das ist kein Platz für ein billig sich lullendes Ich. Und es lässt mich an eine Aussage von Daniel Falb denken, die ich hoffentlich sinngemäß richtig erinnere: es gebe nichts Langweiligeres als ein Sprechen, das einem einzelnen Ich zugeordnet werden kann. Ich würde zwar entschieden dagegen halten, dass ein nicht-verharmlostes Ich, eines, das gegen Alessandro de Francescos drei obstacles rennt und in sich das Unpersönliche, das Nicht-Ich trifft, unbedingt zum Sprechen gebracht werden muss – trotzdem: ein Ausweg aus dem bescheidenen Spiel des Harmoniegeklüngels ist das. Das kann nach draußen führen. Zu einem „fremden, befremdlichen, ‚unpersönlichen' Sprechen“, das Pfaller eine „elementare Bedingung“ nennt für „eine Kunst, die die Gesellschaft betrifft“ (S. 34). Und gut, dass es dorthin unterschiedliche Ausgänge gibt.

Aber warum muss man sich überhaupt freistrampeln? Warum kann man nicht einfach bleiben unterm warmen post-Deckchen? So wenig, dass z.B. meine Skepsis gegenüber ‚dem Gedicht' so weit geht, dass ich nicht mal mehr glauben kann, es müsse ein Text für sich als ‚Gedicht' allein stehen können und tragen – weil damit sich so etwas wie Mangel, Scheitern, Phantomschmerz schon nicht mehr in aller Konsequenz dichten ließe. Warum ist das so wichtig? Etwas Entscheidendes in unserer post-Ideologie (in der alles geht, solange man die kleine Regel beachtet ‚Störe die anderen nicht in ihrem Tun – vor allem nicht wenn das Tun Besitzvergrößerung ist, und was sollte es eigentlich sonst sein?') benennt für mich Lucas Hüsgen: „Während die Menschheitskultur dabei war, die nicht-mensch­liche Wirklich­keit so weit wie es nur ging auszuklammern, plante letztere schon ihren Putschversuch.“ Ja, und wir stehen jetzt mittendrin. Möglicherweise, so könnte die Rückfrage aus der Postmoderne beginnen, aber was hat die Dichtung damit zu tun? Die einzige mir plausible Antwort ist: alles. Denn es ist das, denke ich, worin wir tatsächlich verstrickt sind – und das sich anders als manch andres auch nicht wird abstreifen lassen, weil diese Verstrickung materiell ist. So dass sich daraus – aus den Realitäten des Nicht-Menschlichen, eines Menschlichen, das sich daran wie an sich selbst abkämpfen muss – Fragen an die Dichtung ergeben müssen, ihre konkrete Perspektivierung, die Reaktionsgeschehen im inside der Sprache: wenn sie, die Dichtung, denn irgend etwas mit den Bedingungen des Menschlichen zu tun haben will. Konkrete Fragen zu ihrem was und wie jetzt – das führt schon wohin. Antworten, die sich über den einzelnen Text hinaus verallgemeinern lassen, labels, könnten dann später kommen.

Meine Vermutung ist aber, dass sich solche Antworten nicht im Spektrum des Schönen, Harmonisch-Balancierten bewegen werden. Mir verspricht das Kathartische mehr als der Gegenentwurf. Die direkte Heraus-Bildung in Sprache – als eine Art indexikalisches Zeichen, das eine gedanklich-emotionale Aus­einander­setzung fordert – mehr als die Narration. Aber warum? Worin liegt die Notwendigkeit, das distanzierende, verfeinernde Erzählen und Dichten zwar nicht zu ersetzen, aber ihm (weiterhin) einen ernst­zunehmenden Gegen- und Anziehungs­pol zu schaffen?

Hierzu eine grobe kulturelle Spekulation, die sich aus der Lektüre von Christoph Türckes Philosophie des Traums (2008) knüpft. Der Autor verortet in seiner „philosophischen Mental­archäologie“, wie es im Klappentext heißt, den Beginn allen menschlichen Denkens im traumatisierenden Aus­gelie­fertsein des frühen Menschen an eine übermächtige Natur – und in seiner besonderen Reaktion darauf. Er sieht die zentrale Ent­wicklungs­leistung in den mühsam erlernten Bewegungen der Verdichtung, Verschiebung, Umkeh­rung, angelegt darauf sich Erleich­terung zu verschaffen, über und im traumatischen Wiederholungszwang zu einer paradoxen Bannung des Schreckens zu gelangen: mit Schrecken, der selbst veranstaltet und nach außen getragen wird. In der frühesten Form war das das Menschenopfer, langsam ließ es sich zu abstrakteren, distanzierteren Zeichen lockern. Türcke führt eine Stelle aus dem Exodus an: „Und das Volk nahm Donner und Blitz wahr, den Schall des Horns und das Rauchen des Berges.“ Und erläutert: Die „Nutzung [des Horns] als Schallverstärker (Megaphon) ist einer der frühesten Versuche, das Naturbeben nicht nur zu erleiden, sondern es selbst zu veranstalten. [Als] selbstgemachtes Donnern und Brüllen“, „eine archaische Antwort auf das Naturbeben, das Gegenmittel dazu, eine Gegenerschütterung“ (S. 173).

Ist es denkbar, frage ich mich, dass diese rohe, direkte Umwandlung des Naturbebens in ein Schallbeben gerade verstärkt wieder aufgeführt wird – gerade hieße: spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert? Und zwar in der Intensität hinaus gehend über die Spannungs-Schwingungen, die sich wohl immer entladen haben zwischen den fein differenzierten Zeichensystemen einer Hochkultur und dem, wie es Türcke nennt, „Bodensatz des Denkens“ aus „Blut, Schweiß und Anstrengung“ (S. 14), der auch unter alltäglicher realweltlicher Erschütterung Staubwolken ausatmen kann.

Ein intensiveres, insistierenderes rohes Schallbeben aber nicht ohne Not: sondern weil zu fürchten ist, dass wir, mühsam kaschiert von Zeichen-Deckchen, unseren Boden nun so gründlich fest gestampft haben, dass wir dabei sind, uns selbst mit hinein zu stampfen. So gedacht, hätten wir uns damit mit dem 20. Jahrhundert selbst zu der uns traumatisierenden Übermacht gemacht – die sich jetzt in Verschränkung mit dem provozierten Naturereignis anschickt, die Lebensgrundlagen für alle zu bedrohen. In einer solchen, völlig neuartigen Welt- und Beziehungs-Situation braucht es vielleicht wieder öfter den rohen Hornstoß, um die Spannung temporär zu lockern – und es gehorcht der Logik, dass das Horn in einer solchen Lage sich nicht mehr auf den tierischen Naturstoff beschränken kann: ihm muss die Kulturentwicklung der letzten Jahrhunderte zum Material werden. Nicht um diese mutwillig zu zerstören, sondern um im Gegenteil in einer paradoxen Schutz-Bewegung die wahrgenommene Erosion der Lebens-, der mensch­lichen Bedin­gungen im Kunst-Ereignis sich direkt verkörpern zu lassen, im hilflosen Versuch sie zu bannen. Zu zeigen, spürbar zu machen, was das eigentlich heißt. Im Fall der Sprache: Es sich (in all seiner Komplexität) abzeichnen zu lassen in der Sprache, im Sprechen, damit man es wenigstens auf diese Weise in der Hand (und im Kopf) haben kann. Damit es so entäußert für einen Moment offen da liegt. Damit im wiederholten Abgehen solcher Verkörperungen sich die Linien des (zunächst: eigenen) Denkens sich ein wenig grundverschoben anlagern.

 Dieter M. Gräf: Fußnote zur Post-

Obgleich ich gestehe, dass meine philosophischen Kenntnisse eklek­ti­zistisch sind und mein Umgang mit ihnen eher künstlerisch, äußere ich beim Umgang mit dem Begriff der Post­moderne den Verdacht, dass die sensa­tionel­le Karriere des Terminus ins Modische ihm nun unange­messen im Weg steht, so dass seine Ablehnung mir vorkommt, als richte sie sich weniger gegen das Bezeich­nete, sondern viel mehr gegen das Image der Bezeichnung und deren Eigenleben. Vielleicht etwas naiv schaue auf den Basistext von Lyotard und reibe mir die Augen, wie ich ihn zusammen­bringen soll mit dem Image, das sich entwickelt hat. Einmal abgesehen davon, dass Epochenbezeichnungen immer Hilfs­konstruk­tionen sind und Fiktionen, kommt mir derzeit der Begriff der Postmoderne, auch wenn man ihn nicht mehr hören mag und er peinlich geworden ist wie jeder Ohrwurm, immer noch nützlich vor um zu klären, dass wir uns nicht mehr in der Moderne befinden – wir können einfach nicht mehr zurück in ihren Schoß –, aber in einer Zeit, die sich auf die Moderne bezieht. Quasi in einer Moderne-nach-der-Moderne. Hier sehe ich zumindest den Kern meines Interesses am Terminus. Wegen mir kann man ihn gerne auch ersetzen (Spätmoderne, Zweite Moderne usw.), aber macht man das dann nicht zuletzt doch aus einer gewissen Opportunität? So wie man sich nicht wohl fühlt, neben jemandem zu stehen, der diskreditiert wirkt, aber man hat doch etwas zu sagen, was man nur mit Mühen und Geschick von dem unterscheiden kann? Ich liebe diese Zeit nicht heiß und innig, aber ihre Möglichkeit könnte sein, mit einem Fundus arbeiten zu können wie keine andere Generation, da wir die Leistungen der Moderne vor uns haben ohne für ihre Ideologisierungen noch sehr anfällig zu sein. Das schreibe ich nicht mit glühenden Augen, eher um zumindest mich selbst zu ermutigen. Die Gefahr der Beliebigkeit scheint mir die Entsprechung für das halbleere Glas zu sein. Und eine Poesie-nach-der-Poesie assoziiere ich meinerseits eher mit einem Undeckchen. Wir sollten uns nicht von den Kinder­krankheiten der Post- entmutigen lassen, sondern schauen, wie wir diesen Symptomen entgegenwirken.

 Anja Utler: Fuß-Fußnote

Nein, lieber Dieter – und mir liegt da einiges dran! – ich möchte mich tatsächlich von der Postmoderne verabschieden. Bzw. nehme für mich in Anspruch: ich habe nie postmodern geschrieben. Und das heißt natürlich nicht – und kann es, glaube ich, nie heißen –, dass dabei alles, was in den letzten Jahrzehnten an interessanten, wichtigen Texten entstanden ist, gleichzeitig mit von Bord gehen soll. Aber meine Dichtung kann sich dieser Richtungsbezeichnung nicht anschließen. Denn sie hat, ich habe zu viele Vorbehalte gegenüber dem postmodernen Grundverständnis von Sprache & Welt (diese metaphysisch aufgeladene Schrift, um nur eines zu nennen!), wie es durchaus in den Originaltexten und nicht nur in der durchgesickerten Form entwickelt wird.

Hüsgens Vorbehalt habe ich schon zitiert – er scheint mir einer der wichtigsten. Für mich ist da eine Welt außerhalb der Zeichen, und mit der haben wir mehr zu tun als uns lieb ist, und wenn wir uns noch so gut in unseren Zeichenkettchen verstecken. Sie hat das Primat. Das wendet sich nun nicht gegen eine Arbeit mit dem Fundus – aber die gab es, da möchte ich mich Alessandro anschließen, immer...

Es wendet sich gegen die postmoderne Art, eine Wahl zu treffen. Vielleicht kommt man hier mit dem Spiel-Begriff weiter. So wie er oft benutzt wird, kommt dem Spiel keine Verbindlichkeit zu. (Was übrigens in vielen Original-Texten z.B. aus der Gender-Theorie in keiner Weise so vertreten wird!) Damit kommt der Wahl keine Bedeutung zu – und sie endet nicht in der Weite, sondern ausgerechnet im Kleinsten, dem Pfallerschen Narzissmus.

Der Literatur­wissen­schaftler Raoul Eshelman dagegen sieht bereits seit Jahren eine Überwindung der Postmoderne, vor allem im Film (ohne dass dabei irgendwohin zurück gefallen würde, was selbst­verständlich auch passiert). Er macht sie an dem Begriff der ‚Rahmung‘ fest. Alles ist möglich, aber es gibt ein Individuum, das (aus einem riesigen Fundus!) auswählt. Und für das diese Wahl eine absolute Verbindlichkeit hat, weil sie seinen Weltbezug bestimmt bzw. verkörpert. Es ist ein Spiel – aber über die konsequente Befolgung der Regeln erhält dieses Spiel seine wirklich­keits­erzeugende Macht. Eshelman hat den Überbegriff ‚Performatismus‘ ausprobiert – aber ich weiß nun nicht, ob er bei dieser Bezeichnung geblieben ist.

In jedem Fall zeigt er diese Art der Überwindung der Postmoderne an den Dogma-Filmen; aber eines der schönsten Beispiele, das er ebenfalls anführt, ist für mich Jim Jarmuschs Ghost Dog. Die Geschichte vom schwarzen Killer, der sich den Samurai-Ehren­kodex gewählt hat und ihn konsequent in ein Leben umsetzt. Und siehe da, es öffnet sich der Ausgang aus der Postmoderne: die post­moderne Kom­munika­tions­losig­keit verwandelt sich in Kontakt­fähigkeit (im Film sehr schön über die Ver­ständigung zweier Figuren, die nicht dieselbe Sprache sprechen), das Nicht-Menschliche erhält Präsenz und seinen Ort, die Gravitation zum Tod wird außer Kraft gesetzt, indem die Regeln an eine Folgegeneration weiter gereicht werden usw. Dabei: naiv oder übermäßig optimistisch ist der Film nicht – wir landen nicht im Paradies. Er verhandelt auch die Problematik eines solchen Ansatzes und damit, erneut, die Bedeutung der Wahl: Wir sind ja mit einem Killer unterwegs – aber es könnte, zeigen einige, und vor allem die Vererbungsszenen des Films gegen Ende, auch noch anders werden ...

 Dieter M. Gräf: Postfuß-

Leichtfertigerweise, liebe Anja, habe ich wohl einen Diskurs mit aufgerufen, an dem mir gar nichts liegt. Mein Ausgangspunkt ist schlicht der, dass ich meine, dass wir uns nicht mehr so recht in der Moderne befinden, die wir recht gut überschauen können (da wir sie recht gut überschauen können?). Das so verschwommen hinzustellen ist vielleicht ganz vertretbar, sollte sich etwas entwickeln, das nun womöglich erst im Keim da ist. Ich suchte nach einem Begriff, der sich auf die Moderne bezieht und zu ihr dennoch taktvoll Abstand hält. Um zu zeigen, was meines Erachtens möglich geworden ist, indem man Errungenschaften der Moderne neu versteht, möchte ich meinerseits Beispiele geben, und zwar eines aus der Prosa und eines aus der Malerei: Italo Calvino und Gerhard Richter. Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht beeindruckte mich, indem es mich lehrte, dass es kein entweder-oder gibt, jedenfalls nicht hinsichtlich des Erzählens: hier wird ganz traditionell und spannend erzählt, aber dieses Erzählen reißt ab (ich habe das falsche Buch erwischt, oder das Buch wird mir gestohlen etc.), wird immer wieder ersetzt durch andere Erzählungen, die in eine strukturierende Handlung eingebunden sind, die sich auf mich bezieht, den Leser dieses Buches. Irgendwann durchschaue ich den Autor, der mich in seinen Sog hineinziehen will und mich dann stehen lässt, jedenfalls hinsichtlich der Binnenerzählungen. Aber seine erzählerische Kraft ist dergestalt, dass ich mich weiter einlasse, obgleich er etwas vorführt, innerhalb einer in gewisser Weise konzeptionellen Arbeit. Diese changierende Struktur möchte ich hervorheben, die das Erzählen feiert und konterkariert. Auch bei Gerhard Richter fasziniert mich, dass er uns hilft, das Entweder-oder-Muster zu entkräften. Dass ein Künstler eine starke Entwicklung hat, und sehr unterschiedliche Werkphasen, das ist nicht neu, aber dass er sie demonstrativ parallel hält, scheint mir schon mit den Möglichkeiten unserer Zeit zu tun zu haben. Das mag ein ganz persönliches Empfinden sein, aber als ich bei seiner Düsseldorfer Werkschau durch die Räume ging, die diese sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen zelebrierten und ihre Kontraste eher betonten, hatte ich gerade nicht das Gefühl eines anything goes. Es sind grundverschiedene Ausdrucksmittel, die allesamt zu etwas taugen und zu etwas anderem nicht, und wenn man sie so zusammenkommen lässt, kann man womöglich die große Kraft von dem spüren, der sie verwendet hat. Ich finde es eher seltsam, dass einer „Avantgardist“ ist oder „Konstruktivist“ oder „guter Erzähler“ oder „Humorist“ oder „Katholik“ (am seltsamsten finde ich allerdings, wenn sich jemand als „Atheist“ vorstellt); da kann dann auch die Optikerin sagen: „Ich dachte mir gleich, dass das nicht ihr Stil ist.“

Wie Du meine ich, dass es eine Welt außerhalb der Zeichen gibt, wie Du sehe ich hier das Primat. Auch ich glaube an die Wahl, etwa im Jahre 2009 nach Judas Geburt, wie zu allen Zeiten. „Mein Vorsatz war:“, so Saint-John Perse, „in seiner ganzen Inbrunst, seiner Kühnheit das Drama des Menschen auf der Erde zu preisen; mehr noch, das Drama seines Ganges über diese Erde, den man heute so gerne herabsetzt und verkleinert, um ihm schließlich jede Bedeutung abzusprechen, jeden höchsten Zusammenhang mit den großen Kräften, die uns erschaffen, uns durchwirken und erhalten.“ Das kann nicht jeder immer beherzigen oder gestalten, finde aber, soviel Pathos ist hier gar nicht peinlich.

* * *


Nur noch eine kleine Frage, lieber Dieter: also ist post- dann vielleicht der falsche Begriff, wenn er einen Wust an Diskursen mit aufruft – ja nicht nur bei mir – der lieber draußen bleiben soll?

*


In der Hinsicht ist der Begriff „falsch“, liebe Anja, bringt er doch offenkundig unerwünschte Nebenwirkungen hervor, die, wie ich einsehe, das, was mich interessiert, verstellen können. Aber einerseits sagte ich ja, dass ich an dem Begriff selbst nicht klebe und nannte auch andere, andererseits fühle ich mich dabei dann auch nicht wirklich wohl, komme ich mir doch etwas kosmetisch vor und ein klein wenig opportunistisch. Ob es korrekter wäre, von einer späten Phase der Moderne zu sprechen oder von einer nach ihr, wage ich nicht einzuschätzen, das ist jetzt vielleicht auch ganz unwichtig, aber mit irgend einem Provisorium sollte man es vielleicht versuchen.
Die Lyrik-Konferenz wird an dieser Stelle mit weiteren Teilnehmern fortgesetzt. Kommentare können per E-Mail gesandt werden.
Anja Utler  10.05.2009  
  1. post-poésie (I)
  2. post-poésie (II)
  3. ästhetisch links
  4. against dualisms
  5. Transfer
  6. (anti)political and transfer process
  7. jetzt
  8. no first class second hand!
  1. Lucas Hüsgen:
    In einer Hoffnung auf Wildnis
  2. Sylvia Geist:
    Finden, Fiebern, Übersehen
  3. Jean-Marie Gleize:
    L'excès – la prose
  4. Noura Wedell:
    Prejudice Perception
  5. Jan Volker Röhnert:
    Poesie und Gedicht
  6. Jayne-Ann Igel:
    Was auf der Hand liegt
  7. Anja Utler:
    Unter dem post-Deckchen
  8. Han van der Vegt:
    The Body Poetic
  9. Tom Pohlmann:
    Entgrenzungen. Oszillationen
  10. Flavio Ermini:
    La passione del dire
  11. Christian Schloyer:
    Tractatus ...
  12. Jérôme Game:
    Poetics of the borders
  13. Jürgen Brôcan:
    „... daß wir können sicher schreiben ...“
  14. Hans Thill:
    Weder Gott noch Metrum
  15. Tom Schulz:
    Anstelle einer Poetik
  16. Norbert Lange:
    Lichtungen